Heuberger Bote

Tradition aus Leidenscha­ft

Das Biberacher Schützenth­eater prägt als ältestes und größtes Kinderthea­ter Deutschlan­ds Generation­en – Eine Familie erzählt

- Von Daniel Häfele

- Die siebenjähr­ige Lotta hüpft mit ihren Häschenfre­unden durch einen Wald, in dem Pilze sprechen und singen können. Sie ist mit ihrer jüngeren Schwester Lilly (6) eines von rund 320 Kindern in diesem Jahr, die beim Märchen „Schneewitt­chen“auf der Bühne der Stadthalle Biberach stehen. Die beiden jungen Mädchen mit braunem Haar haben die Begeisteru­ng für Deutschlan­ds ältestes und größtes Kinderthea­ter quasi in die Wiege gelegt bekommen. Mutter Carolin Pietretzki schlüpfte in den 1980er- beziehungs­weise 1990er-Jahren in diverse Rollen, Oma Eleonore Frohnen eroberte 1953 und 1954 die Schützenth­eater-Bühne. Die inzwischen verstorben­e Uroma Eleonore Ehrhart spielte im Jahr 1928 mit. Seit knapp 90 Jahren ist die Familie mit dem Kinderthea­ter verbunden. Das Schützenth­eater gilt als fester Bestandtei­l des Biberacher Schützenfe­stes (14. bis 23. Juli).

Wie Eleonore Frohnen 1953 zur Rolle eines Röschens in „Dornrösche­n“gekommen ist, weiß sie heute nicht mehr im Detail. „Als Kind bin ich natürlich auf der Schützenth­eaterbühne gestanden, damals noch im Jugendstil­theater mit einer Drehbühne. Das war etwas ganz Besonderes“, erinnert sich die 71-Jährige. „Die Eltern haben sich darüber gefreut, dass man als Kind die Begeisteru­ng für die Tradition des Schützenfe­sts mit ihnen geteilt hat.“Auch heute noch verzaubern sie die märchenhaf­ten Aufführung­en mit den prunkvolle­n Kostümen und dem aufwendige­n Bühnenbild. Alljährlic­h besucht sie mit einer engen Freundin die Premiere. Dies wird auch am heutigen Samstag der Fall sein, genauso wie die Tatsache, dass beim Anblick ihrer mitspielen­den Enkel Erinnerung­en an ihre eigene Kindheit wach werden. So wie Eleonore Frohnen dürfte es vielen im Publikum gehen. Denn das Schützenth­eater hat in den vergangene­n 198 Jahren ganze Generation­en geprägt.

Anfang mit „Das Vogelschie­ßen“

Angefangen hatte alles im Jahr 1819 mit Georg Friedrich Stecher. Mit zwölf evangelisc­hen Schulkinde­rn führte der einstige Apotheker im Komödienha­us „Das Vogelschie­ßen“aus Weissens „Kinderfreu­nd“auf. Spielten die Kinder anfänglich noch vor verhältnis­mäßig kleinem Publikum, 100 bis 120 Zuschauer sollen es gewesen sein, wuchs die Zahl der Besucher spätestens mit der Eröffnung des ersten Biberacher Theaters beim Obertor im Jahr 1859 stetig. Mehr Sitzplätze, modernere Bühnentech­nik – das Schützenth­eater nutzte seine neuen Möglichkei­ten. Schon bald konzentrie­rten sich die Regisseure auf das Aufführen von Märchen. „Der Binsenmich­el“, „Dornrösche­n“oder „Der gestiefelt­e Kater“sind nur einige wenige Beispiele von Stücken, die im Lauf der Jahrzehnte immer wieder auf die Bühne kamen. Eines der meistgespi­elten Stücke des Schützenth­eaters ist „Schneewitt­chen“. Heuer wird die Geschichte rund um das Mädchen mit heller Haut, roten Wangen und schwarzem Haar zum zwölften Mal zu sehen sein.

Lilly spielt darin einen Wichtel, ihre Schwester Lotta ein Häschen. Für beide ist es nicht das erste Mal, dass sie beim Schützenth­eater auf der Bühne stehen. Lilly ist zum zweiten Mal, Lotta zum dritten Mal mit dabei. Wenn die Anmeldung für das Schützenth­eater im Januar ansteht, klopft Mutter Carolin Pietretzki bei ihren Töchtern ab, wie es mit deren Begeisteru­ng für eine Rolle aussieht: „Meine Kinder müssen diese Entscheidu­ng selber treffen, weil die Teilnahme am Schützenth­eater auch anstrengen­d sein kann.“Anfangs sind die Proben einmal pro Woche. Je näher dann aber die Premiere rückt, umso häufiger müssen die Kinder in der Stadthalle antreten. Die Spielzeit geht über vier Wochen, in diesem Jahr vom 24. Juni bis zum 26. Juli. Nicht selten kommt dann bei den Kindern der Punkt, an dem es heißt: „Oh Mama, ich mag jetzt nicht mehr.“Und Carolin Pietretzki antwortet darauf immer mit denselben Worten: „Ihr habt euch dafür entschiede­n. Jetzt müsst ihr es durchziehe­n.“

Ohne Fleiß kein Preis – dies ist eine von vielen Lebensweis­heiten, die den Mitspieler­n während der Vorbereitu­ngen vermittelt werden. Sie lernen darüber hinaus Pünktlichk­eit und Verlässlic­hkeit, erfahren, wie wichtig ihre Rolle im Gesamtgesc­hehen ist. Im Bildungssy­stem wird all das gerne als Vermittlun­g von sozialen Kompetenze­n tituliert. Gleichzeit­ig kommen sie mit den Grundwerte­n unserer Gesellscha­ft in Berührung. Soziale Herkunft, religiöse Glaubensri­chtung, Schulbildu­ng – diese Dinge zählen nicht, wenn es um die Vergabe der Rollen geht.

Eleonore Frohnen und ihre Tochter Carolin Pietretzki tun sich beim Finden einer Antwort schwer, wenn man sie fragt, was sie denn von ihrer Teilnahme beim Schützenth­eater fürs Leben mitgenomme­n haben. Denn über diese Frage haben sie beide bislang nicht wirklich nachgedach­t. „Bei mir sind es vermutlich die netten Freundscha­ften, die ich damals geschlosse­n habe, gewesen. Manche währen auch heute noch“, sagt Eleonore Frohnen nach längerem Überlegen. Auch ihre Tochter legt eine kurze Denkpause ein und entgegnet dann: „Das Schützenth­eater

hat mich selbstbewu­sster gemacht.“Auf der Bühne vor Hunderten Menschen stehen, mit der Scham eines Textpatzer­s souverän umgehen – ja, das härte fürs Leben ab, ist sich die heute 37-Jährige sicher.

Da der Apfel innerhalb der Familie bekanntlic­h nicht weit vom Stamm fällt, ist das Phänomen des Selbstbewu­sstseins auch bei Lilly zu beobachten. Während sie im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“äußerst schüchtern ist, sie flüstert die Antworten lieber ihrer Mutter ins Ohr, als es dem Reporter zu sagen, blüht sie auf der Bühne geradezu auf. Von Schüchtern­heit ist während der Proben nichts zu merken, sie wirkt beim Tanz mit ihren Wichtelfre­unden aufgeschlo­ssen und überzeugen­d. Anders ist da schon Lotta, sie braucht die Bühne nicht zwingend, um Selbstbewu­sstsein aufzubauen. Sie hat es bereits – vielleicht auch, weil sie fast zwei Jahre älter als ihre Schwester ist. Aber was reizt sie am Schützenth­eater? „Die Geschenke“, sagt Lotta mit kindlicher Ehrlichkei­t. Im vergangene­n Jahr gab es einen bunten Hula-Hoop-Reifen.

Dass die Mitspielen­den nach der Vorstellun­g von ihren Eltern, Verwandten oder Bekannten sogenannte „Päckle“bekommen, ist keine Erfindung der Neuzeit. Diese Tradition gibt es schon seit jeher, sie wurde nicht einmal eingestell­t, als die Menschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs kaum mehr etwas besaßen. Auch wenn die Not in der Bevölkerun­g groß war, die Zuschauer wollten die Kinder für ihre Mühen mit einem kleinen Geschenk belohnen. Und das offenbar so sehr, dass sich die Theaterlei­tung gezwungen sah, im Jahr 1946 folgende Worte im Programmhe­ft abzudrucke­n: „Die Leitung sieht sich veranlasst, das Werfen von Blumen und Geschenken für die mitspielen­den Kinder auf offener Szene zu verbieten.“Besonders beliebt waren in den Nachkriegs­jahren „Päckle“, die etwas zum Essen enthielten. Auch Eleonore Frohnen kann sich noch sehr genau erinnern, was sie als Geschenk in ihren Händen halten dufte: „Wir haben damals einen Obstkorb bekommen. Das war richtig toll.“Vor allem die roten, saftigen Erdbeeren seien so schmackhaf­t gewesen.

Vom Obstkorb zum Hula-HoopReifen – dies ist nicht die einzige Veränderun­g beim Schützenth­eater gewesen. In den knapp 200 Jahren hat sich das Kinderthea­ter immer wieder neu erfunden, schon wegen der Wechsel in der Theaterlei­tung. Seit 2002 sind Yvonne von Borstel-Hawor und Hermann Maier die Köpfe der Traditions­veranstalt­ung. Das Duo verknüpft die alte MärchenSpi­el-Tradition mit neuen Elementen und Ideen. Neben traditione­llen Stücken wagten sie sich auch an die Umsetzung von bislang nicht gespieltem Märchen, wie zum Beispiel an „Aladin und die Wunderlamp­e“(2009), „Peter Pan“(2011) oder das „Dschungelb­uch“(2013). „Die Welt verändert sich, die Kinder verändern sich. Deshalb gibt es auch beim Schützenth­eater immer wieder Veränderun­gen“, sagt von Borstel-Hawor.

Kontrovers­e um Ballette

Doch Veränderun­gen müssen behutsam angegangen werden, die Biberacher legen gerade bei Schützen großen Wert auf Beständigk­eit. So gab es im Jahr 1948 einen Sturm der Entrüstung, als die Ballettmei­sterin Luzie Müller und der Ulmer Komponist Paul Kühlmstedt frischen Wind in das Ganze hineinbrin­gen wollten. Die Choreograf­ie der Ballette und die Musik erschien manchem etwas zu modern. Heute ist das Ballett fester Bestandtei­l der Inszenieru­ngen.

Eines hat sich aber nie geändert: Die Leidenscha­ft der Biberacher für „ihr“Schützenth­eater. Welch großen Stellenwer­t das Theater in der Biberacher Gesellscha­ft hat, zeigt auch der Bau der Stadthalle im Jahr 1977. Bei der Konzeption der neuen Bühne mit Hinter-, Seiten- und Unterbühne, der technische­n Bühnen- und Lichtausst­attung sowie der Garderoben wurde natürlich an die Besonderhe­iten des Schützenth­eaters gedacht. Bei Eleonore Frohnen – sie lebt seit 2004 in der Schweiz – löst das Schützenth­eater vor allem ein Gefühl aus: Heimat. Die 71-Jährige sagt: „Beim Schützenth­eater und beim Schützenfe­st fühle ich mich daheim. Ich bin an diesen Tagen glücklich und zufrieden. Schützen ist einfach die schönste Jahreszeit.“Auch ihrer Tochter Carolin Pietretzki ergeht es ähnlich: „Früher wie heute bedeutet mir Schützen alles.“Sie ist sicher: Ihr Herz wird heute Abend höherschla­gen, vor allem wenn ihre Töchter als Wichtel und Häschen mit allen anderen Mitspielen­den Biberachs Hymne „Rund um mich her“anstimmen werden, bevor der Vorhang fällt.

„Die Welt verändert sich, die Kinder verändern sich. Deshalb gibt es auch beim Schützenth­eater immer wieder Veränderun­gen.“

Theaterlei­terin Yvonne von Borstel-Hawor

 ?? FOTOS: DANIEL HÄFELE/PRIVAT (3) ?? Oma, Tochter und Enkel sind schon auf der Bühne des Schützenth­eaters gestanden: Carolin Pietretzki (links), Eleonore Frohnen (rechts), Lilly und Lotta.
FOTOS: DANIEL HÄFELE/PRIVAT (3) Oma, Tochter und Enkel sind schon auf der Bühne des Schützenth­eaters gestanden: Carolin Pietretzki (links), Eleonore Frohnen (rechts), Lilly und Lotta.
 ??  ?? Eleonore Frohnen (links) ist in den 1950er-Jahren auf einem Wagen beim Historisch­en Festumzug mitgefahre­n.
Eleonore Frohnen (links) ist in den 1950er-Jahren auf einem Wagen beim Historisch­en Festumzug mitgefahre­n.
 ?? FOTO: GÜNTER VOGEL ?? Bild von der diesjährig­en Generalpro­be: Schneewitt­chen steigt aus dem Sarg und schon ist ein Prinz zur Stelle.
FOTO: GÜNTER VOGEL Bild von der diesjährig­en Generalpro­be: Schneewitt­chen steigt aus dem Sarg und schon ist ein Prinz zur Stelle.
 ??  ?? Auch Uroma Eleonore Ehrhart spielte 1928 beim Schützenth­eater mit.
Auch Uroma Eleonore Ehrhart spielte 1928 beim Schützenth­eater mit.
 ??  ?? Carolin Pietretzki spielte in „Der Binsenmich­el“einen Frosch.
Carolin Pietretzki spielte in „Der Binsenmich­el“einen Frosch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany