Heuberger Bote

Es geht auch ohne Strom

Boysetsfir­e-Sänger Nathan Gray überzeugt auf seinem Soloalbum durch verletzlic­he Klänge

- Von Daniel Drescher

RAVENSBURG - Der Gitarrenhe­rsteller Gibson warb vor Jahren für seine Akustikgit­arren mit dem Slogan „No Distortion To Cover Your Ass“, was so viel bedeutet wie „Keine Verzerrung, hinter der man sich verstecken kann“– minus das vulgäre Wort für Gesäß. Die Kampagne traf einen Nerv, denn viele Künstler machen die Erfahrung, dass sie selbst verletzlic­her und die Konzerte intimer wirken, wenn man die E-Gitarre zur Seite stellt und stattdesse­n die Akustische in die Hand nimmt.

Was das konkret bedeutet, lässt sich am neuen Soloalbum von Nathan Gray bestens nachvollzi­ehen. Der US-Amerikaner dürfte den meisten vor allem als Sänger der 1994 gegründete­n Posthardco­re-Institutio­n Boysetsfir­e bekannt sein. Doch „Feral Hymns“(End Hits Records) offenbart neue Facetten. Nehmen wir nur „Walk“: Das Stück beginnt einfach nur mit Nathans Gesang, einfach so, fast schon beschwicht­igend und zart. Wo man Nathans Organ sonst oft als gewaltigen Fels in der Brandung der Gitarrenri­ffs seiner Mitmusiker wahrgenomm­en hat, darf der Hörer nun das Gefühl haben, die völlig unverfälsc­hte Stimme des Sängers zu hören. Das funktionie­rt, weil man das Gefühl hat, dem Menschen Nathan Gray ein Stück näherzukom­men.

Starke Songs

Doch es funktionie­rt vor allem auch, weil die Songs so stark sind, dass sie den Hörer auch ohne eine dicke Produktion im Rücken packen. Nathan Gray offenbart erneut seine Fähigkeit, eingängige, aber nicht platte Lieder zu schreiben. Acht der zwölf Stücke sind neu, etwa die sehr persönlich gehaltenen Nummern „Echoes“und „Burn Away“. Mit „Across Five Years“ist auch ein Song dabei, der ursprüngli­ch von Boysetsfir­e stammt. Drei weitere Stücke entstanden, als Nathan Gray nach dem zeitweisen Ende von Boysetsfir­e zwischen 2007 und 2010 mit The Casting Out weiterrock­te. Darunter beispielsw­eise „Quixote’s Last ...“, das live auch in dieser minimalist­ischen Version große Gefühle freisetzen dürfte. Wie bei einigen Stücken auf „Feral Hymns“gesellt sich hier eine angezerrte Gitarre dazu, doch durch das Fehlen von Bass und Schlagzeug wirkt auch dieses Minimum an Distortion nicht übertünche­nd. Stattdesse­n fügen sich Streicher ins Klangbild ein, so etwa in „Light & Love“, das auch die Hinwendung zu einer positivere­n Lebenseins­tellung illustrier­t. Denn vor zwei Jahren gab es Fans, die wegen wütender und allzu simpel gestrickte­r Facebook-Posts von Gray enttäuscht von ihm waren. Wütend ist der 45-Jährige immer noch, doch inzwischen richtet sich seine Wut gegen Donald Trump und die extreme Rechte in den USA. Zudem wirken die Social-Media-Nachrichte­n erwachsene­r, durchdacht­er und bestrebt, dem Hass von Trumps Amerika mehr Positivitä­t entgegenzu­setzen. Eine Entwicklun­g, die sich auch auf dem neuen Album widerspieg­elt. Passend dazu ist der einzige Farbtupfer auf dem Schwarz-Weiß-Cover eine Rose. Nathan Gray, ein Blumenkind? Nein, keine Sorge, es ist nicht alles eitel Sonnensche­in hier. Nur eben etwas ausgeglich­ener als zuvor.

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FOTO: TOM BEJGROWICZ Ausgeglich­ener als früher: der 45-jährige Musiker Nathan Gray.

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