Warum Trossingen „Harmonikastadt“ist
Die Infrastruktur der Stadt ist von der Musikindustrie geprägt
- Geschichtsbewusste Trossinger wissen es; ebenso ältere Mitbürger, die hier aufgewachsen sind. Aber dennoch macht man sich oft nicht klar, in welchem Maße die Harmonikaindustrie das Stadtbild und vor allem auch die Infrastruktur Trossingens bis heute geprägt hat. Wir haben einen kleinen – sicher unvollständigen – Überblick zusammengestellt.
„Schon die Stadtgründung 1927 – Trossingen war ja ein Pfarrdorf – war eine direkte Folge der Harmonikaindustrie“, ruft Trossingens Geschichtskenner Karl Martin Ruff in Erinnerung. Im deutschen Ortslexikon tauchte Trossingen Mitte der 20er-Jahre als „Dorf im württembergischen Schwarzwald" auf, während Klingenthal, der Sitz der sächsischen Konkurrenz, sich schon seit zehn Jahren „Stadt“nennen durfte, obwohl es auch nicht viel größer war als Trossingen. Und so gelang es der Trossinger Harmonikaindustrie in der Tat, in dem Jahr, als in Trossingen groß das Jubiläum „100 Jahre Mundharmonika“gefeiert wurde, das Staatsministerium in Stuttgart davon zu überzeugen, zum Zweck – wie es im Schreiben der Fabrikanten ausdrücklich heißt: – einer „prestigemäßigen Förderung der Konkurrenzfähigkeit“, Trossingen zur „Stadt" zu erheben, obwohl der Ort 1927 nur 6000 statt der eigentlich nötigen 10 000 Einwohner hatte.
Ort und Harmonikaindustrie werden gemeinsam groß
Doch schon lange davor hatte das Dorf – dank der Harmonikaindustrie – eine quasi städtische Infrastruktur erhalten. Da die Stadt und die Harmonikaindustrie zusammen groß wurden, hatte natürlich mehr oder weniger jedes Infrastrukturprojekt vom Rathaus, über den Bau einer Hochdruck-Wasserleitung bis zum Straßenbau zumindest indirekt etwas mit der heimischen Industrie zu tun, die solche Projekte notwendig machte, aber auch das nötige Geld dafür in die Gemeindekassen brachte. Insofern ist das Folgende nur eine exemplarische Auswahl (die zudem auf die Aufzählung der zahlreichen Produktionsstätten und Fabrikanten-Villen verzichtet, die ja ebenso bis heute das Stadtbild prägen).
Dass sich bereits 1865 ein halbes Hundert Trossinger Handwerker und Gewerbetreibende an einen Tisch setzten, um zunächst einmal einen Gewerbeverein und bald darauf eine genossenschaftliche Bank zu gründen – den Vorläufer der heutigen Volksbank Trossingen eG – wäre ohne den Impuls der sich in dieser Zeit immer mehr etablierenden „Bläslemacher“sicher nicht so schnell (wenn überhaupt) passiert.
Um das wachsende Bildungsbedürfnis der Fabrikarbeiter und Angestellten zu befriedigen, wurde bereits 1874 ein staatliches Schulhaus „auf der Löhr" (die heutige Musikschule) errichtet. 1881 entstand in Trossingen die erste Überland-Telefonleitung Württembergs vom Telegrafenamt im Hotel „Bären" hinunter zum Staatsbahnhof.
Das Trossinger „Bähnle“
Um Material und Waren nicht den ganzen langen Weg bis zum staatlichen Bahnhof („Staatsbahnhof“) bei Deißlingen mit dem Fuhrwerk transportieren zu müssen, wurde 1896 eine AG zur Errichtung einer Verbindungsbahn von Trossingen Stadt zum „Staatsbahnhof" gegründet und zugleich eines Elektrizitätswerks, das der Elektrobahn den nötigen Strom zur Verfügung stellte. (Spätere Pläne für eine „Baar-Bahn“Trossingen-Durchhausen und Tuttlingen-Schwenningen verliefen dagegen im Sande.)
Stadtbahnhof und Stadtwerke sind somit direkt der Harmonikaindustrie zu verdanken, und das „Bähnle" ist bis heute ein Wahrzeichen Trossingens und die älteste noch betriebsfähige elektrische Eisenbahn der Welt. Sicher hätte Trossingen früher oder später so oder so Telefon und elektrischen Strom bekommen - nur eben nicht so früh.
Der Bau der Friedensschule in den Jahren 1923/24 in Zeiten der Hyperinflation war nur möglich, weil der Verkauf der Löhrschule (der heutigen Musikschule) an die Firma Hohner harte US-Dollars in die Stadtkasse spülte.
„In Trossingen gab es keinen geeigneten Schneider, der den Herren Direktoren die passenden Anzüge für den erfolgreichen Geschäftsmann hätte machen können“, erzählt Karl Martin Ruff. So holten die Hohners einen Schneider aus Rottweil nach Trossingen – wohl der erste Katholik im Ort seit mehreren Jahrhunderten. Durch die Harmonikaindustrie kamen weitere Arbeitskräfte katholischen Glaubens in die Stadt. Sie hielten ihre Gottesdienste zunächst in einem kleinen, St. Anna gewidmeten Kirchlein auf dem damaligen Gelände des Sägewerks Burgbacher ab, bis die Gemeinde so groß wurde, dass 1933 die heutige Theresienkirche eingeweiht werden konnte. So wie verschiedene Fabrikanten zuvor die farbigen Fenster der evangelischen Martin-LutherKirche gestiftet hatten, so stiftete die Firma Hohner nun die große Glocke für die neue katholische Kirche – natürlich nicht, ohne dies an die selbe zu hängen ...
Daraufhin sah sich der Zigarettenpapier-Fabrikant Fritz Kiehn veranlasst, ebenfalls zwei kleinere Glocken zu spenden. Dass Fritz Kiehn immer häufiger als zweiter großer „Sponsor“in Trossingen auftrat – nach dem Krieg auch, um sich von seinen Verstrickungen als führender Nationalsozialist „rein zu waschen“– lag eben auch an der Prestige-Konkurrenz mit der Firma Hohner.
Trossingen wird Hochschul-Stadt
Dass neben dem der Ausbildung von Akkordeonlehrern dienenden Hohner-Konservatoriums auch eine Musikhochschule – zunächst durch Evakuierung von Teilen der Stuttgarter Musikhochschule während des Zweiten Weltkriegs – nach Trossingen kam und blieb, wäre ohne die Harmonikaindustrie nicht denkbar gewesen.
Letztes großes Projekt, das durch die Firma Hohner initiiert wurde, ist das 1958 eingeweihte Konzerthaus, das nach der Vision von Direktor Ernst Hohner (1886-1965) Kernstück eines groß angelegten „Musikwerks“hätte werden sollen, das alle musischen Einrichtungen der Stadt einschließlich der Musikhochschule vereinigen sollte. Da aber kurz danach der wirtschaftliche Niedergang der Firma einsetzte, kam es nicht mehr dazu. Die großen Träume des Harmonikafabrikanten ziehen allerdings bis heute hohe Folgekosten für die Stadt nach sich – auch das ein Erbe der Harmonikaindustrie.