Geißler schildert in seinem Grußwort grauenhafte Szenen
Der frühere Bundesminister will seinen Besuch in Spaichingen zu einem anderen Zeitpunkt nachholen
- Der Hauptredner, der frühere CDU-Bundesminister und CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, hatte aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Feier kommen können (Wir haben über die Feier aktuell berichtet). Dabei habe er sich nicht nur wegen der Enthüllung der Gedenkplatte an das KZ auf Spaichingen gefreut und darauf alte Bekannte und Verwandte zu treffen, so schreibt er in seinem Grußwort an die Vorsitzende des Vereins Initiative KZ-Gedenken Spaichingen, Dr. Ingrid Dapp.
Auch die für die Gedenkstättenarbeit im Land in der Landeszentrale für politische Bildung zuständige Sibylle Thelen konnte aus familiären Gründen nicht teilnehmen und schickte ein Grußwort. Hier die beiden Schreiben in Auszügen:
Heiner Geißler berichtet von einer freundschaftlichen Aufnahme der aus Oberndorf stammenden aber in Hannover ausgebombten Familie in Spaichingen. Hier habe er als 15Jähriger den Übergang vom Nationalsozialismus zu den ersten Jahren der Freiheit und Demokratie erlebt. Prägende Erlebnisse seien gewesen, als sein Freund, der „Zigeunerjunge Kajetan“1937 in Ravensburg von der Polizei abgeholt wurde. 1943 sei seine geliebte Klavierlehrerin Judith Holz, zu der er oft von Spaichingen nach Tuttlingen fuhr, deportiert und in Mauthausen ermordet worden.
„Wir liefen schreiend nach Hause“
In Spaichingen habe er erlebt, wie ein KZ-Gefangener innerhalb einer Häftlingskolonne gestürzt und dann vom Kapo, einem SS-Unteroffizier getreten und geschlagen wurde. Geißlers Vater, ein Major der Wehrmacht, habe befohlen sofort aufzuhören.
Einmal sei er, Geißler, mit seiner Schwester auf dem Weg nach Hausen gewesen und am Stacheldrahtzaun des Arbeitsgeländes vorbei gekommen. „Meine Schwester hatte einen Apfel in der Hand und schob ihn unter dem Zaun zu einem Häftling, der plötzlich mit bittenden Händen auf der anderen Seite des Zaunes stand. Nachdem er ihn aufgehoben hatte, wurde er von einem SS-Mann von hinten niedergeschlagen und immer weiter geschlagen. Wir liefen schreiend nach Hause.“
Seine Mutter habe ihm von dem Vorfall erzählt, der im Winter 1944/45 die Stadt erschütterte. In einer Strafaktion wurden Häftlinge nachts an Pfähle gefesselt und mit Wasser übergossen. „Bevor sie erfroren waren, hörte man eine Stunde lang ihre unmenschlichen Schreie. Die ganze Stadt flüsterte noch tagelang hinter vorgehaltener Hand.“Geißler ermutigt, an dem Gedenken festzuhalten: „Sie geben damit auch ein sichtbares Beispiel dafür, dass in einer Zeit, in der der Rechtspopulismus wieder Mode wird, wir uns gegen diese menschenfeindlichen Ideologien wehren müssen und die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht gelöscht werden dürfen.“
Sibylle Thelen, die schon lange in engem Kontakt mit den Initiatoren des neuen Spaichinger Vereins steht, ordnet in ihrem Grußwort die Erinnerungsarbeit ein: „Empathie für die Opfer, Nachdenklichkeit angesichts der Spuren dieser Zeit, historischpolitische Bildung für die nachwachsenden Generationen – unsere Gesellschaft hat dem bürgerschaftlichen Engagement auf dem Feld der Erinnerungskultur viel zu verdanken.“Auch das Sich-Verständigen über das Wie ist ein Lernprozess: „Im gemeinsamen Diskurs wird die Vergangenheit betrachtet, werden Rückschlüsse für die Gegenwart gezogen, werden Erinnerungskonflikte verhandelt und Erinnerungskultur geprägt.“