Es geht auch ohne Strom
Boysetsfire-Sänger Nathan Gray überzeugt auf seinem Soloalbum durch verletzliche Klänge
RAVENSBURG - Der Gitarrenhersteller Gibson warb vor Jahren für seine Akustikgitarren mit dem Slogan „No Distortion To Cover Your Ass“, was so viel bedeutet wie „Keine Verzerrung, hinter der man sich verstecken kann“– minus das vulgäre Wort für Gesäß. Die Kampagne traf einen Nerv, denn viele Künstler machen die Erfahrung, dass sie selbst verletzlicher und die Konzerte intimer wirken, wenn man die E-Gitarre zur Seite stellt und stattdessen die Akustische in die Hand nimmt.
Was das konkret bedeutet, lässt sich am neuen Soloalbum von Nathan Gray bestens nachvollziehen. Der US-Amerikaner dürfte den meisten vor allem als Sänger der 1994 gegründeten Posthardcore-Institution Boysetsfire bekannt sein. Doch „Feral Hymns“(End Hits Records) offenbart neue Facetten. Nehmen wir nur „Walk“: Das Stück beginnt einfach nur mit Nathans Gesang, einfach so, fast schon beschwichtigend und zart. Wo man Nathans Organ sonst oft als gewaltigen Fels in der Brandung der Gitarrenriffs seiner Mitmusiker wahrgenommen hat, darf der Hörer nun das Gefühl haben, die völlig unverfälschte Stimme des Sängers zu hören. Das funktioniert, weil man das Gefühl hat, dem Menschen Nathan Gray ein Stück näherzukommen.
Starke Songs
Doch es funktioniert vor allem auch, weil die Songs so stark sind, dass sie den Hörer auch ohne eine dicke Produktion im Rücken packen. Nathan Gray offenbart erneut seine Fähigkeit, eingängige, aber nicht platte Lieder zu schreiben. Acht der zwölf Stücke sind neu, etwa die sehr persönlich gehaltenen Nummern „Echoes“und „Burn Away“. Mit „Across Five Years“ist auch ein Song dabei, der ursprünglich von Boysetsfire stammt. Drei weitere Stücke entstanden, als Nathan Gray nach dem zeitweisen Ende von Boysetsfire zwischen 2007 und 2010 mit The Casting Out weiterrockte. Darunter beispielsweise „Quixote’s Last ...“, das live auch in dieser minimalistischen Version große Gefühle freisetzen dürfte. Wie bei einigen Stücken auf „Feral Hymns“gesellt sich hier eine angezerrte Gitarre dazu, doch durch das Fehlen von Bass und Schlagzeug wirkt auch dieses Minimum an Distortion nicht übertünchend. Stattdessen fügen sich Streicher ins Klangbild ein, so etwa in „Light & Love“, das auch die Hinwendung zu einer positiveren Lebenseinstellung illustriert. Denn vor zwei Jahren gab es Fans, die wegen wütender und allzu simpel gestrickter Facebook-Posts von Gray enttäuscht von ihm waren. Wütend ist der 45-Jährige immer noch, doch inzwischen richtet sich seine Wut gegen Donald Trump und die extreme Rechte in den USA. Zudem wirken die Social-Media-Nachrichten erwachsener, durchdachter und bestrebt, dem Hass von Trumps Amerika mehr Positivität entgegenzusetzen. Eine Entwicklung, die sich auch auf dem neuen Album widerspiegelt. Passend dazu ist der einzige Farbtupfer auf dem Schwarz-Weiß-Cover eine Rose. Nathan Gray, ein Blumenkind? Nein, keine Sorge, es ist nicht alles eitel Sonnenschein hier. Nur eben etwas ausgeglichener als zuvor.