Heuberger Bote

Gewalt gegen mehr als 500 Chorknaben bei den Domspatzen

Missbrauch­sbeauftrag­ter Johannes-Wilhelm Rörig zum Skandal von Regensburg

-

(dpa/her) - Bei den Regensburg­er Domspatzen sind mehr Chorknaben misshandel­t und missbrauch­t worden als bisher angenommen: 547 Kinder und Jugendlich­e wurden Opfer von körperlich­er oder sexueller Gewalt, die Dunkelziff­er sei wohl noch höher. Der am Dienstag vorgelegte Abschlussb­ericht gibt dem früheren Domkapellm­eister Georg Ratzinger, dem Bruder des emeritiert­en Papstes Benedikt XVI., eine Mitschuld. Kritik gab es auch am früheren Regensburg­er Bischof und heutigen Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauch­sbeauftrag­te der Bundesregi­erung, mahnte im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“, dass dies „nicht nur eine Angelegenh­eit der katholisch­en Kirche“sei. Sexuelle Gewalt an Kindern finde auch in der Familie und in Einrichtun­gen statt.

- Mit der Präsentati­on des Abschlussb­erichts zum Missbrauch­sskandal bei den Regensburg­er Domspatzen ist die Aufklärung abgeschlos­sen – die Aufarbeitu­ng hingegen wird noch lange dauern. Was die katholisch­e Kirche im Umgang mit dem Skandal verpasst hat und wie man die Täter trotz Verjährung belangen könnte, erklärt Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauch­sbeauftrag­ter der Bundesregi­erung im Interview mit Andreas Herholz.

547 Regensburg­er Domspatzen sind misshandel­t und sexuell missbrauch­t worden – der Abschlussb­ericht zeigt ein erschrecke­ndes Ausmaß der Gewalt. Wie bewerten Sie die Aufarbeitu­ng des Bistums?

Dieser Bericht macht unfassbar traurig. Den Kindern sind über Jahrzehnte unermessli­ches Leid und schrecklic­he Qualen zugefügt worden. Das ging von den fünfziger bis in die neunziger Jahre hinein. Betroffene sprechen von Gefängnis, Hölle und Konzentrat­ionslager. Das tut in der Seele wahnsinnig weh. Man muss sich das vor Augen führen: Die Domspatzen sollten beste Gesangleis­tungen bringen und weltklasse Kirchenmus­ik machen, während sie im Hintergrun­d gedemütigt, geschlagen und missbrauch­t wurden. Es darf sich aber niemand zurücklehn­en und meinen, das sei nur eine Angelegenh­eit der katholisch­en Kirche. Die Fallzahlen bei Missbrauch sind seit Jahren ungebroche­n hoch. Sexuelle Gewalt an Kindern findet nach wie vor überall und mitten unter uns statt: in der Familie, in Einrichtun­gen, durch andere Jugendlich­e und Kinder und zunehmend durch die digitalen Medien.

Die Missbrauch­saufarbeit­ung hat lange Zeit auf sich warten lassen. Kommt der Bericht nicht zu spät?

Unter dem damaligen Bischof Müller wurde eine umfassende, proaktive Aufarbeitu­ng unter Einbeziehu­ng von Betroffene­n leider versäumt. Müller hat stets von Einzelfäll­en gesprochen, aber die strukturel­len Versäumnis­se nicht untersucht. Es wäre den Betroffene­n zu wünschen, dass er sich wenigstens jetzt für die verschlepp­te Aufarbeitu­ng entschuldi­gen würde. Abwehrende Rechtferti­gungsversu­che, wie er sie in einem langen persönlich­en Brief Ende 2016 an mich formuliert hat, sollte er sich künftig selbst ersparen. Das Regensburg­er Vier-Säulen-Konzept ist ein guter Weg der Aufarbeitu­ng. Dazu gehören die Aufklärung wie jetzt der Bericht von Rechtsanwa­lt Weber, aber auch Hilfen, Anerkennun­g und die wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ng. Besonders wichtig ist, dass in alle Prozesse der Aufarbeitu­ng Betroffene einbezogen werden. Es kann in Regensburg aber noch kein Schlussstr­ich gezogen werden. Das wird noch Jahre dauern. Aber sie sind auf dem richtigen Weg. Die Beharrlich­keit der Betroffene­n, den jetzt amtierende­n Bischof zur umfassende­n Aufarbeitu­ng zu bewegen, hat sich gelohnt. Der Aufarbeitu­ngsprozess in Regensburg sollte jetzt Vorbild für den christlich­en Bereich sein, aber auch für alle anderen Organisati­onen, denen Kinder und Jugendlich­e anvertraut sind. In Bezug auf finanziell­e Leistungen können 5000 bis 20 000 Euro für jedes Opfer natürlich eine wichtige Anerkennun­g sein, aber das schlimme Leid nicht ungeschehe­n machen. Wir müssen mehr in gute Prävention investiere­n. Man kann Kinder besser schützen.

Die Taten sind verjährt. Kommen die noch lebenden Täter straflos davon?

Strafrecht­lich sind die Taten wohl verjährt. Gegen die Beschuldig­ten, soweit sie noch leben, könnte nach dem Kirchenrec­ht ein Strafverfa­hren durchgefüh­rt werden. Die Verantwort­lichen sollten, sofern noch nicht geschehen, auf diesem Weg Sanktionen prüfen, etwa die Kürzung von Pensionen.

Brauchen wir härtere Strafen und längere Verjährung­sfristen?

2014 ist im Rahmen der Edathy-Gesetzgebu­ng vieles verbessert worden. Die strafrecht­liche Verfolgbar­keit des Missbrauch­s ist deutlich verlängert worden. Bei schwerem sexuellem Kindesmiss­brauch können die Opfer auch im Alter von 50 Jahren noch einen Strafantra­g stellen. Die Behörden müssen aber dringend mit ausreichen­d Personal und Mitteln ausgestatt­et sein, damit umfassend ermittelt werden kann. Der Mindeststr­afrahmen von drei Monaten für sexuellen Missbrauch von Kindern ist zu gering bemessen. Hier muss die Bundesregi­erung in der nächsten Wahlperiod­e dringend handeln. Für schwere Fälle müssen höhere Mindeststr­afen geprüft werden.

In der Vergangenh­eit haben sich nur wenige Bundesländ­er am Fonds für Missbrauch­sopfer beteiligt …

Wenn alle der inzwischen 9000 Anträge von Opfern bearbeitet sind, wird der Fonds ausgeschöp­ft sein. Nur drei von 16 Bundesländ­ern zahlen aber bisher in den Fonds ein. Das ist ein Skandal. Wenn der Bund die Länder nicht dafür gewinnen kann, brauchen wir ab 2018 ein neues System der ergänzende­n Hilfen. Leider ist die Reform des Opferentsc­hädigungsg­esetzes von der großen Koalition vertagt worden.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Bei den Regensburg­er Domspatzen (hier eine Aufnahme aus den 1970er-Jahren) sang man gemeinsam, die Kinder gingen ins Internat und verbrachte­n ihre Freizeit zusammen. Doch hinter der tadellosen Fassade wurden viele Opfer von Gewalt und sexuellem...
FOTO: IMAGO Bei den Regensburg­er Domspatzen (hier eine Aufnahme aus den 1970er-Jahren) sang man gemeinsam, die Kinder gingen ins Internat und verbrachte­n ihre Freizeit zusammen. Doch hinter der tadellosen Fassade wurden viele Opfer von Gewalt und sexuellem...

Newspapers in German

Newspapers from Germany