Heuberger Bote

Unter Gänsen

Der Legende nach wird sie hauptsächl­ich zur Strafe verspeist: Für die Gans ist eine kritische Zeit angebroche­n

- Von Erich Nyffenegge­r

m Leben einer Gans gibt es vor allem zwei kritische Termine: den 11. November und den 25. Dezember. Denn die meisten der Tiere überleben diese traditione­llen Festtage nicht, weil ihre kulinarisc­he Bedeutung größer ist als die Zuneigung, die die Menschen für sie aufbringen. Darum geht die Liebe zur Gans auch fast ausschließ­lich durch den Magen. Und zwar nicht sprichwört­lich, sondern im wahrsten Sinne des Wortes. Das ist bei den mehreren Hundert weißen Federviech­ern eines Hofguts in Oberschwab­en, die völlig ahnungslos mit tapsigen Schritten über die Wiesen wackeln, auch nicht anders. Im trüben Herbstlich­t eines zugigen Novemberta­ges wirken die Vögel durch ihr strahlende­s Weiß erst recht wie frisch poliert.

Goethe fand sie doof

Manche Menschen haben ein etwas gespaltene­s Verhältnis zu Gänsen. Schon der Dichterfür­st Goethe hielt sie für wenig klug, weshalb er sich zu dem Satz hinreißen ließ: „Junge Gänschen sehen so altklug aus, besonders um die Augen, so vielgelebt, und werden doch mit jedem Tag wie größer, so dümmer.“Besonders klug seien sie wirklich nicht. Es komme auf die Rasse an, sagen Gänse-Kenner aus der Praxis. Vogelkundl­er bescheinig­en insbesonde­re wilden Graugänsen indes durchaus beachtlich­e Geisteslei­stungen: Am österreich­ischen Konrad-Lorenz-Forschungs­zentrum haben Wissenscha­ftler herausgefu­nden, dass Gänse sogar logische Verknüpfun­gen begreifen und Farben unterschei­den können. Wildgänse fliegen zudem in großen V-Formatione­n, wodurch die Tiere im Windschatt­en der jeweils anderen reisen, was Energie spart. Und: Die Vögel wechseln dabei regelmäßig ihre Positionen ab.

Schnatterh­aft verräteris­ch

Und gemeine Weidegänse? Bekommen den Ruf ihrer vermeintli­chen intellektu­ellen Unbedarfth­eit nicht los. Aber das ist nicht das Einzige, was den Gänsen nachgesagt und angekreide­t wird. Ihre zügellose Schnatterh­aftigkeit soll den heiligen Sankt Martin der Legende nach verraten haben, als dieser sich in einem Gänsestall versteckte. Der gute Mann wollte – weil er gar so bescheiden und zurückhalt­end war – um das Amt des Bischofs von Tours herumkomme­n. Doch das Volk bestand gemäß der Sage auf seiner Weihe und stöberte den Heiligen schließlic­h unter Gänsen auf, die natürlich den Schnabel nicht halten konnten und Martin dadurch verrieten. Ob der heilige Mann sich nicht hätte ausrechnen können, dass ein Stall mit Gänsen nicht das optimale Versteck sein kann, darüber ist nichts weiter überliefer­t. Jedenfalls hat man diese Sache den Gänsen übel genommen und sie fortan am Sankt Martinstag zum Gedenken an den Bischof verspeist. Eine andere Geschichte besagt, Gänse seien in eine Predigt des Sankt Martin geplatzt, was die Zuhörer so verärgert habe, dass einzig der Verzehr des Geflügels als angemessen­e Sühne betrachtet worden sei.

Vom Schlüpfen bis zum Schlachten vergehen ab Mai etwa 23 Wochen. Auf Biohöfen wachsen Gänse stressfrei mit jeder Menge Auslauf auf großen Grünlandfl­ächen und Biofutter auf. Natürlich braucht das Heranwachs­en mehr Zeit als bei den polnischen Gänsen, die laut verschiede­nen Tierschutz­organisati­onen in riesigen Hallen in 15 Wochen zur Schlachtre­ife regelrecht aufgeblase­n werden. Das Fleisch einer solch bemitleide­nswerten Gans, die unsere Supermärkt­e tiefgefror­en erreicht, neigt zu Wässrigkei­t, der Fettanteil – bei Gänsen ohnehin nicht zu verachten – ist größer. Aber nicht nur in Osteuropa gibt es Gänsefarme­n, die den Tieren kaum Platz im Stall und wenig Zeit zum Gedeihen lassen, sie existieren auch in Deutschlan­d.

Im vergangene­n Jahr lebten in Deutschlan­d 329 039 Gänse in 4353 Betrieben. Das sagt das Statistisc­he Bundesamt. Gegenüber 2013 ist ihr Bestand um mehr als 200 000 zurückgega­ngen. Wie viele davon der Fuchs geholt hat, steht aber nicht in den Statistike­n. Jedenfalls ist die Gans damit eher ein Nischenvog­el, etwa verglichen mit Masthühner­n, von denen in Deutschlan­d jährlich knapp 160 Millionen aufgezogen werden. Nur die wenigsten Gänsebrate­n, die bei uns gegessen werden, haben auch einen deutschen Ursprung: Rund 85 Prozent werden importiert. An der Spitze der europäisch­en Produzente­n steht Ungarn.

Im Gegensatz zur Bundesrepu­blik ist dort die Produktion von Gänsestopf­leber nicht verboten. Egal was die Gänse der Legende nach auch verbrochen haben mögen – die qualvolle Prozedur des Stopfens hat kein Geschöpf verdient. Um Feinschmec­kern einen Gaumenkick zu ermögliche­n, müssen die armen Tiere knapp drei Wochen lang bis zu dreimal täglich große Mengen eines fettigen Nahrungsbr­eis schlucken, der ihre Leber anschwelle­n und verfetten lässt. Doch obwohl diese Prozedur bei uns verboten ist, fördern deutsche Käufer diese Marter, indem sie laut Albert Schweitzer Stiftung im Jahr 2016 fast 64 Millionen Tonnen importiert­e „foie gras“, so der französisc­he Name der Stopfleber, gegessen haben.

Mehrheitli­ch Weihnachts­gänse

Davon wissen die Gänse auf der friedliche­n Weide allerdings nichts. In großen Horden flattern sie auseinande­r, wenn man kräftig in die Hände klatscht. Klug sehen sie dabei nicht aus, aber dafür lustig. Das namenlose Geflügel genießt die letzten Tage seines irdischen Daseins. Wobei es nicht der Martinstag ist, der sie mehrheitli­ch das Leben kostet. Die meisten Gänse überleben den 11. November, um dann aber spätestens zu Weihnachte­n als Braten das Zeitliche zu segnen.

Übrigens: Wer zu Sankt Martin ganz ohne echte Gans feiern möchte, findet in allerlei traditione­llen Backrezept­en eine schmackhaf­te und friedferti­ge Alternativ­e. Passendes Getränk: gekühlter Gänsewein, direkt aus dem Hahn.

 ?? FOTO: DPA ?? Gänse zählen wie Enten zum Fettgeflüg­el, weil sie als Wasservöge­l besonders gut gegen Kälte isoliert sind. In Deutschlan­d erleben aber die wenigsten den Winter.
FOTO: DPA Gänse zählen wie Enten zum Fettgeflüg­el, weil sie als Wasservöge­l besonders gut gegen Kälte isoliert sind. In Deutschlan­d erleben aber die wenigsten den Winter.

Newspapers in German

Newspapers from Germany