Tradition aus Leidenschaft
Das Biberacher Schützentheater prägt als ältestes und größtes Kindertheater Deutschlands Generationen – Eine Familie erzählt
- Die siebenjährige Lotta hüpft mit ihren Häschenfreunden durch einen Wald, in dem Pilze sprechen und singen können. Sie ist mit ihrer jüngeren Schwester Lilly (6) eines von rund 320 Kindern in diesem Jahr, die beim Märchen „Schneewittchen“auf der Bühne der Stadthalle Biberach stehen. Die beiden jungen Mädchen mit braunem Haar haben die Begeisterung für Deutschlands ältestes und größtes Kindertheater quasi in die Wiege gelegt bekommen. Mutter Carolin Pietretzki schlüpfte in den 1980er- beziehungsweise 1990er-Jahren in diverse Rollen, Oma Eleonore Frohnen eroberte 1953 und 1954 die Schützentheater-Bühne. Die inzwischen verstorbene Uroma Eleonore Ehrhart spielte im Jahr 1928 mit. Seit knapp 90 Jahren ist die Familie mit dem Kindertheater verbunden. Das Schützentheater gilt als fester Bestandteil des Biberacher Schützenfestes (14. bis 23. Juli).
Wie Eleonore Frohnen 1953 zur Rolle eines Röschens in „Dornröschen“gekommen ist, weiß sie heute nicht mehr im Detail. „Als Kind bin ich natürlich auf der Schützentheaterbühne gestanden, damals noch im Jugendstiltheater mit einer Drehbühne. Das war etwas ganz Besonderes“, erinnert sich die 71-Jährige. „Die Eltern haben sich darüber gefreut, dass man als Kind die Begeisterung für die Tradition des Schützenfests mit ihnen geteilt hat.“Auch heute noch verzaubern sie die märchenhaften Aufführungen mit den prunkvollen Kostümen und dem aufwendigen Bühnenbild. Alljährlich besucht sie mit einer engen Freundin die Premiere. Dies wird auch am heutigen Samstag der Fall sein, genauso wie die Tatsache, dass beim Anblick ihrer mitspielenden Enkel Erinnerungen an ihre eigene Kindheit wach werden. So wie Eleonore Frohnen dürfte es vielen im Publikum gehen. Denn das Schützentheater hat in den vergangenen 198 Jahren ganze Generationen geprägt.
Anfang mit „Das Vogelschießen“
Angefangen hatte alles im Jahr 1819 mit Georg Friedrich Stecher. Mit zwölf evangelischen Schulkindern führte der einstige Apotheker im Komödienhaus „Das Vogelschießen“aus Weissens „Kinderfreund“auf. Spielten die Kinder anfänglich noch vor verhältnismäßig kleinem Publikum, 100 bis 120 Zuschauer sollen es gewesen sein, wuchs die Zahl der Besucher spätestens mit der Eröffnung des ersten Biberacher Theaters beim Obertor im Jahr 1859 stetig. Mehr Sitzplätze, modernere Bühnentechnik – das Schützentheater nutzte seine neuen Möglichkeiten. Schon bald konzentrierten sich die Regisseure auf das Aufführen von Märchen. „Der Binsenmichel“, „Dornröschen“oder „Der gestiefelte Kater“sind nur einige wenige Beispiele von Stücken, die im Lauf der Jahrzehnte immer wieder auf die Bühne kamen. Eines der meistgespielten Stücke des Schützentheaters ist „Schneewittchen“. Heuer wird die Geschichte rund um das Mädchen mit heller Haut, roten Wangen und schwarzem Haar zum zwölften Mal zu sehen sein.
Lilly spielt darin einen Wichtel, ihre Schwester Lotta ein Häschen. Für beide ist es nicht das erste Mal, dass sie beim Schützentheater auf der Bühne stehen. Lilly ist zum zweiten Mal, Lotta zum dritten Mal mit dabei. Wenn die Anmeldung für das Schützentheater im Januar ansteht, klopft Mutter Carolin Pietretzki bei ihren Töchtern ab, wie es mit deren Begeisterung für eine Rolle aussieht: „Meine Kinder müssen diese Entscheidung selber treffen, weil die Teilnahme am Schützentheater auch anstrengend sein kann.“Anfangs sind die Proben einmal pro Woche. Je näher dann aber die Premiere rückt, umso häufiger müssen die Kinder in der Stadthalle antreten. Die Spielzeit geht über vier Wochen, in diesem Jahr vom 24. Juni bis zum 26. Juli. Nicht selten kommt dann bei den Kindern der Punkt, an dem es heißt: „Oh Mama, ich mag jetzt nicht mehr.“Und Carolin Pietretzki antwortet darauf immer mit denselben Worten: „Ihr habt euch dafür entschieden. Jetzt müsst ihr es durchziehen.“
Ohne Fleiß kein Preis – dies ist eine von vielen Lebensweisheiten, die den Mitspielern während der Vorbereitungen vermittelt werden. Sie lernen darüber hinaus Pünktlichkeit und Verlässlichkeit, erfahren, wie wichtig ihre Rolle im Gesamtgeschehen ist. Im Bildungssystem wird all das gerne als Vermittlung von sozialen Kompetenzen tituliert. Gleichzeitig kommen sie mit den Grundwerten unserer Gesellschaft in Berührung. Soziale Herkunft, religiöse Glaubensrichtung, Schulbildung – diese Dinge zählen nicht, wenn es um die Vergabe der Rollen geht.
Eleonore Frohnen und ihre Tochter Carolin Pietretzki tun sich beim Finden einer Antwort schwer, wenn man sie fragt, was sie denn von ihrer Teilnahme beim Schützentheater fürs Leben mitgenommen haben. Denn über diese Frage haben sie beide bislang nicht wirklich nachgedacht. „Bei mir sind es vermutlich die netten Freundschaften, die ich damals geschlossen habe, gewesen. Manche währen auch heute noch“, sagt Eleonore Frohnen nach längerem Überlegen. Auch ihre Tochter legt eine kurze Denkpause ein und entgegnet dann: „Das Schützentheater
hat mich selbstbewusster gemacht.“Auf der Bühne vor Hunderten Menschen stehen, mit der Scham eines Textpatzers souverän umgehen – ja, das härte fürs Leben ab, ist sich die heute 37-Jährige sicher.
Da der Apfel innerhalb der Familie bekanntlich nicht weit vom Stamm fällt, ist das Phänomen des Selbstbewusstseins auch bei Lilly zu beobachten. Während sie im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“äußerst schüchtern ist, sie flüstert die Antworten lieber ihrer Mutter ins Ohr, als es dem Reporter zu sagen, blüht sie auf der Bühne geradezu auf. Von Schüchternheit ist während der Proben nichts zu merken, sie wirkt beim Tanz mit ihren Wichtelfreunden aufgeschlossen und überzeugend. Anders ist da schon Lotta, sie braucht die Bühne nicht zwingend, um Selbstbewusstsein aufzubauen. Sie hat es bereits – vielleicht auch, weil sie fast zwei Jahre älter als ihre Schwester ist. Aber was reizt sie am Schützentheater? „Die Geschenke“, sagt Lotta mit kindlicher Ehrlichkeit. Im vergangenen Jahr gab es einen bunten Hula-Hoop-Reifen.
Dass die Mitspielenden nach der Vorstellung von ihren Eltern, Verwandten oder Bekannten sogenannte „Päckle“bekommen, ist keine Erfindung der Neuzeit. Diese Tradition gibt es schon seit jeher, sie wurde nicht einmal eingestellt, als die Menschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs kaum mehr etwas besaßen. Auch wenn die Not in der Bevölkerung groß war, die Zuschauer wollten die Kinder für ihre Mühen mit einem kleinen Geschenk belohnen. Und das offenbar so sehr, dass sich die Theaterleitung gezwungen sah, im Jahr 1946 folgende Worte im Programmheft abzudrucken: „Die Leitung sieht sich veranlasst, das Werfen von Blumen und Geschenken für die mitspielenden Kinder auf offener Szene zu verbieten.“Besonders beliebt waren in den Nachkriegsjahren „Päckle“, die etwas zum Essen enthielten. Auch Eleonore Frohnen kann sich noch sehr genau erinnern, was sie als Geschenk in ihren Händen halten dufte: „Wir haben damals einen Obstkorb bekommen. Das war richtig toll.“Vor allem die roten, saftigen Erdbeeren seien so schmackhaft gewesen.
Vom Obstkorb zum Hula-HoopReifen – dies ist nicht die einzige Veränderung beim Schützentheater gewesen. In den knapp 200 Jahren hat sich das Kindertheater immer wieder neu erfunden, schon wegen der Wechsel in der Theaterleitung. Seit 2002 sind Yvonne von Borstel-Hawor und Hermann Maier die Köpfe der Traditionsveranstaltung. Das Duo verknüpft die alte MärchenSpiel-Tradition mit neuen Elementen und Ideen. Neben traditionellen Stücken wagten sie sich auch an die Umsetzung von bislang nicht gespieltem Märchen, wie zum Beispiel an „Aladin und die Wunderlampe“(2009), „Peter Pan“(2011) oder das „Dschungelbuch“(2013). „Die Welt verändert sich, die Kinder verändern sich. Deshalb gibt es auch beim Schützentheater immer wieder Veränderungen“, sagt von Borstel-Hawor.
Kontroverse um Ballette
Doch Veränderungen müssen behutsam angegangen werden, die Biberacher legen gerade bei Schützen großen Wert auf Beständigkeit. So gab es im Jahr 1948 einen Sturm der Entrüstung, als die Ballettmeisterin Luzie Müller und der Ulmer Komponist Paul Kühlmstedt frischen Wind in das Ganze hineinbringen wollten. Die Choreografie der Ballette und die Musik erschien manchem etwas zu modern. Heute ist das Ballett fester Bestandteil der Inszenierungen.
Eines hat sich aber nie geändert: Die Leidenschaft der Biberacher für „ihr“Schützentheater. Welch großen Stellenwert das Theater in der Biberacher Gesellschaft hat, zeigt auch der Bau der Stadthalle im Jahr 1977. Bei der Konzeption der neuen Bühne mit Hinter-, Seiten- und Unterbühne, der technischen Bühnen- und Lichtausstattung sowie der Garderoben wurde natürlich an die Besonderheiten des Schützentheaters gedacht. Bei Eleonore Frohnen – sie lebt seit 2004 in der Schweiz – löst das Schützentheater vor allem ein Gefühl aus: Heimat. Die 71-Jährige sagt: „Beim Schützentheater und beim Schützenfest fühle ich mich daheim. Ich bin an diesen Tagen glücklich und zufrieden. Schützen ist einfach die schönste Jahreszeit.“Auch ihrer Tochter Carolin Pietretzki ergeht es ähnlich: „Früher wie heute bedeutet mir Schützen alles.“Sie ist sicher: Ihr Herz wird heute Abend höherschlagen, vor allem wenn ihre Töchter als Wichtel und Häschen mit allen anderen Mitspielenden Biberachs Hymne „Rund um mich her“anstimmen werden, bevor der Vorhang fällt.
„Die Welt verändert sich, die Kinder verändern sich. Deshalb gibt es auch beim Schützentheater immer wieder Veränderungen.“
Theaterleiterin Yvonne von Borstel-Hawor