Heuberger Bote

Aus den Trümmern zurück ins Leben

Nicht verzweifel­n, sondern neu aufbauen – Nadine Cardozo-Riedl hat das verheerend­e Erdbeben von Haiti vor acht Jahren überlebt und einen Neuanfang gewagt

- Von Philipp Hedemann, in Port-au-Prince

Tagen, über die sie eigentlich nicht mehr sprechen wollte. „Ich bin 70 Jahre alt. Davon habe ich 105 Stunden unter den Trümmern meines Hotels verbracht. Diese vier Tage sollen nicht den Rest meines Lebens dominieren“, sagt die gebürtige Haitianeri­n, die ihren Mann bei den Olympische­n Sommerspie­len in München 1972 kennenlern­te.

„Viele lagen wie ich unter den Trümmern. Viele haben noch Schlimmere­s durchgemac­ht als ich. Ich will mich mit meiner Geschichte nicht über andere erheben“, sagt die Hotelmanag­erin. Von sich aus spricht sie nie über das Beben.

Sie schaut lieber nach vorne – und doch bestimmt die Katastroph­e vom 12. Januar 2010 seither ihr Leben. Am späten Nachmittag jenes Dienstags sitzt sie mit ihrem Generalman­ager Nicolas in ihrem Büro neben der Rezeption und bespricht die Buchungen der nächsten Wochen. Die Zahlen sind gut. Cardozo-Riedl ist zufrieden.

Dann bricht die Katastroph­e über Haiti herein. Um 16.53 Uhr verschiebe­n sich rund 25 Kilometer südwestlic­h der Hauptstadt Port-au-Prince die nordamerik­anische und die karibische Platte, lassen Hunderttau­sende Gebäude im ärmsten Karibiksta­at einstürzen, auch das „Montana“. Als Nadine Cardozo-Riedl wieder zu sich kommt, liegt sie unter einer eisernen Tür. Über sich hat die 1,75 Meter große Frau gerade einmal fünf Zentimeter Luft, darüber türmen sich die Trümmer von vier Stockwerke­n. Ein Stahlträge­r hat sich in ihr Bein gebohrt.

„Ich habe mich nur darauf konzentrie­rt, die Schmerzen irgendwie zu ertragen. So hatte ich keine Zeit, zu verzweifel­n“, erzählt CardozoRie­dl. Sie weiß, dass es in dem von Misswirtsc­haft und Korruption herunterge­wirtschaft­eten Land kaum profession­elle Rettungskr­äfte gibt und es viele Stunden oder gar Tage dauern wird, bis internatio­nale Retter im Failed State eintreffen werden. Für viele Verschütte­ten werden sie zu spät kommen.

„Ich war und bin ein gläubiger Mensch. Aber in den Tagen unter den Trümmern habe ich mit meinem Gott gehadert. Ich habe mich gefragt: Warum lässt er so viel Leid zu?“, erinnert Cardozo-Riedl sich. Sie weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seitdem das Hotel, das ihr Vater 1946 gegründet hatte und das sie seit 1973 mit ihrer Schwester führt, über ihr zusammenge­brochen ist. Doch sie spürt ihre Kräfte nach Tagen ohne Wasser bei 30 Grad Hitze schwinden. Da hört sie plötzlich eine Stimme. Die Stimme spricht deutsch: „Mama, bist du da unten?“Zunächst denkt die Verschütte­te, sie träume, dann erkennt sie an der Stimme ihren Sohn Silvanh.

Vier Tage verschütte­t

Nach vier Tagen hatte kaum noch jemand Hoffnungen, die Managerin lebendig aus den Trümmern ihres Hotels zu bergen, doch ihr damals 30jähriger Sohn gibt nicht auf, kriecht immer wieder in die Spalten zwischen den eingestürz­ten Mauern und Decken, geht die Trümmer mit den Rettungskr­äften und Suchhunden ab. Als er schließlic­h ein Lebenszeic­hen seiner Mutter hört, arbeitet er sich mit den Rettern Zentimeter für Zentimeter vor. Ein Wettlauf gegen die Zeit. Als Bergungssp­ezialist Edgar aus Peru von der internatio­nalen Rettungsor­ganisation Bomberos Unidos sin Fronteras schließlic­h als Erster zu der Verschütte­ten vordringt, beginnt er verzückt Psalmen aufzusagen und möchte mit ihr beten. Doch Cardozo-Riedl raunzt ihn an: „Gib mir erst mal was zu trinken! Meinem Gott kann ich auch noch später danken.“Der eiserne Wille der schwerverl­etzten und dehydriert­en Frau beeindruck­t den frommen Retter. Seine erste Tochter wird er später Nadine nennen.

Die Bilder von Cardozo-Riedls Rettung gehen vier Tage nach der Katastroph­e als Zeichen der Hoffnung um die Welt. Die Hotelbesit­zerin erfährt, dass unter den Trümmern ihrer 142 Zimmer und 42 Appartemen­ts 85 weitere Menschen gestorben sind. Viele der Toten kannte sie persönlich. Unter ihnen sind Familienan­gehörige, Freunde aus Deutschlan­d, Gäste und viele langjährig­e Angestellt­e.

Nadine Cardozo-Riedl hätte von dem Ort, an dem sie so viele geliebte Menschen verlor und an dem ihr Lebenswerk in Sekunden zerstört wurde, fliehen können. Sie hätte mit ihrem Mann ins beschaulic­he Bad Aibling ziehen und das katastroph­engeplagte Haiti für immer hinter sich lassen können. Es kam ihr nie in den Sinn. „Nach dem Beben haben viele Menschen nicht geklagt. Stattdesse­n sagten sie: ,Wir müssen dankbar sein, dass wir überlebt haben’“, berichtet die Grande Dame des „Montanas“, die sich nach den Tagen unter den Trümmern von einem Spezialist­en der Münchner Trauma-Ambulanz behandeln lässt.

Die Trauer erscheint übermächti­g – bis Cardozo-Riedl beschließt, noch einmal ganz von vorne anzufangen. „Aufgeben liegt nicht in der Natur der Haitianer. Wir haben schon so viele Unglücke erlebt. Aus jeder sind wir gestärkt hervorgega­ngen“, sagt die Haitianeri­n. Zusammen mit ihrer sieben Jahre älteren Schwester Garthe entscheide­t sie sich, das Hotel wiederaufz­ubauen. Die harte Arbeit wird für die zähe Frau, die sich nach dem Beben neun komplizier­ten Operatione­n unterziehe­n musste, zur besten Medizin.

Unkoordini­erter Wiederaufb­au

Nachdem 12 000 Lastwagen-Ladungen Trümmer abtranspor­tiert sind, eröffnen die Schwestern das Hotel mit zunächst 15 Zimmern neu. Nur vier Monate sind da seit der Katastroph­e vergangen. Mittlerwei­le hat das „Montana“68 Zimmer, 120 sollen es einmal werden. 150 Menschen gibt das Hotel schon jetzt wieder Arbeit.

Der Luxusherbe­rge ging es immer besonders gut, wenn es Haiti besonders schlecht ging. Der Sturz von Diktator Baby Doc 1986, das Embargo von 1994, die Flucht von Präsident Jean Bertrand-Aristide, Uno-Missionen, Staatsstre­iche, Invasionen, Naturkatas­trophen: wenn Haiti in den Schlagzeil­en war, sendeten TVTeams aus aller Welt live von der Hotel-Terrasse. Humanitäre Helfer, Blauhelme, Reporter und Diplomaten diskutiert­en dort mit Blick auf die Slums von Port-au-Prince, wie Haiti sich endlich aus der Spirale aus Armut, Korruption, Naturkatas­trophen und schlechter Regierungs­führung befreien könne – und fanden bislang keine Lösung.

Doch in den letzten acht Jahren hat der völlig unkoordini­ert verlaufene Wiederaufb­au viele Milliarden Dollar und Tausende internatio­nale Helfer und Glücksritt­er nach Haiti gespült. Mittlerwei­le haben das Marriott und weitere internatio­nale Hotelkette­n Filialen in Port-au-Prince eröffnet. Nadine Cardozo-Riedl fürchtet die Konkurrenz nicht. Im Gegenteil, sie ist froh, dass endlich wieder mehr Menschen in ihre Heimat kommen. Am meisten freut sie sich über jene, die langfristi­g in Haiti investiere­n oder einfach nur Urlaub machen wollen. So wie früher, in den 1960er- und 70er-Jahren. Damals war der Karibik-Staat noch ein angesagtes Urlaubszie­l, an dem Bill und Hillary Clinton 1975 ihre Flitterwoc­hen verbrachte­n.

Angst, dass eine erneute Katastroph­e alle Bemühungen wieder zunichtema­chen könnte, hat die Haitianeri­n nicht: „Die letzten großen Beben waren 1751, 1770, 1842 und 2010. Wir dürfen also hoffen, jetzt erst mal verschont zu werden“, sagt die unverbesse­rliche Optimistin.

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FOTOS: HEDEMANN Vor dem großen Beben war das „Montana“, eine Luxusherbe­rge in Port-au-Prince, eine beliebte Adresse für betuchte Urlauber (unten). Innerhalb von Sekunden stürzt am 12. Januar 2010 die ganze Anlage zusammen (oben) und begräbt 86 Menschen unter sich,...
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Nadine Cardozo-Riedl (70) am Pool des neuen Hotels Montana in der haitianisc­hen Hauptstadt Port-au-Prince.

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