Ein hochpolitischer Prozess
Gericht folgt Antrag von Mesale Tolus Anwälten auf Freilassung bis zum Urteil nicht
- Blass ist Mesale Tolu, als sie mehr als fünf Monate nach ihrer Festnahme am Mittwoch vor Gericht erscheint – blass, aber offensichtlich gefasst und guten Mutes. In einem unterirdischen Saal im riesigen Komplex des Hochsicherheitsgefängnisses Silivri westlich von Istanbul hat sie in der dritten Reihe zwischen ihren Leidensgenossen Platz genommen – elf Männer und zwei weitere Frauen, alle jung und alle bis auf Tolu türkische Staatsbürger. Den Angeklagten wird die Unterstützung einer Terrorgruppe vorgeworfen. Für Mesale Tolu, Bundesbürgerin türkischer Abstammung aber ohne türkischen Pass, fordert die Anklage bis zu 15 Jahre Gefängnis.
Vorerst muss sie weiter in Untersuchungshaft bleiben. Das Gericht folgte dem Antrag von Tolus Anwälten am Mittwochabend nicht, ihre Mandantin bis zu einem Urteil auf freien Fuß zu setzen. Das Gericht beschloss die Freilassung von acht Angeklagten, sechs weitere müssen in U-Haft bleiben, darunter Tolu. Die acht Beschuldigten, deren Freilassung verfügt wurde, dürfen bis zu einem Urteil das Land nicht verlassen und müssen sich regelmäßig bei der Polizei melden. Weitere vier der insgesamt 18 Angeklagten waren bereits vor Prozessbeginn unter Auflagen auf freien Fuß gesetzt worden.
In den frühen Morgenstunden des 30. April war die 32-jährige Mesale Tolu, Übersetzerin bei der linken Nachrichtenagentur Etha, von einer Antiterror-Einheit der Istanbuler Polizei festgenommen worden; Mitte Mai kam sie in Untersuchungshaft. Seitdem sitzt die Ulmerin zusammen mit ihrem kleinen Sohn Serkan im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy. Die Bundesregierung kritisiert, Tolu und andere Deutsche seien in der Türkei aus politischen Gründen in Haft. In Silivri warten auch der „Welt“-Journalist Deniz Yücel und der Menschenrechtler Peter Steudtner auf ihren Prozess. Tolu sei eine „Geisel“, sagt ihre Familie.
Ein Präzedenzfall
Deshalb beginnt an diesem Morgen in Silivri nicht einfach nur ein weiterer Prozess gegen Terrorverdächtige in der Türkei. Zum ersten Mal befasst sich ein Gericht mit einer Bundesbürgerin, deren Fall einer der Gründe für die erheblichen Spannungen zwischen Ankara und Berlin ist. Tolus Schicksal ist zu einer hochpolitischen Angelegenheit geworden. Je nach Ausgang des Prozesses könnte es neue Turbulenzen oder aber die Hoffnung auf Entspannung geben.
Im Gerichtssaal wirkt Mesale Tolu gepflegt, sie trägt die Haare inzwischen auf Schulterlänge geschnitten. Immer wieder dreht sie sich um und blickt mit strahlendem Lächeln in den Zuschauerraum, sucht den Blick ihres Vaters und winkt Freunden zu.
Nervös wirkt sie nur einen Augenblick, während der Vorsitzende Richter die Anklagezusammenfassung verliest – da wippt sie mit dem Fuß, streicht sich durchs Haar und verschränkt dann die Arme vor der Brust, die Hände unter die Achseln geklemmt. Ansonsten tuschelt sie mit ihrer Nachbarin, einer jungen Frau im lila Kleid, oder blickt über ihre Verteidigungsrede, die sie in der Hand hält.
Seine Tochter sei eine starke Frau, eine Kämpferin, sagt Ali Riza Tolu, während er vor dem Gerichtssaal auf Einlass wartet. „Und wenn sie rauskommt, bleibt sie in der Türkei und schreibt weiter“, sagt er. „Damit die Völker wissen, in was für einem Land wir hier leben.“Irgendjemand müsse das ja tun, fügt er hinzu. Schlecht zu sprechen ist der Vater auf die Bundesregierung. Vor der Bundestagswahl hätten alle große Worte gemacht, vor allem Merkel und die Grünen, sagt er, „und jetzt ist nichts mehr“. Zumindest hätte er den deutschen Botschafter beim Prozess erwartet, doch der ist nicht gekommen. Auch mehr Politiker hat er sich beim Prozess erhofft, doch erschienen ist nur die Linken-Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel aus Tübingen.
Mesale Tolu sei „der deutsche Pass zum Verhängnis geworden“, meint Hänsel, die sonst keinen Grund für die Haft und Anklage erkennen kann: Die Vorwürfe seien „vollkommen konstruiert“. Die türkische Anklage betrachtet Tolu dagegen als staatsfeindliche Aktivistin, die für die verbotene linksextreme Partei MLKP agitierte und dabei auch an Gedenkkundgebungen für Kämpfer aus den Reihen einer syrischen Unterorganisation der kurdischen Terrorgruppe PKK teilnahm.
Zusammen mit Tolu müssen sich die mitangeklagten jungen Türken für ähnliche Vorwürfe verantworten: die Teilnahme an Trauerfeiern für die gefallenen Mitglieder der MLKP im Jahr 2015, die Teilnahme an Kundgebungen aus diesem Spektrum und die Teilnahme an Zusammenstößen mit der Polizei bei einer Mai-Kundgebung.
Tolus Verteidigung fällt offensiv und politisch aus, als die Reihe kurz nach Mittag an ihr ist. Warum aus der Teilnahme an legalen Veranstaltungen im Jahr 2015 jetzt plötzlich Straftaten geworden seien, fragt sie das Gericht und liefert ihre Antwort mit: Weil es seit dem Putschversuch keine demokratischen Rechte und Freiheiten mehr gebe in der Türkei. „Es geht hier darum, die sozialistische Presse unter Druck zu setzen.“Ihre Teilnahme an den Beerdigungen sei von der Gewissensfreiheit gedeckt, ihre Teilnahme an den Kundgebungen von der Meinungsfreiheit, deshalb beantrage sie Freispruch und Freilassung. Doch vorerst muss sie in Untersuchungshaft bleiben.
Frau Hänsel, wie haben Sie den ersten Prozesstag erlebt?
Das Gerichtsgebäude ist von starken Polizeikräften und vielen Soldaten gesichert. Zunächst haben die Angeklagten Stellung genommen und sich zu den Anklagen geäußert. Mesale Tolu hat einen ganz starken Eindruck hinterlassen und, wie die anderen Angeklagten auch, auf „unschuldig“plädiert. Die lange Haft sei eine starke Belastung für die ganze Familie und den kleinen Sohn.
Wie bewerten Sie die Anklage?
Die Anklage stützt sich auf anonyme Hinweise, deren Quellen auch heute nicht genannt wurden. Und die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten die Teilnahme an Veranstaltungen vor, die legal sind. Bei Mesale Tolu geht es weiter um den Vorwurf, sie habe Parteien geleitet: Dies aber zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch gar nicht im Land war.
Und welchen Zweck verfolgt die Anklage Ihrer Meinung nach?
Es handelt sich um eine politische Anklage, die ganz normale Vorgänge kriminalisieren soll. Es gibt keine belastbaren Beweise, daher handelt es sich auch nicht um ein rechtsstaatliches Verfahren.
Erfährt Mesale Tolu genügend Unterstützung durch die deutschen Behörden? Hier gab es seitens der Familie die Frage, warum der deutsche Botschafter nicht den Prozess verfolge.
Ich glaube, dass die Betreuung durch das Generalkonsulat gut ist. Aber seitens der Bundesregierung müsste mehr politischer Druck ausgeübt werden.
Woran denken Sie konkret?
Erdogan braucht jetzt eine klare Ansage und vor allem mehr Druck. Die Türkei nimmt deutsche Staatsbürger als Geiseln. Das muss Konsequenzen haben, die die Türkei auch spürt. Die USA haben es ja vorgemacht, in dem sie keine Visa mehr an türkische Staatsbürger ausstellen. Wir müssen jetzt alle Rüstungsgeschäfte und EU-Hilfen prüfen und einstellen, bis die deutschen Staatsbürger freigelassen werden.