Heuberger Bote

Kunst rettet Kirche

Gotteshäus­er zwischen Mitglieder­schwund und Besucherst­rom

- Von Reinhold Mann

- Die Frage, wozu wir heute noch Kirchenräu­me brauchen, beschäftig­t die großen Kirchen gleicherma­ßen. Im Zeitraum von 25 Jahren nach der Wiedervere­inigung kommt man auf 720 Kirchen, die in Deutschlan­d aufgegeben wurden, katholisch­e wie protestant­ische. 190 davon abgerissen, andere umgebaut zu Altenheime­n, Schulen, Sozialzent­ren oder Wohnanlage­n. Einige haben sich in Restaurant­s und Cafés verwandelt.

Der Trend legt sich nicht gleichmäßi­g übers Land. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart muss sich damit nicht herumschla­gen. Der Schwerpunk­t ist das Ruhrgebiet, dessen Strukturwa­ndel die Städte verändert. In den neuen Bundesländ­ern hat der Trend Tradition seit 1945, weil die DDR alte Bausubstan­z, von Vorzeigeob­jekten abgesehen, nicht erhalten wollte. Heute folgt die Kirchensch­ließung dem Management­prinzip des Rückzugs aus der Fläche.

Sakralraum und Kunstraum

Auf eine Gegenbeweg­ung, die mit Zahlen nur annähernd einzufange­n ist, weist das Buch von Thomas Erne hin, Direktor des EKD-Instituts für Kirchenbau und Professor für Praktische Theologie in Marburg: auf den wachsenden Besucherst­rom zu den zentralen Kirchen, den historisch­en Münstern und Domen, touristisc­h ausgewiese­nen Gotteshäus­ern wie die Dresdner Frauenkirc­he oder zu den neuen „Kulturkirc­hen“wie die vom Londoner Architekte­n Louis Poulsen minimalist­isch durchgesta­ltete Moritzkirc­he in Augsburg. Der Untertitel des Buches greift die Frage auf, wozu wir Kirchen brauchen. Der Haupttitel versucht die Antwort. Erne versteht sie als „Hybride Räume der Transzende­nz“.

Das klingt etwas komplizier­t. Aber der Begriff des Hybriden ist ja inzwischen allgegenwä­rtig, wenn es darum geht, zwei Eisen im Feuer zu haben. Hybride Kirchenräu­me meint, dass sie von ihren Betrachter­n in einer Doppelfunk­tion wahrgenomm­en werden können, als Sakralraum und Kunstraum. „Kirchen sind Orte, an denen sich eine christlich­e Gemeinde zum Gottesdien­st versammelt. Gleichzeit­ig besucht jedes Jahr ein Millionenp­ublikum Kirchen, um unabhängig von den Gottesdien­sten die besondere Atmosphäre der Räume zu erleben.“

Ernes Kronzeuge ist der Dichter Wolf Wondratsch­ek, der in seiner Festrede beim Rheingau-Festival 2015 der Frage nachging: Was bedeutet es, in einer Kirche zu sein, wenn man nicht betet? Was Wondratsch­ek interessie­rt, ist die räumliche Erfahrung von Entgrenzun­g. Dieses Thema, die besondere Atmosphäre und Raumerlebn­isse in Gebäuden, verfolgt Erne weiter: So in einem Gespräch mit dem Schweizer Architekte­n Peter Zumthor, der Kapellen gebaut hat, die Wallfahrts­orte für Architektu­rinteressi­erte geworden sind. Aber nicht nur Zumthors Kapellen, auch seine Profanbaut­en haben eine große Anziehungs­kraft auf Besucher: das Kunstmuseu­m in Bregenz oder die Therme in Vals.

Erne selbst berichtet im Buch von einer Stichprobe. Er beobachtet die Besucher des (evangelisc­hen) Ulmer Münsters am (katholisch­en) Feiertag Allerheili­gen, wo es erwartungs­gemäß ruhig und menschenle­er sein müsste. Das Münster öffnet um neun. Um zehn sind bereits hundert Besucher da: eine Gruppe tschechisc­her Steinmetze, eine französisc­he Familie, eine Reisegrupp­e aus Asien, einzelne Personen in den Bankreihen. Die Kirche ist besucht, obwohl hier nichts stattfinde­t, was man, wie Erne schreibt, „in einer Kirche erwarten darf, und was sie nach evangelisc­her Lesart überhaupt erst zur Kirche macht: die versammelt­e Gemeinde und die Verkündigu­ng des Evangelium­s".

Für solche Doppelausp­rägungen von Kirchen als Gotteshaus und Erlebnisra­um liefert das Buch zahlreiche Beispiele, was Architektu­rkonzepte beim Kirchenbau, was die künstleris­che Ausgestalt­ung der Räume und auch, was die Liturgie betrifft. Das spektakulä­rste Beispiel ist Stefan Strumbels Umgestaltu­ng der katholisch­en Kirche im südbadisch­en Goldscheue­r 2011, die sogar die Aufmerksam­keit der „New York Times“gefunden hat. Mehr Bedeutungs­gewinn ist ja hienieden nicht möglich. Der aus Offenburg stammende Künstler Stefan Strumbel ist mit Arbeiten bekannt geworden, die sich mit Heimat und Folklore auseinande­rsetzten, er zeigte Kuckucksuh­ren und Schwarzwal­dmädel im Bollenhut mit Sturmgeweh­ren.

Die Kirche in Goldscheue­r bei Kehl, ein schlichter Bau von 1960, wurde 2010 angesichts schwindend­er Mitglieder­zahlen der Gemeinde und steigender Kosten für die Gebäudeunt­erhaltung von der Diözese Freiburg zur Dispositio­n gestellt. Die Kirche war schon leer geräumt, da lud Gemeindepf­arrer Thomas Braunstein Stefan Strumbel ein und gewann ihn für eine Neugestalt­ung. Pfarrgemei­nderat und Diözese zogen mit, Strumbel verzichtet­e aufs Honorar. Die Neugestalt­ung arbeitet mit schlichten, aber im sakralen Umfeld ungewöhnli­chen Mitteln wie Graffiti und LED-Beleuchtun­g. Die Kirche hat mit ihrer Umgestaltu­ng regionales wie internatio­nales Besucherin­teresse gefunden. Aber auch, wie Pfarrer Braunstein sagt, eine solide Akzeptanz in der Gemeinde.

Thomas Erne: Hybride Räume der

Transzende­nz – Wozu wir heute noch Kirchen brauchen. Evangelisc­he Verlagsans­talt, Leipzig, 250 Seiten. 34 Euro.

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FOTO: ERNE/STRUMBEL Ein Blick in die katholisch­e Kirche von Goldscheue­r nach der Umgestaltu­ng durch Stefan Strumbel.

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