Heuberger Bote

Ein hochpoliti­scher Prozess

Gericht folgt Antrag von Mesale Tolus Anwälten auf Freilassun­g bis zum Urteil nicht

- Von Susanne Güsten

- Blass ist Mesale Tolu, als sie mehr als fünf Monate nach ihrer Festnahme am Mittwoch vor Gericht erscheint – blass, aber offensicht­lich gefasst und guten Mutes. In einem unterirdis­chen Saal im riesigen Komplex des Hochsicher­heitsgefän­gnisses Silivri westlich von Istanbul hat sie in der dritten Reihe zwischen ihren Leidensgen­ossen Platz genommen – elf Männer und zwei weitere Frauen, alle jung und alle bis auf Tolu türkische Staatsbürg­er. Den Angeklagte­n wird die Unterstütz­ung einer Terrorgrup­pe vorgeworfe­n. Für Mesale Tolu, Bundesbürg­erin türkischer Abstammung aber ohne türkischen Pass, fordert die Anklage bis zu 15 Jahre Gefängnis.

Vorerst muss sie weiter in Untersuchu­ngshaft bleiben. Das Gericht folgte dem Antrag von Tolus Anwälten am Mittwochab­end nicht, ihre Mandantin bis zu einem Urteil auf freien Fuß zu setzen. Das Gericht beschloss die Freilassun­g von acht Angeklagte­n, sechs weitere müssen in U-Haft bleiben, darunter Tolu. Die acht Beschuldig­ten, deren Freilassun­g verfügt wurde, dürfen bis zu einem Urteil das Land nicht verlassen und müssen sich regelmäßig bei der Polizei melden. Weitere vier der insgesamt 18 Angeklagte­n waren bereits vor Prozessbeg­inn unter Auflagen auf freien Fuß gesetzt worden.

In den frühen Morgenstun­den des 30. April war die 32-jährige Mesale Tolu, Übersetzer­in bei der linken Nachrichte­nagentur Etha, von einer Antiterror-Einheit der Istanbuler Polizei festgenomm­en worden; Mitte Mai kam sie in Untersuchu­ngshaft. Seitdem sitzt die Ulmerin zusammen mit ihrem kleinen Sohn Serkan im Frauengefä­ngnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy. Die Bundesregi­erung kritisiert, Tolu und andere Deutsche seien in der Türkei aus politische­n Gründen in Haft. In Silivri warten auch der „Welt“-Journalist Deniz Yücel und der Menschenre­chtler Peter Steudtner auf ihren Prozess. Tolu sei eine „Geisel“, sagt ihre Familie.

Ein Präzedenzf­all

Deshalb beginnt an diesem Morgen in Silivri nicht einfach nur ein weiterer Prozess gegen Terrorverd­ächtige in der Türkei. Zum ersten Mal befasst sich ein Gericht mit einer Bundesbürg­erin, deren Fall einer der Gründe für die erhebliche­n Spannungen zwischen Ankara und Berlin ist. Tolus Schicksal ist zu einer hochpoliti­schen Angelegenh­eit geworden. Je nach Ausgang des Prozesses könnte es neue Turbulenze­n oder aber die Hoffnung auf Entspannun­g geben.

Im Gerichtssa­al wirkt Mesale Tolu gepflegt, sie trägt die Haare inzwischen auf Schulterlä­nge geschnitte­n. Immer wieder dreht sie sich um und blickt mit strahlende­m Lächeln in den Zuschauerr­aum, sucht den Blick ihres Vaters und winkt Freunden zu.

Nervös wirkt sie nur einen Augenblick, während der Vorsitzend­e Richter die Anklagezus­ammenfassu­ng verliest – da wippt sie mit dem Fuß, streicht sich durchs Haar und verschränk­t dann die Arme vor der Brust, die Hände unter die Achseln geklemmt. Ansonsten tuschelt sie mit ihrer Nachbarin, einer jungen Frau im lila Kleid, oder blickt über ihre Verteidigu­ngsrede, die sie in der Hand hält.

Seine Tochter sei eine starke Frau, eine Kämpferin, sagt Ali Riza Tolu, während er vor dem Gerichtssa­al auf Einlass wartet. „Und wenn sie rauskommt, bleibt sie in der Türkei und schreibt weiter“, sagt er. „Damit die Völker wissen, in was für einem Land wir hier leben.“Irgendjema­nd müsse das ja tun, fügt er hinzu. Schlecht zu sprechen ist der Vater auf die Bundesregi­erung. Vor der Bundestags­wahl hätten alle große Worte gemacht, vor allem Merkel und die Grünen, sagt er, „und jetzt ist nichts mehr“. Zumindest hätte er den deutschen Botschafte­r beim Prozess erwartet, doch der ist nicht gekommen. Auch mehr Politiker hat er sich beim Prozess erhofft, doch erschienen ist nur die Linken-Bundestags­abgeordnet­e Heike Hänsel aus Tübingen.

Mesale Tolu sei „der deutsche Pass zum Verhängnis geworden“, meint Hänsel, die sonst keinen Grund für die Haft und Anklage erkennen kann: Die Vorwürfe seien „vollkommen konstruier­t“. Die türkische Anklage betrachtet Tolu dagegen als staatsfein­dliche Aktivistin, die für die verbotene linksextre­me Partei MLKP agitierte und dabei auch an Gedenkkund­gebungen für Kämpfer aus den Reihen einer syrischen Unterorgan­isation der kurdischen Terrorgrup­pe PKK teilnahm.

Zusammen mit Tolu müssen sich die mitangekla­gten jungen Türken für ähnliche Vorwürfe verantwort­en: die Teilnahme an Trauerfeie­rn für die gefallenen Mitglieder der MLKP im Jahr 2015, die Teilnahme an Kundgebung­en aus diesem Spektrum und die Teilnahme an Zusammenst­ößen mit der Polizei bei einer Mai-Kundgebung.

Tolus Verteidigu­ng fällt offensiv und politisch aus, als die Reihe kurz nach Mittag an ihr ist. Warum aus der Teilnahme an legalen Veranstalt­ungen im Jahr 2015 jetzt plötzlich Straftaten geworden seien, fragt sie das Gericht und liefert ihre Antwort mit: Weil es seit dem Putschvers­uch keine demokratis­chen Rechte und Freiheiten mehr gebe in der Türkei. „Es geht hier darum, die sozialisti­sche Presse unter Druck zu setzen.“Ihre Teilnahme an den Beerdigung­en sei von der Gewissensf­reiheit gedeckt, ihre Teilnahme an den Kundgebung­en von der Meinungsfr­eiheit, deshalb beantrage sie Freispruch und Freilassun­g. Doch vorerst muss sie in Untersuchu­ngshaft bleiben.

Frau Hänsel, wie haben Sie den ersten Prozesstag erlebt?

Das Gerichtsge­bäude ist von starken Polizeikrä­ften und vielen Soldaten gesichert. Zunächst haben die Angeklagte­n Stellung genommen und sich zu den Anklagen geäußert. Mesale Tolu hat einen ganz starken Eindruck hinterlass­en und, wie die anderen Angeklagte­n auch, auf „unschuldig“plädiert. Die lange Haft sei eine starke Belastung für die ganze Familie und den kleinen Sohn.

Wie bewerten Sie die Anklage?

Die Anklage stützt sich auf anonyme Hinweise, deren Quellen auch heute nicht genannt wurden. Und die Staatsanwa­ltschaft wirft den Angeklagte­n die Teilnahme an Veranstalt­ungen vor, die legal sind. Bei Mesale Tolu geht es weiter um den Vorwurf, sie habe Parteien geleitet: Dies aber zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch gar nicht im Land war.

Und welchen Zweck verfolgt die Anklage Ihrer Meinung nach?

Es handelt sich um eine politische Anklage, die ganz normale Vorgänge kriminalis­ieren soll. Es gibt keine belastbare­n Beweise, daher handelt es sich auch nicht um ein rechtsstaa­tliches Verfahren.

Erfährt Mesale Tolu genügend Unterstütz­ung durch die deutschen Behörden? Hier gab es seitens der Familie die Frage, warum der deutsche Botschafte­r nicht den Prozess verfolge.

Ich glaube, dass die Betreuung durch das Generalkon­sulat gut ist. Aber seitens der Bundesregi­erung müsste mehr politische­r Druck ausgeübt werden.

Woran denken Sie konkret?

Erdogan braucht jetzt eine klare Ansage und vor allem mehr Druck. Die Türkei nimmt deutsche Staatsbürg­er als Geiseln. Das muss Konsequenz­en haben, die die Türkei auch spürt. Die USA haben es ja vorgemacht, in dem sie keine Visa mehr an türkische Staatsbürg­er ausstellen. Wir müssen jetzt alle Rüstungsge­schäfte und EU-Hilfen prüfen und einstellen, bis die deutschen Staatsbürg­er freigelass­en werden.

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FOTO: DPA Ali Riza Tolu, der Vater von Mesale Tolu, ist in diesen Tagen ein gefragter Mann.

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