Merkel verliert an Rückhalt in Bevölkerung
DIHK-Chef fordert rasche Regierungsbildung – SPD stellt Bedingungen – Kubicki zündelt
- Die Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung lassen die Unterstützung für Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Bevölkerung bröckeln. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov wünscht sich inzwischen fast jeder Zweite (47 Prozent), dass Merkel bei einer Wiederwahl zur Kanzlerin ihren Posten vor Ende der Wahlperiode räumt. Nur 36 Prozent wollen sie weitere vier Jahre im Amt sehen. Kurz nach der Wahl war der Rückhalt für Merkel deutlich größer.
Auch dem Deutschen Industrieund Handelskammertag (DIHK) dauert die Regierungsbildung deutlich zu lange. DIHK-Präsident Eric Schweitzer fordert von Union und SPD eine schnelle Entscheidung für eine Neuauflage der Großen Koalition. Der „Schwäbischen Zeitung“sagte Schweitzer, die andauernde politische Hängepartie könne der Wirtschaft schaden: „Für Unternehmen sind angesichts des digitalen Wandels und des Mangels an Fachkräften klare Perspektiven sehr wichtig.“
Union und SPD wollen ab dem 7. Januar ausloten, ob eine Große Ko- alition wieder möglich ist. Der Verhandlungspoker hat unterdessen aber bereits begonnen. So stellte Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) der Union in der „Bild“Zeitung Bedingungen. Er sagte, es sei noch nicht entschieden, „ob es Sinn macht, in Koalitionsverhandlungen zu gehen“. Klar sei: „Wenn die Union darauf besteht, dass gesetzlich Versicherte schlechter behandelt werden als privat Versicherte, dann macht es wenig Sinn, Koalitionsgespräche zu führen“, betonte Gabriel.
In diesem Fall wären Neuwahlen eine realistische Option. Eine Opti- on, die Wolfgang Kubicki durchaus gefiele. Den Zeitungen der FunkeMediengruppe sagte der FDP-Vize, ihm wäre „eine Koalition mit einer erneuerten CDU/CSU am liebsten“. Es gebe in der CDU eine ganze Reihe guter Leute, die für eine Erneuerung stünden, etwa Präsidiumsmitglied Jens Spahn und den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther. Es sei nicht seine Aufgabe zu sagen, Merkel müsse weg, zündelte Kubicki. „Die Union muss selbst wissen, wie sie aus dem Jammertal der 30 Prozent rauskommen will.“
- Erst das Jamaika-Aus, dann die Hängepartie um eine Große Koalition mit der SPD: Seit mehr als drei Monaten wartet Deutschland auf eine neue Regierung, und das wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) heftig angelastet. Fast jeder zweite Bürger wünscht sich inzwischen, die Regierungschefin möge bei einer Wiederwahl nicht noch einmal vier Jahre weitermachen, vorher abtreten, den Weg frei machen für ein frisches Gesicht im Kanzleramt (siehe Grafik). Nur noch 36 Prozent wollen Merkel für weitere vier Jahre, das sind ganze acht Punkte weniger als kurz nach der Bundestagswahl.
Merkel-Verdruss im Volk, ein Hauch von Kanzlerinnendämmerung in Berlin vor dem Start der Sondierungen? Mit Blick auf die stabilen Umfragewerte der CDU, auf den starken Rückhalt der Kanzlerin in den eigenen Reihen und auf den weiteren Absturz der SPD und ihres Vorsitzenden Martin Schulz ist ein baldiger Merkel-Rückzug eher der Wunschtraum ihrer Widersacher und die YouGov-Umfrage lediglich eine Momentaufnahme. Ob der bröckelnde Rückhalt die Kanzlerin gänzlich kaltlässt, darf aber bezweifelt werden, geht ihr BeliebtheitsAbsturz doch einher mit der schier endlosen Suche nach der neuen Regierung.
Appell von Laschet
Immerhin: Eine Woche vor dem nächsten Spitzentreffen von Union und SPD kommt etwas Bewegung in eines der schwierigsten Streitthemen. Der Appell von Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, an die Union, beim Familiennachzug Kompromisse zu machen, stößt in Teilen der CSU auf fruchtbaren Boden: „Für eine Ausweitung der Härtefallregelung bin ich offen“, erklärte Stephan Mayer (CSU), innenpolitischer Sprecher der UnionsBundestagsfraktion, am Mittwoch im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Es gehe darum, „insbesondere bei besonders tragischen Schicksalen, beispielsweise bei einer schwerwiegenden oder tödlichen Erkrankung, die Familienzusammenführung leichter und schneller zu ermöglichen“.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt wollte im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“von Erleichterungen beim Familiennachzug hingegen nichts wissen: „Für die Gespräche mit der SPD gilt unser Regelwerk zur Migration von CDU und CSU“, stelle er klar. Wenn die SPD den Familiennachzug für die 300 000 subsidiär Geschützten in Deutschland wieder ermöglichen wolle, bedeute dies „neue Zuwanderung und eine völlige Überforderung der Integrationsfähigkeit Deutschlands. Das würde zusätzlich die AfD weiter stärken. Das kann auch die SPD nicht wollen.“Hier das geschlossene Nein, dort Signale des Entgegenkommens – es zeigen sich erste Risse in der Abwehrmauer der Christsozialen. CDU-Schwergewicht Laschet hatte sich für einen „behutsamen Ausgleich“zwischen der Begrenzung von Zuwanderung einerseits und Nachzugserleichterungen in humanitären Fällen andererseits starkgemacht. Dies sei „eine gute Formel, die eine Lösung bringen könnte“, wollte er CSU und SPD eine Brücke bauen. Aber auch die SPD reagierte skeptisch. „Die Union muss sich ganz sicher bewegen. Wir rücken nicht vom Asylrecht oder der Genfer Flüchtlingskonvention ab“, sagte Parteivize Thorsten Schäfer- Gümbel der „Schwäbischen Zeitung“. „Was unser Land braucht, sind kräftige Investitionen in Bildung, bezahlbaren Wohnraum und Arbeit – auch weil all das die Integration erleichtert. Da reichen keine Sprachregelungen, da braucht es Bewegung in der Sache.“SPD-Vize Ralf Stegner warf Laschet ein „PR-Geklingel als Annäherung“vor, weil dessen Vorschlag den meisten Familien nicht helfe.
Gabriel greift zur großen Keule
Ob es vorangeht bei Schwarz-Rot, ist nach einer neuen Attacke fraglicher denn je: Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) griff im Ringen um die Große Koalition am Mittwoch zur großen Keule. Er stellte Kanzlerin Merkel und ihrer Union klare Bedingungen: „Wenn das Kanzleramt alle Vorschläge zur EUReform weiterhin ablehnt wie bisher, wird es keine Koalition mit der SPD geben“, lautete seine Ansage. „Und klar ist auch: Wenn die Union darauf besteht, dass gesetzlich Versicherte schlechter behandelt werden als Privatversicherte, dann macht es ebenfalls wenig Sinn, Koalitionsgespräche zu führen.“Jamaika sei auch daran gescheitert, dass die Union nicht sage, wofür sie eigentlich regieren wolle, so die verbale Ohrfeige an die Kanzlerin. An CDU und CSU richtete Gabriel die Forderung: „Die müssen mal aus ihrer Deckung kommen.“Der Hintergrund: Von höheren Steuern für Reiche über die Bür-
gerversicherung, von mehr Europa bis zu stabilen Renten – stets war es in den vergangenen Wochen die SPD, die Forderungen auf den Tisch legte. Die Union beschränkte sich aufs Abwinken.
Viele fragen sich, wann Merkel aus der Deckung kommt, wann die Kanzlerin die Regie übernimmt, die Richtung vorgibt und eigene Vorschläge präsentiert. Der Countdown läuft, am kommenden Mittwoch treffen sich die Partei- und Fraktionsspitzen von CDU, CSU und SPD, um die heiße Sondierungsphase vom 7. bis zum 12. Januar vorzubereiten. Auch wenn es dabei zu einer Einigung kommen sollte, dürfte eine neue Regierung nicht vor Ende März stehen.