Heuberger Bote

Auf freiem Fuß, aber noch nicht frei

Mesale Tolu wartet in Istanbul auf ihren Gerichtste­rmin – Sie ist bewegt von der Solidaritä­t in Deutschlan­d und sehnt sich nach Ulm

- Von Susanne Güsten

- Der kleine Serkan wimmert im Halbschlaf und umklammert die Hand seiner Mutter, die ihren Arm deshalb nicht aus dem Kinderwage­n ziehen kann. „Anders kann er nicht schlafen“, sagt Mesale Tolu entschuldi­gend. „Er hat immer noch Angst, dass wir wieder verschwind­en.“Ihr Ehemann Suat schaukelt den Kinderwage­n etwas, damit der Dreijährig­e sich beruhigt. Keinen Augenblick lassen die Eltern ihn mehr alleine, seit sie aus dem Gefängnis entlassen wurden – Suat vor sechs Wochen und Mesale vor dreieinhal­b Wochen. Nur zu dritt gehen sie aus dem Haus, damit der Kleine sicher sein kann, dass Mama und Papa beide da sind. „Wir müssen unsere Familie jetzt erstmal wieder aufbauen“, sagt Mesale, die acht Monate im Gefängnis gesessen hat und neun Monate lang durch Gefängnism­auern von ihrem Mann getrennt war.

Vorläufig hat sich die Familie Tolu deshalb wieder in der Wohnung im asiatische­n Stadtteil Kartal von Istanbul niedergela­ssen, wo Mesale Tolu bei ihrer Verhaftung am 30. April vergangene­n Jahres der damals zweieinhal­bjährige Serkan aus den Armen gerissen wurde. Viele Ausflüge unternehme­n sie von dort mit Serkan: auf den Spielplatz, auf die Prinzenins­eln, zum Fahrradfah­ren und selbst zum Ponyreiten waren sie mit dem Jungen neulich. „Wir dürfen ihn natürlich auch nicht verwöhnen“, sagt Mesale Tolu und lacht. Aber der Nachholbed­arf ist groß. „Wir brauchen die Zeit, um uns wiederzufi­nden.“

Nichts ist sicher in diesen Tagen

Viel mehr können die Tolus derzeit ohnehin nicht machen. Arbeiten können sie nicht, weil der Sohn sie nicht aus den Augen lassen will. Und nach Deutschlan­d zurück können sie nicht, weil beide Ausreiseve­rbot haben, solange ihre Gerichtsve­rfahren andauern. „Ich bin auf freiem Fuß, aber frei bin ich noch nicht“, sagt Mesale. Ihre Wohnung in Neu-Ulm bleibt deshalb weiter leer; der Kindergart­enplatz für Serkan bleibt reserviert, aber vorläufig unbesetzt. Im März hat Suat den nächsten Gerichtste­rmin, am 26. April steht Mesale wieder vor Gericht. Beide hoffen, dass die Ausreisesp­erre dann aufgehoben wird, wie es in vergleichb­aren Fällen für andere Angeklagte der Fall war, aber sicher ist in diesen Tagen nichts.

Fest steht für Mesale Tolu aber, wo ihre Heimat ist und wo sie leben will, sobald das Ausreiseve­rbot aufgehoben wird. Einen Herzenswun­sch hat ihr schon ein Freund erfüllt, der neulich aus Deutschlan­d zu Besuch kam und frische Brezen mitbrachte. Aber inzwischen ist sie schon ein Jahr fort aus ihrer Geburtssta­dt, und sie hat Heimweh nach Ulm. „Dieser Alltag in Deutschlan­d: kurz zum Bäcker und dann Kaffee zur Brezel – oder nachmittag­s Kaffee und Kuchen“, schwärmt sie. „Und diese Ruhe in Ulm, die Herzlichke­it – das fehlt mir sehr.“

Mehr denn je zuvor fühlt sich Mesale Tolu als Ulmerin, seit sie die Welle von Solidaritä­t erlebt hat, die aus ihrer Heimatstad­t bis in die türkische Gefängnisz­elle rollte und sie durch die schweren Tage der Haft getragen hat. Anfangs wusste sie nicht einmal davon, bis das deutsche Konsulat sich nach einigen Wochen den Zugang zu ihr verschaffe­n konnte und den Kontakt herstellte. Wöchentlic­h brachten ihr die Konsularbe­amten fortan Berichte von den Solidaritä­tsaktionen in Ulm ins Gefängnis, auch Post erhielt sie dann: Briefe von ihren früheren Lehrern und Mitschüler­n, von Freunden und von deren Eltern und sogar Postkarten von unbekannte­n Mitbürgern. Tief bewegt haben sie diese Briefe, Postkarten und Aktionen, sagt Mesale Tolu. „Wenn man in der Fremde eingesperr­t ist, in einem anderen Land, dann tut es gut zu wissen, dass die eigene Stadt einen so ins Herz geschlosse­n hat.“

Besonders stolz habe es sie gemacht, dass das Anna-EssingerGy­mnasium sie als Absolventi­n des Wertekanon­s gewürdigt habe, der dort in Erinnerung an die Reformpäda­gogin gelehrt wird, die jüdische Kinder gegen das Dritte Reich verteidigt­e.

Identität als Deutsche

Die Türkei habe wohl nicht damit gerechnet, dass Deutschlan­d so stark für seine Bürger mit Migrations­hintergrun­d eintreten werde, meint Mesale Tolu, das mache ihr Mut: „Dass eine kleine Stadt wie Ulm aufgestand­en ist und sich hinter mich gestellt hat, das zeigt, dass sich da etwas geändert hat.“Dass die deutsche Gesellscha­ft sich nicht nur mit dem urdeutsche­n Menschenre­chtler Peter Steudtner solidarisi­ert habe, als der in der Türkei eingesperr­t wurde, sondern auch mit dem deutsch-türkischen Journalist­en Deniz Yücel und ihr selbst, „das bestätigt uns auch“in der Identität als Deutsche, sagt Tolu. „Wenn man sich so von der Heimat ins Herz geschlosse­n fühlt, dann weiß man: Ich sehe nicht nur Deutschlan­d als meine Heimat, sondern Deutschlan­d nimmt mich auch an.“

Ungeduldig wartet sie nun auf die Ausreiseer­laubnis, damit Serkan nicht noch mehr Zeit verliert und möglichst bald in Ulm in den Kindergart­en gehen kann. Denn eines steht für sie felsenfest: „Ich will, dass mein Sohn in Deutschlan­d aufwächst und seine Bildung dort erfährt.“Mesale selbst hat in Ulm das Abitur gemacht und dann in Frankfurt Spanisch und Philosophi­e studiert, um Lehrerin zu werden – dann aber vor allem Gefallen an den Sprachen gefunden hat. Türkisch radebrecht­e sie als Kind zwar nur, weil sie auf Deutsch erzogen wurde, polierte es aber schon vor dem Abitur im Selbststud­ium so gut auf, dass sie – anders als viele Deutsch-Türken – in der Türkei nicht damit auffällt. Englisch beherrscht­e sie schon in der Schule gut, Spanisch kam im Studium dazu, und so verfiel sie darauf, als Übersetzer­in zu arbeiten.

Eine Gelegenhei­t ergab sich nach der Heirat in Frankfurt, als ihr Ehemann sich 2014 für ein Jahr freiwillig zum Wahlkampf der Kurdenpart­ei HDP in der Türkei meldete. Es waren hoffnungsv­olle Tage in der Türkei: Die Regierung verhandelt­e damals mit den Kurden über einen dauerhafte­n Frieden, und die HDP setzte zum Einzug ins Parlament und vielleicht sogar zur Koalition mit der Regierungs­partei AKP an. Mesale Tolu fühlte sich auch angesproch­en, schließlic­h ist sie selbst kurdischer Abstammung: Ihre kurdischen Großeltern emigrierte­n aus dem osttürkisc­hen Maras nach Ulm, und auch ihre Eltern sprachen Kurdisch noch als Mutterspra­che. „Wenn die Familie seit Jahrzehnte­n diese Unterdrück­ung erlebt hat, dann ist einem das schon bewusst, auch wenn man in Deutschlan­d aufwächst“, sagt Mesale Tolu. „Und Diskrimini­erung als Türkin erfährt man als Kurdin auch in Deutschlan­d.“

Tolu war damals schwanger, pendelte zwischen ihrer Familie in Ulm und ihrem Mann in Istanbul und begann, bei ihren Besuchen in der Türkei für die linke Nachrichte­nagentur ETHA zunächst Artikel aus der Weltpresse zu übersetzen und dann auch eigene Interviews zu führen. Die HDP zog 2015 tatsächlic­h triumphal ins Parlament ein, doch danach ging es schnell bergab. Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan ließ die Wahl annulliere­n, die politische Gewalt eskalierte.

Geschockt, aber nicht zerbrochen

Mesale Tolu sah es zwar geschehen, fühlte sich aber nicht gefährdet. „Ich hätte mir nie im Leben gedacht, dass ich mal inhaftiert werden kann“, erzählt sie. „Weil ich anders aufgewachs­en bin; in einem Land, wo freie Meinungsäu­ßerung der höchste Wert ist – und dann war ich in einem Land, wo das auf einmal zum Verbrechen wurde.“Das habe sie natürlich schockiert. Zerbrochen sei sie aber nicht daran, fügt sie stolz hinzu.

Nun richtet sich ihr Blick nach vorne, auf den nächsten Gerichtste­rmin und auf den Freispruch, für den sie weiter kämpfen will. „Wenn ich dann zurück bin in Ulm, dann will ich sofort in die Innenstadt und einfach nur dort herumlaufe­n“, sagt sie. „Und an der Donau spazieren gehen.“

Eine Bitte hat sie vorher noch an ihre Landsleute: „Bitte tut weiterhin nicht wegsehen, sondern hinschauen“, sagt sie mit Blick auf die vielen türkischen Journalist­en, die weiterhin hinter Gittern sitzen – weit über 100 an der Zahl. Viele Menschen in Deutschlan­d hätten ihretwegen vielleicht erstmals eine Postkarte in ein türkisches Gefängnis geschickt und ihr damit viel Mut gemacht, sagt Mesale Tolu. „Ich wünsche mir, das würde man weiterführ­en.“

„Ich sehe nicht nur Deutschlan­d als meine Heimat, sondern Deutschlan­d nimmt mich auch an.“

Mesale Tolu

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FOTO: SUSANNE GÜSTEN Mesale Tolu in Istanbul. „Diese Ruhe in Ulm, die Herzlichke­it – das fehlt mir sehr“, sagt die Journalist­in.

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