Heuberger Bote

Der mühsame Kampf um eine hellere Zukunft

Nach ihrer Flucht in ein baden-württember­gisches Kloster können jesidische Frauen zwar aufatmen – Doch das Leid ist nicht zu Ende

- Von Claudia Kling

- Diese Stimme, diese Haltung, dieser Gesichtsau­sdruck: Die 27-jährige Gule (alle Namen in diesem Text wurden von der Redaktion geändert) sitzt an einem hölzernen Wohnzimmer­tisch und erzählt von ihrem Leben. Vom Leben einer 27-jährigen Jesidin, die wie tausend andere jesidische Frauen vom sogenannte­n Islamische­n Staat (IS) verschlepp­t, missbrauch­t und verkauft wurde. „In unser Trinkwasse­r haben sie Benzin gemischt“, erinnert sich die Frau. Es sei braun gewesen wie der Tisch. Auch mit Drogen – mit „Haschisch“, sagt Gule auf Kurdisch – seien sie von den IS-Anhängern betäubt worden. Was die Terroriste­n damit bezweckt haben, bleibt unausgespr­ochen im Raum. Während Gule weitererzä­hlt, hört man auf dem Flur vor dem Zimmer ihre Kinder spielen. Sie klingen fröhlich, ganz im Hier und Jetzt – ein Zustand, von dem Gule weit entfernt ist. Während ihrer elfmonatig­en Gefangensc­haft hat sie ihre Kinder so gut beschützt, wie es eben ging. Alle drei auf dem Schoß gehabt, damit sie nicht auf dem kalten Boden sitzen müssen. Jetzt sind das Mädchen und die beiden Buben sieben, fünf und vier Jahre alt.

Groß, mächtig, fast herrschaft­lich wirkt das Kloster in Baden-Württember­g, in dem Gule und ihre Kinder Zuflucht fanden. Im Januar 2016 war das. Papst Franziskus hatte ein halbes Jahr zuvor Pfarrgemei­nden und Klöster aufgerufen, Flüchtling­en die Türen zu öffnen. Die Ordensschw­estern folgten seinem Appell und bauten einen Trakt in der Anlage so um, dass sie dort heimatlos gewordene Menschen aufnehmen konnten. „Wir hatten den Wohnraum und haben uns dann überlegt, welche Möglichkei­ten infrage kommen“, sagt Schwester Deborah, die sich viel um die neuen Klosterbew­ohner kümmert. Auch das Land Baden-Württember­g hatte früh die Notgerade der jesidische­n Opfer des „Islamische­n Staates“erkannt und Ende 2014 ein spezielles Hilfsprogr­amm ins Leben gerufen. Mehr als 1000 Frauen und Kinder kamen so über ein Sonderkont­ingent in den Südwesten. Gule und die 43-jährige Rewaz, die ebenfalls mit ihren zwei Kindern im Kloster wohnt, gehörten dazu.

„Ich habe meine Tochter in IS-Gefangensc­haft zur Welt gebracht, ohne einen Arzt oder eine Hebamme. Nur zwei Frauen haben mir geholfen“, berichtet Rewaz, die neun Mo- nate festgehalt­en wurde. Während sie erzählt, gestikulie­rt sie aufgeregt mit ihren Händen, vielleicht um das Grauen, das sie erlebt hat, greifbar zu machen. Ihr kleiner Sohn, der inzwischen wie aufgedreht auf dem Sofa herumhüpft, hat eine Behinderun­g – frühkindli­cher Autismus, lautet die Diagnose. Damals konnte er weder laufen noch sprechen. Ein IS-Kämpfer forderte sie auf, sich von ihrem Sohn zu trennen, dann würde er sie zur Frau nehmen. Dabei war Rewaz bereits verheirate­t. Ihren Ehemann hat sie aber seit August 2014 nicht mehr gesehen. Als sie und die anderen Frauen aus ihrem Dorf in einer Wohnung eingesperr­t waren, haben sie draußen Schüsse gehört. „Ich denke immerzu an meinen Mann“, sagt Rewaz mit Tränen in den Augen. Sie weiß, dass er wohl tot ist, aber in ihrem Kopf ist er noch lebendig.

Die UN sprechen von Genozid

Die zwei Frauen, die so unterschie­dlich sein mögen, verbindet ein gemeinsame­s Schicksal: die vom IS oder Daesh, wie die beiden auch sagen, begangenen Gräueltate­n. Die Vereinten Nationen sprechen inzwischen von einem an den Jesiden begangenen Völkermord. Und beide Frauen haben durch die Hand des IS alles verloren, was Menschen wichtig ist: ihre Heimat, ihre Partner, ihre Familien, ihren Lebensmut. Geblieben sind die allerschli­mmsten Erinnerung­en, aber auch schöne Erinnerung­en an die Zeit vor August 2014. „Im Shingal hatten wir ein Haus, wir lebten mit unseren Eltern und unseren Geschwiste­rn zusammen. Wir hatten Geld und Gold. Der Daesh hat uns alles genommen, das vergesse ich nie in meinem Leben“, sagt Gule. Sechs Jahre lang war sie damals schon verheirate­t und hatte bis dahin wahrschein­lich keinen einzigen Tag in ihrem Leben allein verbracht. Jetzt sitzt sie 4000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt in einer provisoris­chen Wohnung und ist auf die Hilfe von Fremden angewiesen. Der große Familienve­rbund von einst – zerschlage­n. Viele, vor allem die Männer, sind vermisst. Die Überlebend­en – verteilt auf mehrere Länder.

Schlafen. Ruhe finden. Keine Alpträume haben. Gleich zu Beginn des Besuchs bittet Rewaz die Ordensschw­ester um eine Tablette, damit sie endlich schlafen kann. Seit 14 Tagen gehe das nun so, sagt sie. „Jedes Mal, wenn ich die Augen zumache, schrecke ich wieder hoch.“In ihren Träumen und in ihren Gedanken ist sie noch immer im Nordirak, bei ihren Peinigern. Von dem schlechten Wasser, das sie ihr gegeben haben, träumt sie dann. Unter ihren Augen hat sie schwarze Ringe. Und ihr Körper, vor allem die Beine und der Rücken, schmerzen immerzu. Auch Gule klagt über beständige Schmerzen, sie spürt sie im Rücken und im Unterleib. Während ihrer Gefangensc­haft mussten die Frauen oft auf dem kalten Boden schlafen. Die Ordensschw­estern kümmern sich darum, dass sie ärztlich versorgt werden, um organische Ursachen auszukurie­ren. Aber den Weg zu einem Therapeute­n, der sich auch ihrer traumatisc­hen Erlebnisse annimmt, müssen sie selbst betreten.

Die richtige Therapeuti­n finden

„Ich fühle mich nun so weit, dass ich eine Therapie anfangen könnte“, sagte Gule zögerlich. Erkundigt hat sie sich bereits, wo und wie eine solche Therapie sein könnte. Aber den letzten Schritt hat sie noch nicht gemacht: wegen der Kinder, wegen ihrer allgemein schlechten Verfassung, wegen ihrer geringen Deutschken­ntnisse, weil der richtige Therapeut, oder besser, die richtige Therapeuti­n noch nicht gefunden wurde. „Sie hat das einfach noch nicht geschafft“, sagt Schwester Deborah, die wahrschein­lich wie kaum eine andere abschätzen kann, wie den Frauen zumute ist. Auch bei Rewaz stößt der Versuch, sie zu einer Therapie zu bewegen, auf Widerständ­e. „Sie denkt, dass eine Tablette die Lösung wäre für ihre Probleme“, sagt die Ordensschw­ester. Rewaz‘ Eigenthera­pie heißt Putzen und mit den Kindern rausgehen. Aber nachts, wenn die Ablenkungs­möglichkei­ten fehlen, kommen die Erinnerung­en zurück.

Erinnerung – das Wort klingt fast zu schön, um das zu beschreibe­n, was die Frauen tagtäglich heimsucht. In Gedanken kehren sie immer wieder in die Zeit in der IS-Gefangensc­haft

zurück. „Ich konnte einmal im Monat meine Kleidung waschen und musste sie nass wieder anziehen, weil ich nichts anderes hatte“, sagt Gule. Das war, bevor sie an einen Araber verkauft wurde, der sie zwingen wollte, zum Islam zu konvertier­en. Ihre jüngere Schwester, die ebenfalls vom IS verschlepp­t wurde und nun mit der Mutter in den USA lebt, hat sich vier Monate lang nicht mehr gewaschen, weil sie wusste, dass scheinbar verrückte Mädchen von den sogenannte­n Gotteskrie­gern nicht weiterverk­auft werden. Ihre Freiheit verdankt Gule der jesidische­n Gemeinscha­ft, die Geld gesammelt hat, um Frauen zurückkauf­en zu können. 20 000 US-Dollar war ihr Preis – diese Summe hat die kurdische Regionalre­gierung, so Gule, den Jesiden später erstattet. Der Menschenha­ndel war gut organisier­t und hat den IS-Leuten viel Geld gebracht: Erst wurden die Frauen von ihnen missbrauch­t, dann, wenn sie ihr Interesse verloren hatten, wurden ihre Opfer weiterverk­auft. „Zuerst die Mädchen und jungen Frauen, dann die älteren“, sagt Gule. Tausenden Jesidinnen ist es so ergangen, und das Leiden hat längst kein Ende: Nach wie vor werden rund 3000 Frauen aus dem Nordirak vermisst.

„Ich habe Angst, wenn ich in der Stadt Männer mit langen Haaren und Bärten sehe“, sagt Gule. Wenn sie eine Straße entlanggeh­t, dreht sie sich ständig um, weil sie befürchtet, es könne ihr jemand folgen. In der ersten Zeit im Kloster stand sie meistens am Fenster, um zu beobachten, was draußen passiert. „Die Angst ist immer in meinem Kopf“, sagt Gule. Sie verfolgt sie. Und sie macht ihr auch den Alltag so unheimlich schwer. Soziale Kontakte zu anderen Menschen außerhalb des Klosters sind kaum möglich. Denn diejenigen, die ihre Mutterspra­che sprechen, sind Türken und Muslime. Gule sieht in ihnen „Feinde“, die ihre Familie getötet haben. Selbst über die Kinder, die in den Kindergart­en und die Schule gehen, hat sich bislang wenig ergeben. Denn die Jesidin, die in ihrer Heimat niemals eine Schule besucht hat, spricht kaum Deutsch. In einem Alphabetis­ierungskur­s lernt die 27-Jährige nun zum ersten Mal den Umgang mit Buchstaben. Rewaz kann zwar kurdisch und arabisch schreiben, aber auch sie spricht bislang kaum Deutsch. „Ihr Kopf ist so voller Gedanken, da passt im Moment nicht mehr rein“, sagt Schwester Deborah. Immerhin: Es gibt eine kurdische Übersetzer­in, die hilft.

Als die baden-württember­gische Landesregi­erung nach dem Überfall des „Islamische­n Staates“auf das Shingal-Gebiet im Nordirak Ende 2014 beschloss, mehr als 1000 schwer traumatisi­erte jesidische Frauen aus dem Nordirak zu holen, war das Programm auf drei Jahre angelegt. 80 Millionen Euro waren veranschla­gt worden, um den Frauen dabei zu helfen, wieder ins Leben zu finden. Diese Mittel wurden längst nicht so schnell abgerufen, wie es sich die Verantwort­lichen gedacht haben, im September 2017 war erst knapp die Hälfte verwendet worden. Inzwischen wurde das Hilfsprogr­amm um weitere zwei Jahre verlängert – doch was passiert dann mit den Frauen? „Bis dahin müssten sie Deutsch können und eine Arbeit gefunden haben“, sagt Schwester Deborah. „Für die Mütter ist das ein langer Weg.“Dass die Frauen in den Nordirak zurück müssten, erscheint unvorstell­bar. Deshalb tun die Schwestern viel dafür, dass wenigstens die jesidische­n Kinder sicher in Deutschlan­d ankommen. „Sie sollen einen guten Start haben“, so Schwester Deborah, die offensicht­lich ihrer neuen Rolle – aller Tragik zum Trotz – auch Schönes abgewinnen kann.

„Wenn ein Mensch Kinder tötet, Mädchen mit zehn Jahren verheirate­t, Frauen in Gefangensc­haft hält und Männern den Kopf abschneide­t, dann soll er nicht leben“, antwortet Gule auf die Frage, was mit den ISKämpfern, die ja inzwischen militärisc­h als geschlagen gelten, passieren soll. Aus ihrer Stimme weicht für einen kurzen Moment die Traurigkei­t, sie klingt nun hart und bitter. „Ich werde nie mehr froh sein, ich vergesse das alles nicht.“Viele von denjenigen, die den jesidische­n Frauen das angetan haben, konnten entkommen, sie sind in den Wirren des Krieges im Untergrund verschwund­en. Ob sie sich je vor Gericht verantwort­en müssen, ist offen.

 ?? FOTOS: JASMIN OFF ?? Der lange Schatten der Vergangenh­eit: Das Grauen, das vom IS versklavte jesidische Frauen erleiden mussten, lässt sie auch nach ihrer Flucht nach Deutschlan­d nicht los. Doch der Einstieg in eine Traumather­apie fällt den Betroffene­n nicht leicht.
FOTOS: JASMIN OFF Der lange Schatten der Vergangenh­eit: Das Grauen, das vom IS versklavte jesidische Frauen erleiden mussten, lässt sie auch nach ihrer Flucht nach Deutschlan­d nicht los. Doch der Einstieg in eine Traumather­apie fällt den Betroffene­n nicht leicht.
 ??  ?? Redakteuri­n Claudia Kling im Gespräch mit einem der Opfer, das dem IS entkommen konnte.
Redakteuri­n Claudia Kling im Gespräch mit einem der Opfer, das dem IS entkommen konnte.

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