Europa als gewichtiger Grund
Sondierer ringen um Ergebnis, die Wähler sehen schon den Anfang vom Ende
BERLIN - Bis zur letzten Minute halten die Appelle an, sich in Berlin auf eine Große Koalition zu einigen. „Europa braucht Deutschland, und deshalb muss bald eine Regierung gebildet werden“, sagt BDI-Chef Dieter Kempf. Zumindest in diesem Punkt ist er sich mit SPD-Chef Martin Schulz völlig einig: „Wir werden in eine Regierung eintreten unter der Bedingung, dass diese Regierung Europa starkmacht“, sagt Martin Schulz.
„Für mich ist Europa nicht das Problem, sondern die Lösung“, so BDI-Chef Dieter Kempf. Die Debatte um die Zukunft der EU und insbesondere der Wirtschafts- und Währungsunion müsse mit einer starken Stimme aus Berlin vorangetrieben werden, fordert der BDI-Präsident. Schließlich seien die Deutschen der Anker für Europa, ihren Heimatmarkt.
Doch der Industrie-Chef nennt noch weitere Gründe, warum Deutschland endlich eine Regierung brauche. Einer der gewichtigsten für ihn: „Ein Viertel der Firmen hat noch immer keinen Zugang zu schnellem Internet. Dieser Zustand ist absolut inakzeptabel.“Und, das sagt Kempf auch, er habe einfach ein Problem damit, „Verantwortungstragung an die zurück zu delegieren, die gewählt haben“. Genau das fordern allerdings viele in der SPD, unter anderem der komplette Thüringer Landesverband: keine Große Koalition lautet die Devise.
Unter diesen erschwerten Bedingungen arbeiten die Sondierer in Berlin bis zur letzten Sekunde. Sachsen-Anhalts Regierungschef Reiner Haseloff spricht davon, „heiß und hart“zu diskutieren. Nach parteiinternen Beratungen nimmt sich im WillyBrandt-Haus in Berlin die sogenannte Sechserrunde der Parteichefs Angela Merkel, Martin Schulz und Horst Seehofer sowie der Fraktionschefs Volker Kauder (CDU), Andrea Nahles (SPD) und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt die Liste mit strittigen Themen vor. Nach dem Sondierungsabschluss waren Erklärungen von Merkel, Schulz und Seehofer vor der Presse geplant.
Doch auch in der letzten Runde gab es noch große Brocken wegzuräumen, das gestand Angela Merkel ein. „Ich darf für die CDU sagen, dass wir alles einbringen an Konstruktivität, um nötige Kompromisse zu finden. Die Menschen erwarten von uns, dass wir Lösungen finden, und in diesem Sinne werden wir arbeiten“, sagte die Kanzlerin.
Begrenzte Haltbarkeit
Neue Umfragen zeigen, dass viele Menschen aber nicht mehr allzu viel von ihr erwarten. Eine Mehrheit, so das Institut Infratest-Dimap, rechnet nicht mehr damit, dass Merkel noch bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleibt, selbst die Unionswähler glauben dies nicht. 56 Prozent der Bundesbürger gehen laut der repräsentativen Umfrage für das „Handelsblatt“davon aus, dass die 63-jährige Merkel ihr Amt noch vor dem Ende der nächsten Kanzler-Amtszeit im Jahr 2021 aufgeben wird. Auch die Amtszeit des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer wird bald beendet sein, wenn Markus Söder übernimmt. Und die Zukunft von SPD-Chef Martin Schulz gilt zumindest als unsicher. „Die drei fürchten nichts mehr als Neuwahlen“, sagt Linken-Chef Bernd Riexinger. Deshalb rechnet er mit einer Einigung auf kleinstem Nenner. Auffällig ist, dass es bei den GroKo-Sondierungen trotz der Kritik an Armin Laschet kein wirklich böses Wort über die jeweils anderen gab – ganz anders als bei Jamaika. Es wurde mit Samthandschuhen sondiert. Vielleicht trat Martin Schulz auch deshalb schon zu Beginn der Schlussrunde fröhlicher auf als zuvor. Er begrüßte Angela Merkel und Horst Seehofer in der Vorhalle des Willy-Brandt-Hauses. Schulz, der frühere Parlamentspräsident des Europäischen Parlaments, ist überzeugter Europäer, ihm liegt vor allem der neue Aufbruch für die Europäische Union am Herzen. „Macron hat bislang aus der Bundesrepublik keine Antwort erhalten“, so Schulz. „Wir brauchen in Zeiten des Auseinandersdriftens mehr Zusammenhalt.
Wer durch Erneuerung Zusammenhalt stärkt, hat die Chance, Vertrauen für Europa zurückzugewinnen.“
Ob die GroKo aber eine Chance erhält, das ist noch immer nicht entschieden. Selbst nach einer Einigung der Sondierer sollen am Freitag die Parteispitzen in Berlin weitertagen. Einen besonders schweren Weg hat dabei die SPD vor sich, die auch noch die Delegierten eines Sonderparteitagtags am 21. Januar überzeugen muss.