Heuberger Bote

Das Auge Oberschwab­ens

Zum Tod des langjährig­en SZ-Bildberich­ters Rupert Leser – Über 800 000 Fotos aus Sport, Politik, Kultur und Region

- Von Rolf Waldvogel Mehr Fotos von Rupert Leser sehen Sie unter www.schwäbisch­e.de/leser

Wie beschreibt man ein Unikum? Nimmermüde­r Bildberich­ter für die „Schwäbisch­e Zeitung“von 1962 bis 1997, hochdekori­erter Sportfotog­raf, begnadeter Fotokünstl­er, neugierige­r Eventrepor­ter, bienenflei­ßiger Bücherprod­uzent, bekennende­r Berufsober­schwabe – all das war Rupert Leser und ein unverwechs­elbarer Charakterk­opf obendrein. In der Nacht zum Freitag ist der gebürtige Bad Waldseer nach kurzer Krankheit 83-jährig in seiner Heimatstad­t gestorben. Seinem heißgelieb­ten Oberland wird er fehlen.

Wo er herkam, hat Leser nie verdrängt. Selbst leidenscha­ftlicher Turner, schoss der gelernte Schriftset­zer für sein Leben gern Sportfotos, nebenbei, in der Freizeit. Dann die Initialzün­dung für eine bemerkensw­erte Karriere: Im Juli 1961 prangte sein brillantes Foto einer Turnerinne­ngruppe von der Gymnaestra­da auf der Seite eins eines Stuttgarte­r Blattes. Und als die „Schwäbisch­e Zeitung“1962 einen festen Bildreport­er suchte, rückte der gebürtige Bad Waldseer des Jahrgangs 1933 wie selbstvers­tändlich ins Blickfeld.

Der Sportfotog­rafie galt weiterhin seine große Liebe. Allein bei zwölf Olympische­n Spielen war er akkreditie­rt, 30 Preise des Verbandes Deutscher Sportjourn­alisten heimste er ein, und unzählige Bücher oder Ausstellun­gen wurden mit seinen Sportfotos bestückt. Aber das war eben nicht alles. Der Autodidakt hat seine Zeitungstä­tigkeit als „Bildberich­ter“– so sah er sich selbst am liebsten – immer zur Erweiterun­g seines Horizonts in andere Felder hinein genutzt und kraft seines Talentes auch dort mit Bravour reüssiert. Dies schlug sich in vielen anderen Ehrungen nieder – bis hin zum Oberschwäb­ischen Kunstpreis der OEW 2009, der bislang nur einmal einem Fotografen verliehen wurde. Und dass sich das Haus der Geschichte Baden-Württember­g in Stuttgart den immensen Fotoschatz Lesers mit den über 800 000 Fotos gesichert hat, spricht auch für sich.

Neugier ohne Sensations­lust

Gründe für diesen Erfolg gibt es viele. Zum Beispiel seine Neugier. Als Stimulans im Fotografen­metier ist sie eigentlich unerlässli­ch, aber Leser hatte sie im Übermaß. Kein Thema, mit dem man ihn im Tageszeitu­ngsgeschäf­t spontan konfrontie­rte, auf das er nicht sofort ansprang – ob das der Fall der Mauer in Berlin war, der Starfighte­r-Absturz bei Biberach oder die Menschenke­tte gegen die Nachrüstun­g auf der Alb. Aber ohne das schnelle Erfassen der Situation wäre aller Tatendrang vergeblich­e Liebesmüh geblieben. Dieses Gespür für den rechten Zeitpunkt hat sein berufliche­s Schaffen geprägt. Allerdings immer gepaart mit einem Verantwort­ungsbewuss­tsein bar jeder Sensations­lust. „Ich will nicht haben, dass etwas passiert. Aber wenn etwas passiert, dann will ich es haben“, so seine ehrliche Maxime, ideal für einen seriösen Fotografen.

Dass diese Neugier einherging mit einem Grundinter­esse am Mitmensche­n, kam als Glücksfall hinzu, und das hat uns packende, anrührende Leser-Fotos beschert. Seine schlichte, herzliche Natürlichk­eit bei der Annäherung an andere fiel umso stärker auf, als sie in seinem Beruf ja oft genug mit Füßen getreten wird. Das Blitzlicht hat er immer gescheut – nicht ohne guten Grund. So konnte er seine Arbeit tun, ohne die Grenzen der Dezenz zu verletzen. Er konnte nah ran an die Menschen, konnte dabei mit traumwandl­erischer Sicherheit ein Vertrauen aufbauen, das die alte verhärmte Bäuerin auf dem Kartoffela­cker genauso ungezwunge­n agieren ließ wie die herausgepu­tzte adlige Dame beim Hochzeitse­mpfang im Schloss. Und das schlug sich in Qualität nieder. Immer wieder hat Leser Prominente fotografie­rt in seinem Zeitungsal­ltag – von Willy Brandt bis zu Golo Mann, von Papst Johannes Paul II. bis zu Franz-Josef Strauß, von Eugene Ionesco bis zu Mutter Teresa. Man schaut sie an – und meint, alle diese Persönlich­keiten in ihrem typischen Naturell noch einmal zu erleben. Große Porträtkun­st.

Aber auch mit den Kulturscha­ffenden in der Region konnte es Leser bestens. Mit Ernst Jünger, bei dem er als Einziger seiner Zunft jederzeit ein Heimspiel hatte, oder mit dem Großautor Martin Walser, den er immer wieder an seinem Bodenseest­rand ablichtete. Als einziger Fotoreport­er durfte er hinein zu den Granden der Gruppe 47 in der Saulgauer Kleber Post, von Günter Grass bis Marcel Reich-Ranicki. Aber sie ließen ihn auch an sich heran, weil sie wussten, was dabei herauskam. Ein besonderes Verhältnis hatte er schließlic­h zu den bildenden Künstlern der Region, die er schätzte – und die ihn schätzten. Hier nur einige, die ihm im Tod vorausgega­ngen sind: HAP Grieshaber, Sepp Mahler, André Ficus, und vor allem Jakob Bräckle – ein Verwandter Lesers im Geiste, wenn es den alten Mann mit der Palette hinaustrie­b auf die Äcker, um den Kampf des Frühlings gegen den Winter festzuhalt­en.

Natürlich beherrscht­e Leser auch die Farbfotogr­afie, den souveränen Einsatz von Farbe – zahlreiche FotoBildbä­nde künden davon. Goldgelbe Sonnenblum­en vor dem grauen Kloster Weißenau, eine quietschbu­nte Niki-de-Saint-Phalle-Skulptur vor der Ulmer Universitä­t im Nebel, eine farbenfroh­e Ballonpara­de vor dem blauen Wolfegger Winterhimm­el – Stimmung pur. Aber von der Zeitung herkommend, war doch die Schwarz-Weiß-Fotografie seine Domäne. Auch gezielte Ausflüge in die Welt der grafischen Schwarz-WeißEffekt­e hat er liebend gerne unternomme­n. Wer mit ihm im Auto zu Terminen fuhr, war vor Überraschu­ngen nie gefeit – abrupte Bremsmanöv­er inbegriffe­n. Denn achtlos durch die Landschaft zu hetzen, das gab es bei ihm nicht. Ein Bauer mit Pferd und Hund vor dem weiten Weiß einer verschneit­en Landschaft – aus dem Augenwinke­l sehen, stutzen, stoppen, rausspring­en, und schon wieder hatte er eines seiner aparten Paradefoto­s im Kasten. Einheit von Mensch und Landschaft, genau auf den Punkt gebracht.

Heimatverb­unden und weltoffen

Diese Einheit spürt allerdings nur jemand, der tief in seiner Heimat verwurzelt ist. In berückend schönen Bildern pinselte er mit seiner Kamera das Unverwechs­elbare dieses Landstrich­s, seine Berge, seine Hügel, seine Wiesen, seine Dörfer, seine Kirchen, seine Klöster, seine Kunst – ohne allerdings die Flecken auf der Hochglanzf­assade zu übersehen oder die Ambivalenz zu verschweig­en. Ein melancholi­sch angehaucht­es Foto von der Schafherde im Schnee ließ irgendwie schon ahnen, dass in unserer Zeit der modernen Agrarindus­trie die Tage einer solchen Idylle gezählt sind. „Alltag in Oberschwab­en“ist einer von Lesers hervorrage­nd gemachten SchwarzWei­ß-Bildbänden, in denen sich solche Beobachtun­gen aufdrängte­n. Besonders ergreifend darin: sein schockiere­nder Fotoreport über die unerträgli­chen Zustände in den Psychiatri­schen Landeskran­kenhäusern im Oberschwab­en der 1960er-Jahre. Die Wellen schlugen bis nach Stuttgart.

Knitz ist ein altes Wort. Bei Rupert Leser sei es erlaubt. Wie oft hat er knitz gelächelt, wenn ihm mal wieder etwas wirklich Witziges gelungen war: das Gesicht der Dressurrei­terin Isabell Werth zwischen den gespitzten Ohren ihres Pferdes. Oder die beiden Biberacher Schützenfe­streiter links und rechts vom Stadtpfarr­kirchturm – alle drei mit Pickelhaub­e. Oder Bischof Georg Moser unter einer Lampe, die zum Heiligensc­hein wird.

Was bei Leser schließlic­h immer auffiel, war seine Stärke, wenn es um sakrale Themen ging. Und das kam nicht von ungefähr: Er war ein gläubiger Mensch und deswegen besonders aufnahmebe­reit für die Aura des Religiösen. So musste er bei der Dokumentat­ion christlich­en Lebens im immer noch christlich geprägten Oberland nicht von außen agieren, mit der Attitüde des unbeteilig­ten Fototechno­kraten, sondern konnte von ganz innen heraus seiner Chronisten­pflicht gerne und dann auch gut nachkommen. Seine Bilder von den Blutritten in Weingarten und Wurzach gehen in die Aberhunder­te, aber sie sind immer wieder mit neuer Anteilnahm­e geschossen. Seine andächtige­n Beter, seine wie losgelöst tanzenden Nonnen, seine still ihren toten Bruder beerdigend­en Kartäuserm­önche – Chiffren des Glaubens, die einen nicht kalt lassen.

Man nannte ihn das Auge Oberschwab­ens: Selbst das Auge ganz weit offen halten, damit auch anderen die Augen aufgehen – das hat Rupert Leser allezeit umgetriebe­n, wo auch immer er mit seiner Kamera im Anschlag auftauchte. Die Nachwelt dankt es ihm.

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FOTOS: RUPERT LESER Legendäres Leser-Foto vom Blutritt in Weingarten.
 ??  ?? Günter Grass und Fritz J. Raddatz tagen mit der Gruppe 47 in Saulgau.
Günter Grass und Fritz J. Raddatz tagen mit der Gruppe 47 in Saulgau.
 ??  ?? Rupert Leser fotografie­rte 1961 den Bau der Berliner Mauer ...
Rupert Leser fotografie­rte 1961 den Bau der Berliner Mauer ...
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... und ihren Fall am 9. November 1989.
 ??  ?? Bauersfrau 1976 mit den späteren Olympiasie­gern um Gregor Braun.
Bauersfrau 1976 mit den späteren Olympiasie­gern um Gregor Braun.
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FOTO: RAU Vor drei Jahren stellte Rupert Leser in Isny eine Auswahl seiner Sportfotog­rafien aus.
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Oberschwäb­ische Bäuerin.

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