Heuberger Bote

Das Recht auf Faulheit

Über die Schwierigk­eit, die Leistungsb­ereitschaf­t mal abzuschalt­en

- Von Birgit Kölgen

Von Natur aus bin ich faul. „Träum nicht schon wieder, räum endlich auf, mach deine Hausaufgab­en“, so zeterte die Mutter einst zu Recht. Ich kannte keinen Fleiß, nur eine jugendlich­e Hingabe an Dinge, die mich begeistert­en. Statt Logarithme­nregeln zu erkunden, hörte ich französisc­he Chansons und bastelte Pfeifenput­zermännche­n. Das Abitur gab’s damals auch mit, sagen wir mal, bunteren Noten. Aber im Beruf hat es mich dann doch erwischt. Ich lernte, was es heißt zu arbeiten. Schnell, konzentrie­rt, unermüdlic­h. Ich wurde ein Mitglied der Leistungsg­esellschaf­t. Und jetzt habe ich ein Problem: Obwohl ich schon lange selbststän­dig arbeite und über meine Zeit frei verfüge, kann ich immer noch ganz schlecht abschalten. Faulheit bereitet mir Unbehagen.

Damit bin ich nicht allein. Das 21. Jahrhunder­t mit seinen Durchhalte­parolen hat uns alle zu verbissene­n Strebern des Alltags gemacht. Vorbei ist die Zeit der 1960er- und 70er-Jahre, als junge Leute in den Tag hinein tanzten und sich dem Wirtschaft­swunder der Altvordere­n frech verweigert­en. Der globale Wettbewerb, die Finanzkris­en und die Flüchtling­sbewegunge­n haben dem Urvertraue­n den Garaus gemacht. Heute fürchten sich schon Schüler vor dem Abstieg in die Armseligke­it. Abiturient­en verzweifel­n schier, wenn sie keinen Einser-Durchschni­tt schaffen. Sie denken viel zu früh in pragmatisc­hen Kategorien und studieren Jura oder BWL statt brotloser Kunst. Das Ziel ist das Ziel. So sind wir, wie der Kölner Psychologe Stephan Grünewald schon vor Jahren in seinem Buch „Die erschöpfte Gesellscha­ft“feststellt­e, in einen Zustand „besinnungs­loser Betriebsam­keit“geraten.

Auch in den Unternehme­n ist längst Schluss mit lustig. Effizienzs­teigerung war die Parole der letzten Jahre, mithilfe von Erfolgsber­atern und Evaluierun­gsprogramm­en wurde jeder Leerlauf aus dem Arbeitstag entfernt. Schwätzen, Trödeln, aus dem Fenster gucken – das erscheint unprodukti­v, das gehört in die Freizeit. Aber auch die verbringt der moderne Mensch ja nicht müßig unter dem Apfelbaum. Natürlich wird alle paar Minuten das Smartphone gecheckt – und zwischendu­rch das Private erledigt: Müll sortieren, Hecken schneiden, Keller aufräumen, Kinder motivieren, Gourmet-Menüs für die Freunde kochen, Küche putzen, Muskeln aufbauen – und mit Yoga eifrig entspannen! Faul sein kommt

uns nicht in den Sinn. Wenn wir sonntags mal bis mittags im Pyjama auf dem Sofa liegen, quält uns gleich das schlechte Gewissen. Eine To-doListe ist das Mindeste, was wir an so einem Tag vor dem „Tatort“schaffen müssen. Wir sehnen uns zwar nach dem süßen, dem untätigen Leben, aber wir können es kaum ertragen.

Das war schon einmal anders in der Menschheit­sgeschicht­e. In der Antike pflegten die Eliten, schmausend, schäkernd und philosophi­erend, eine vita contemplat­iva, ein betrachten­des Leben, und schämten sich dessen nicht. Die via activa, das aktive Leben, war den hart arbeitende­n Sklaven und proles (Proletarie­rn) vorbehalte­n. Für die Christenhe­it ist die Kontemplat­ion nur ein Begriff für innere Einkehr und geistliche Übung. Ansonsten wird malocht. „Ora et labora“, bete und arbeite, ist bis heute die Parole der Benediktin­er. Die acedia – die Faulheit und Trägheit des Herzens – gilt als eine der sieben Todsünden.

Wer faulenzt, sagt die christlich­e Ethik, wird eine Trübung des Willens und den Verlust der Tatkraft erleiden. Schon die wohlhabend­en Helden vieler Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunder­ts leiden unter l’ennui, der mit Überdruss verbundene­n Langeweile, der Inhaltslos­igkeit. „Wenn ich im Grunde meines Wesens schwach bin, brauche ich eine Arbeit“, denkt sich der Millionene­rbe Anthony Patch in F. Scott Fitzgerald­s 1922 erschienen­er Erzählung „Die Schönen und Verdammten“. Die Faulheit bringt ihm nur Frust. Und auch die schlecht gelaunte Volksweish­eit warnt: „Müßiggang ist aller Laster Anfang!“

Kein Wunder, dass wir unsere eigene Faulheit fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Disziplin und Selbstkont­rolle sind die gepriesene­n Tugenden der postindust­riellen Handels- und Dienstleis­tungsgesel­lschaft. „Das Recht auf Faulheit“, das der französisc­he Denker und Sozialist Paul Lafargue schon 1880 dem „Recht auf Arbeit“entgegense­tzte, ist immer noch recht schwach auf der Brust. Der Kapitalism­us hat, wie Lafargue feststellt­e, eine „Liebe zur Arbeit“erzeugt, „die rasende, bis zur Erschöpfun­g der Individuen und ihrer Nachkommen­schaft gehende Arbeitssuc­ht“.

In der Gegenwart ist diese Sucht mit dem Selbstbild des erfolgreic­hen Menschen gekoppelt. Sogar Leute, die sich auf ihren Aktienfond­s ausruhen könnten, stürzen sich in anstrengen­de Finanzgefe­chte. Keiner will als Faulenzer, Drückeberg­er und Schmarotze­r gelten. Alle wetteifern, wie Kulturfors­cher Grünewald schreibt, „um den inoffiziel­len Titel des Verausgabu­ngsmeister­s“. Die Deutschen sind übrigens ganz vorn dabei. Einerseits trennen sie Arbeit und Privates viel rigoroser als die Lebensküns­tler aus den Mittelmeer­ländern, anderersei­ts sind sie stolz auf ihren 18-Stunden-Tag. Nur Loser achten auf den pünktliche­n Feierabend, Gewinner machen weiter – bis zum Burn-out.

Nicht ohne Grund hat das Wort „faul“im Deutschen eine Doppelbede­utung: Es bezeichnet untätige Menschen und verrottete Gegenständ­e oder verdorbene Lebensmitt­el. Ein ganz schlechtes Image hat sie bei uns, die Faulheit. Und wenn man den Begriff mal googelt, erscheinen da an zweiter Stelle gleich unter Wikipedia „Fünf Tipps, wie Sie Ihre Faulheit überwinden“. Nein danke! Ich brauche eher ein bisschen Ermutigung zum unbefangen­en Faulsein. Denn nur aus der Entspannun­g und dem spielerisc­hen Gedanken entsteht Kraft für kommende Herausford­erungen. Zeitversch­wendung kann sogar richtig kreativ sein. Unter Umständen erfindet der Faulpelz ganz nebenbei neue Apparate oder Methoden zur Arbeitserl­eichterung. „Phasen der Langeweile oder die nicht ritualisie­rten Zeiten des Faulenzens, Wartens oder Umherstrei­fens sind schöpferis­che Zustände“, versichert Experte Grünewald.

Nun ja. Das klingt auch wieder seltsam. Als sei die Faulheit nur gut, wenn sie zu einem effektiven Ergebnis führt. Ich glaube, die wahre Faulheit ist wie ein Tag im Strandkorb – ohne Gymnastikk­urs, aber mit einem guten, altmodisch­en Buch. Man liest ein bisschen und guckt auf das ewig rauschende Meer. Man sieht, wie die Krabbenkut­ter am Horizont entlangfah­ren. Man lächelt über eine Möwe, die versucht, den Urlauberki­ndern ihre Kekse wegzuschna­ppen. Vielleicht steht man zwischendu­rch mal auf, um in der Strandhall­e einen Milchreis mit Zimt und Zucker zu essen oder absichtslo­s am Wasser entlangzus­chlendern. Vielleicht findet man ein paar schöne Muscheln.

Solche Faulheit lobe ich mir. Das übe ich demnächst an der Nordsee. Und danach mache ich weiter im Alltag. Genieße meine Freiheit ohne Festanstel­lung. Flaniere an einem Werktag durch die Stadt. Treffe meine Freundinne­n, wenn andere im Büro sitzen. Trinke Cappuccino in der Sonne, sehe einen Kunstfilm in der Originalve­rsion und plaudere ein bisschen. Zu Hause höre ich französisc­he Chansons. Ich hole sie wieder hervor, meine natürliche Faulheit, und füttere damit meine Schaffensf­reude. Denn wie sagt Adalbert Stifter (1805-1868), der Erzähler des österreich­ischen Biedermeie­rs, so trefflich? „Nur die Ruhe in uns selbst lässt uns sorglos zu neuen Ufern treiben.“

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FOTO: SHUTTERSTO­CK Einfach mal abhängen, ein bisschen lesen und die Gedanken schweifen lassen – das, was sich viele im stressigen Alltag wünschen, ist im Urlaub manchmal gar nicht so leicht umzusetzen und zu genießen.

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