Schlechte Vorzeichen für Frankreich
Tuttlinger Organisationen laden Soziologe zu Vortrag am 26. Oktober ein
- „Nachbar Frankreich – wohin?“Das ist der Titel des Vortrags, den der französische Soziologe Professor Roland Pfefferkorn am Donnerstag, 26. Oktober, im Ratssaal des Rathauses Tuttlingen hält. Redakteurin Ingeborg Wagner unterhielt sich im Vorfeld mit ihm.
Herr Pfefferkorn: Marine Le Pen, die Kandidatin des rechtsextremen Front National, kam bei den Präsidentschaftswahlen auf 34,1 Prozent der Stimmen. Wie erklären Sie das?
Warum immer wieder die Lupe auf Marine Le Pen? Eigentlich ist sie eine Figur, die fast ausschließlich von den Medien groß gemacht wurde. Sie ist als Schreckensperson benutzt worden: Die Neoliberalen haben in ihr ein perfektes Feindbild gefunden, um gewählt zu werden und ihre Politik weiter treiben zu können. Die Medien haben vor den Wahlen nur auf Mélenchon geschossen, ganz wenig auf Le Pen, als ob sie alle auf ein Duell zwischen Macron und Le Pen hofften. (Anm. d. Red.: Jean-Luc Melénchon war Kandidat der France Insoumise, vergleichbar mit Die Linke in Deutschland).
Dennoch: Ist der Rechtspopulismus in Frankreich salonfähig geworden? Wie geht das zusammen mit den vielen Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien, die heute in Frankreich leben?
Ob rechts oder links, warum alle Gegner durch den gleichen Disqualifikat Populismus kennzeichnen? Das Wort Populismus hat keinen Sinn für die Front national. Marine le Pen und ihre Partei sind keine Populisten. Sie gehören zur extremen Rechten. Sie verteidigen nationale Präferenz und lehnen eine multikulturelle Gesellschaft ab. Sie beklagen die Dekadenz des Landes, suchen ständig einen Sündenbock und pflegen den Kult des Führers. Frankreichs Bevölkerung ist gemischt. Dies ist kein Problem. Aber seit Jahren wird gehetzt, besonders über das Thema Islam, vonseiten der Parteien, besonders des Front nationals und vonseiten der großen Medien. Dieses Thema wird bewusst genutzt, um die Sozialfrage vom Tisch zu bekommen. Wegen dieser Frage haben François Hollande und die sozialistische Partei eine so große Niederlage eingefahren. Weil sie letztlich seit 1984 eine konservative Politik betreiben.
Und heute? Mit Emmanuel Macron?
Die Politik von Macron ist die Fortführung von Sarkozy und Hollande, nur noch härter, vor allem für Arbeitnehmer und Rentner. Macron ist vielleicht jung, frisch, dynamisch und neu, aber er betreibt eine alte Politik.
Aber hat die Mehrheit der Franzosen ihn nicht gerade gewählt, weil sie einen politischen Neuanfang wollten? En marche?
Macron ist gewählt worden gegen Le Pen, nicht wegen seines Programms. So viele Franzosen haben ihn gar nicht gewählt. Am ersten Wahlgang hat er 24 Prozent der gültigen Stimmen bekommen. In der zweiten Runde wollten 56,3 Prozent der Wähler nicht Macron, wenn man die Enthaltungen und die Null-Wähler (ungültige Stimmen) nicht vergisst. Im Parlament, gemessen an den abgegebenen Wählerstimmen, haben nur 13,4 Prozent der Wahlberechtigten Macrons en Marche ihr Mandat gegeben. Nicht mehr.
Sie sehen Macron sehr kritisch. Wie beurteilen Sie seine Pläne der Arbeitsmarktreform? Ist sie nicht dringend notwendig für das wirtschaftliche Vorankommen Frankreichs?
Macron kommt von der ENA, Frankreichs Elite-Kaderschmiede, war bei der Rothschild-Bank. Die Leute, die die wichtigen Posten besetzen, kommen aus den selben Kreisen. Da braucht man sich nicht zu wundern, dass die selbe Politik weiter betrieben wird. Es handelt sich bei der Arbeitsmarktreform um Texte, die durch die Exekutive geheim ausgearbeitet wurden und deren Inhalt nicht im Parlament debattiert wurde. Dennoch werden diese Verordnungen künftig Gesetzeskraft aufweisen. Warum werden die Rechte der Arbeitnehmer abgeschafft? Um die Löhne zu senken? Um Angst auszuüben? Diese Maßnahmen führen zu mehr Unrecht und Ungleichheiten. Das haben viele Franzosen verstanden. Die Umfragewerte des Präsidenten sinken seit Wochen.
Der Titel Ihres Vortrags lautet „Nachbar Frankreich – wohin?“Wohin geht es aus Ihrer Sicht.
Da kann ich keine klare Antwort geben, ich bin kein Prophet, sondern erwäge nur Möglichkeiten. Wenn Macron seine Richtung durchsetzen kann, dann denke ich, dass es zu nichts anderem kommt als zu Ungleichheiten.
Das birgt gewaltigen Sprengstoff. sozialen
Sehr wahrscheinlich. Und das wird zu Konfrontationen führen. Anfang September erklärte Macron, es sei „nicht die Straße, die regiert“, um hinzuzufügen: „Ich werde in nichts nachgeben, weder den Faulenzern, noch den Zynikern, noch den Extremisten.“Bei Macron ist viel Brutalität dabei.
Sie malen ein sehr düsteres Bild.
Frankreichs Demokratie durchlebt eine tiefe Vertrauenskrise. Wenn weniger als 43 Prozent der Wahlberechtigten an einer Parlamentswahl teilnehmen, ist dies mehr als ein ernstes Warnsignal.