Zeitflüchtlinge, Spiralgeher und Umwegmacher
Peter Handke und sein neuer Roman „Die Obstdiebin“
Ab und an macht sich Peter Handke auf den Weg und setzt sich im Pariser Vorort Chaville, wo er seit 1990 lebt, in die Vorortbahn Richtung Norden. Auch der Erzähler in „Die Obstdiebin“bricht mit dem Zug auf. Von den Pariser Rändern der „Niemandsbucht“will er in die Natur belassene Picardie. Der diese Woche erschienene Roman ist ein 550-Seiten starkes Plädoyer für die Nonkonformisten. Handke selbst nennt sie im Buch „Zeitflüchtlinge“, „Umwegmacher“, „Spiralgeher“. Typische Handke-Figuren eben. All jene, die sich selbst schuldig fühlen, weil sie immer noch keinen Platz in der Gesellschaft gefunden haben. So wie Handke. Am 6. Dezember feiert er seinen 75. Geburtstag. Vielleicht feiert er ihn auch nicht. Das würde zu ihm passen.
Ein Bienenstich ist der Auslöser. Beim Barfußgehen im Gras am ersten warmen Mittsommertag wird der Erzähler gestochen und bricht auf. An diesem „Stich-Tag“nimmt die Geschichte der Obstdiebin Gestalt an. Der Erzähler geht durch die Zypressenallee, die keine ist. „Aber ich bestimme es so, für diese Geschichte und, in meinem Selbstbewusstsein episodisch nach dem eines Wolfram von Eschenbach, über die Geschichte hinaus.“Einmal mehr wird das Erzählen selbst zum Thema des Erzählens.
Nach gerade mal einem Viertel des Buches wechselt die Perspektive. Nicht mehr der Ich-Erzähler steht im Mittelpunkt, sondern die junge Alexia, die als Sinnbild ihrer Nichtangepasstheit seit Kindertagen nur „die Obstdiebin“genannt wird. Die ganze Welt hat sie durchstreift. Jetzt macht sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter im französischen Urland. Dabei begegnet sie einem Pizzaboten, der sie ein Stück weit begleitet, einer Briefträgerin, die nur Rechnungen, keine Briefe zustellt. Bis die Obstdiebin ihre Familie findet und feiert. „Es lebe das Zwecklose – es muss nur praktiziert werden“, spricht der Vater in seiner rauschenden Tischrede.
Worte, aus denen zweifelsfrei der reale Autor spricht. Handlung interessiert Handke nicht. Allein auf das „wie“kommt es an. Nichts ereignet sich und doch steht jeden Augenblick alles auf dem Spiel. Aber was über die Distanz einer Erzählung trägt, versagt bei einem 500-Seiten-Roman. Das retardierende Erzählen von Nichtigkeiten wird in der zweiten Hälfte von Seite zu Seite quälender. Zumal Handke das alles schon verdichteter und sehr viel prägnanter ausformuliert hat. Seit seiner „Publikumsbeschimpfung“(1966) schreibt er an gegen den Mainstream. Mit seinem Opus Magnum „Immer noch Sturm“(2010) und den Büchern seiner „Versuchsreihe“(„Versuch über den Stillen Ort“, 2012, und „Versuch über den Pilznarren“, 2013) sind ihm auch noch in den vergangenen Jahren hervorragende Bücher gelungen. „Die Obstdiebin“aber zählt nicht dazu. Was soll’s. Wie heißt es doch so schön im Roman: „Wie man sich verirrt hat, so erlebt man.“
Peter Handke: Die Obstdiebin.
Suhrkamp, 559 Seiten, 34 Euro.