Der alte Mann und das digitale Meer
Harald Schmidt brachte den Late-Night-Talk nach Deutschland und den Zynismus in den Fernsehabend – Jetzt wird er 60
(epd) - Stellen Sie sich vor, Ihnen kommt am Flughafen ein großer, schlaksiger Mann mit silbergrauen Haaren und Brille entgegen, der sich im Gehen selbst filmt und ohne Unterlass in sein Smartphone spricht. Oder Sie sitzen in einem Eiscafé, und derselbe Mann quatscht pausenlos auf sein Telefon ein, das er diesmal vor sich auf den Tisch gelegt hat. Zwischendurch gönnt er sich einen Löffel Eiscreme und ein Stück Apfelkuchen mit Sahne. Bitte stören Sie ihn nicht, denn das ist Harald Schmidt bei der Arbeit.
Fernsehlegende Schmidt, der am 18. August 60 Jahre alt wird und noch im vergangenen Jahr behauptete, er besäße gar kein Smartphone, ist im digitalen Zeitalter angekommen: als Kolumnist für die digitale Abendzeitung „Spiegel Daily“. Seit Mitte Mai produziert er mehrfach wöchentlich ein zwei bis fünf Minuten langes Handy-Video. „Eine sensationelle Form für mich: keine Redaktion, kein Team, Handy, zack, ab nach Hamburg“, sagte der in Neu-Ulm geborene Schmidt kürzlich dem österreichischen Magazin „Profil“.
Für immer Hofnarr
Vor dem Start hatte das NachrichtenPortal „Spiegel Online“seine Nutzer gefragt, ob Schmidt bei „Spiegel Daily“sein Comeback feiern solle. Das war natürlich eine rhetorische Frage zu PR-Zwecken, 98,85 Prozent von 563 230 Nutzern stimmten dafür. Nur: Wirklich interessiert waren offenbar die wenigsten. Denn seither ist der Verlag mit der Preisgabe von Zahlen deutlich zugeknöpfter, was meist ein schlechtes Zeichen ist. „Für eine Bilanz ist es noch viel zu früh“, teilt Verlagssprecher Michael Grabowski lapidar mit. So versandet Schmidt womöglich mit seinen eigenhändig verwackelten Videos im Online-Nirwana, während sein einstiger Mitarbeiter Jan Böhmermann regelmäßig für viralen Wirbel sorgt.
Der alte Mann und das digitale Meer, man könnte es eine tragische Geschichte nennen. Aber eigentlich ist es eine Tragikomödie, denn erstens tut Vorruheständler Schmidt ohnehin nur noch das, wozu er Lust hat. Dreht auf dem ZDF-„Traumschiff“, sagt dem SWR für eine „Tatort“-Rolle erst zu und dann doch wieder ab. Und zweitens scheint er, wie die Videos beweisen, ganz der Alte geblieben zu sein: Der Klassenclown, der all die Selbstdarsteller, Klugscheißer und Betroffenheitsapostel mit gekonnten Parodien durch den Kakao ziehen kann. Der Hofnarr, der dem Treiben in Politik, Kultur und Wissenschaft mit sarkastischen Pointen den Spiegel vorhält.
Von Putin bis Boris Becker
Gut 15 Jahre lang, nachdem die „Harald Schmidt Show“im Dezember 1995 bei Sat.1 auf Sendung gegangen war, war er als „Late Night“-Talker eine Instanz. Weil ihm seine Bühnenerfahrungen als Kabarettist bei der Arbeit an einer täglichen Show vor Publikum zugutekamen. Weil er mit konsequenter Respektlosigkeit alle gleichermaßen fair – oder unfair – behandelte.
Schmidt, der katholisch-schwäbische Hilfsorganist aus dem schwäbischen Nürtingen und fünffache Vater, konnte in seiner Sendung sehr gemein sein und im nächsten Moment mit Ausflügen ins Reich der klassischen Musik den beruhigenden Eindruck vermitteln, man wohne einem gehobenen Bildungswerk bei. Bis heute ist Schmidt breit interessiert, Putin und Boris Becker, der Ingeborg-Bachmann-Preis, ein Interview im Deutschlandfunk oder ein Artikel in der FAZ liefern ihm den Stoff für die „Spiegel Daily“-Videos.
Nach einem Zwischenspiel bei der ARD hatte er seine Show bei Sat.1 und später bei Sky endgültig zu Tode geritten. Seit dem Aus im März 2014 betont er gerne, er sei nur noch „Spaziergänger“oder „Flaneur“. Er finde es toll, den Tag zu vertrödeln, sagte er kürzlich im österreichischen Radio. Schmidt, der in Köln wohnt, kokettiert gerne mit seinem Vorruhestand: „Wozu noch auftreten? Ich war in jeder Stadt, in jedem Hotel. Ich kenne jeden Wurschtsalat“, erklärt er im „Profil“-Interview.
Jetzt tut er, was ihm Spaß macht
Aber was einer Rampensau, die Schmidt eben auch immer war, ein bisschen abgehen dürfte, ist das Publikum. Vielleicht begibt er sich deshalb ab und zu bei ausgewählten Veranstaltungen unter die Leute, liest im österreichischen Bad Vöslau aus Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“oder präsentiert im Altenberger Dom seine „Greatest Kirchenhits“. Der „Stern“schrieb anschließend: „ER kann es sich leisten. ER tut nur noch, was ihm Spaß macht.“
Schmidt ist also noch da und immer noch zu Scherzen aufgelegt. In der digitalen Nische ist seine Bühne jetzt kein TV-Studio mehr, sondern die ganze Welt. „Wenn Sie einen Mann Ende 50 im Flughafen ins Handy schreien sehen“, spottet Harald Schmidt selbstironisch, während er im Flughafen ins Handy schreit, „dann ist das ein First Mover, das ist ein Top-Entscheider, das ist ein Influencer“. Deshalb sei der deutsche Mann im Fernsehen altersmäßig unbegrenzt einsetzbar. Dann erinnert er an Maria Furtwänglers im „Spiegel“erhobene Kritik, dass ältere Frauen im Fernsehen keine Chance hätten. „An mir liegt's nicht“, sagt Schmidt und grinst. „Dirty Harry“kann auch im Nirwana Spaß haben.