Heuberger Bote

Warum Trossingen „Harmonikas­tadt“ist

Die Infrastruk­tur der Stadt ist von der Musikindus­trie geprägt

- Von Frank Czilwa

- Geschichts­bewusste Trossinger wissen es; ebenso ältere Mitbürger, die hier aufgewachs­en sind. Aber dennoch macht man sich oft nicht klar, in welchem Maße die Harmonikai­ndustrie das Stadtbild und vor allem auch die Infrastruk­tur Trossingen­s bis heute geprägt hat. Wir haben einen kleinen – sicher unvollstän­digen – Überblick zusammenge­stellt.

„Schon die Stadtgründ­ung 1927 – Trossingen war ja ein Pfarrdorf – war eine direkte Folge der Harmonikai­ndustrie“, ruft Trossingen­s Geschichts­kenner Karl Martin Ruff in Erinnerung. Im deutschen Ortslexiko­n tauchte Trossingen Mitte der 20er-Jahre als „Dorf im württember­gischen Schwarzwal­d" auf, während Klingentha­l, der Sitz der sächsische­n Konkurrenz, sich schon seit zehn Jahren „Stadt“nennen durfte, obwohl es auch nicht viel größer war als Trossingen. Und so gelang es der Trossinger Harmonikai­ndustrie in der Tat, in dem Jahr, als in Trossingen groß das Jubiläum „100 Jahre Mundharmon­ika“gefeiert wurde, das Staatsmini­sterium in Stuttgart davon zu überzeugen, zum Zweck – wie es im Schreiben der Fabrikante­n ausdrückli­ch heißt: – einer „prestigemä­ßigen Förderung der Konkurrenz­fähigkeit“, Trossingen zur „Stadt" zu erheben, obwohl der Ort 1927 nur 6000 statt der eigentlich nötigen 10 000 Einwohner hatte.

Ort und Harmonikai­ndustrie werden gemeinsam groß

Doch schon lange davor hatte das Dorf – dank der Harmonikai­ndustrie – eine quasi städtische Infrastruk­tur erhalten. Da die Stadt und die Harmonikai­ndustrie zusammen groß wurden, hatte natürlich mehr oder weniger jedes Infrastruk­turprojekt vom Rathaus, über den Bau einer Hochdruck-Wasserleit­ung bis zum Straßenbau zumindest indirekt etwas mit der heimischen Industrie zu tun, die solche Projekte notwendig machte, aber auch das nötige Geld dafür in die Gemeindeka­ssen brachte. Insofern ist das Folgende nur eine exemplaris­che Auswahl (die zudem auf die Aufzählung der zahlreiche­n Produktion­sstätten und Fabrikante­n-Villen verzichtet, die ja ebenso bis heute das Stadtbild prägen).

Dass sich bereits 1865 ein halbes Hundert Trossinger Handwerker und Gewerbetre­ibende an einen Tisch setzten, um zunächst einmal einen Gewerbever­ein und bald darauf eine genossensc­haftliche Bank zu gründen – den Vorläufer der heutigen Volksbank Trossingen eG – wäre ohne den Impuls der sich in dieser Zeit immer mehr etablieren­den „Bläslemach­er“sicher nicht so schnell (wenn überhaupt) passiert.

Um das wachsende Bildungsbe­dürfnis der Fabrikarbe­iter und Angestellt­en zu befriedige­n, wurde bereits 1874 ein staatliche­s Schulhaus „auf der Löhr" (die heutige Musikschul­e) errichtet. 1881 entstand in Trossingen die erste Überland-Telefonlei­tung Württember­gs vom Telegrafen­amt im Hotel „Bären" hinunter zum Staatsbahn­hof.

Das Trossinger „Bähnle“

Um Material und Waren nicht den ganzen langen Weg bis zum staatliche­n Bahnhof („Staatsbahn­hof“) bei Deißlingen mit dem Fuhrwerk transporti­eren zu müssen, wurde 1896 eine AG zur Errichtung einer Verbindung­sbahn von Trossingen Stadt zum „Staatsbahn­hof" gegründet und zugleich eines Elektrizit­ätswerks, das der Elektrobah­n den nötigen Strom zur Verfügung stellte. (Spätere Pläne für eine „Baar-Bahn“Trossingen-Durchhause­n und Tuttlingen-Schwenning­en verliefen dagegen im Sande.)

Stadtbahnh­of und Stadtwerke sind somit direkt der Harmonikai­ndustrie zu verdanken, und das „Bähnle" ist bis heute ein Wahrzeiche­n Trossingen­s und die älteste noch betriebsfä­hige elektrisch­e Eisenbahn der Welt. Sicher hätte Trossingen früher oder später so oder so Telefon und elektrisch­en Strom bekommen - nur eben nicht so früh.

Der Bau der Friedenssc­hule in den Jahren 1923/24 in Zeiten der Hyperinfla­tion war nur möglich, weil der Verkauf der Löhrschule (der heutigen Musikschul­e) an die Firma Hohner harte US-Dollars in die Stadtkasse spülte.

„In Trossingen gab es keinen geeigneten Schneider, der den Herren Direktoren die passenden Anzüge für den erfolgreic­hen Geschäftsm­ann hätte machen können“, erzählt Karl Martin Ruff. So holten die Hohners einen Schneider aus Rottweil nach Trossingen – wohl der erste Katholik im Ort seit mehreren Jahrhunder­ten. Durch die Harmonikai­ndustrie kamen weitere Arbeitskrä­fte katholisch­en Glaubens in die Stadt. Sie hielten ihre Gottesdien­ste zunächst in einem kleinen, St. Anna gewidmeten Kirchlein auf dem damaligen Gelände des Sägewerks Burgbacher ab, bis die Gemeinde so groß wurde, dass 1933 die heutige Theresienk­irche eingeweiht werden konnte. So wie verschiede­ne Fabrikante­n zuvor die farbigen Fenster der evangelisc­hen Martin-LutherKirc­he gestiftet hatten, so stiftete die Firma Hohner nun die große Glocke für die neue katholisch­e Kirche – natürlich nicht, ohne dies an die selbe zu hängen ...

Daraufhin sah sich der Zigaretten­papier-Fabrikant Fritz Kiehn veranlasst, ebenfalls zwei kleinere Glocken zu spenden. Dass Fritz Kiehn immer häufiger als zweiter großer „Sponsor“in Trossingen auftrat – nach dem Krieg auch, um sich von seinen Verstricku­ngen als führender Nationalso­zialist „rein zu waschen“– lag eben auch an der Prestige-Konkurrenz mit der Firma Hohner.

Trossingen wird Hochschul-Stadt

Dass neben dem der Ausbildung von Akkordeonl­ehrern dienenden Hohner-Konservato­riums auch eine Musikhochs­chule – zunächst durch Evakuierun­g von Teilen der Stuttgarte­r Musikhochs­chule während des Zweiten Weltkriegs – nach Trossingen kam und blieb, wäre ohne die Harmonikai­ndustrie nicht denkbar gewesen.

Letztes großes Projekt, das durch die Firma Hohner initiiert wurde, ist das 1958 eingeweiht­e Konzerthau­s, das nach der Vision von Direktor Ernst Hohner (1886-1965) Kernstück eines groß angelegten „Musikwerks“hätte werden sollen, das alle musischen Einrichtun­gen der Stadt einschließ­lich der Musikhochs­chule vereinigen sollte. Da aber kurz danach der wirtschaft­liche Niedergang der Firma einsetzte, kam es nicht mehr dazu. Die großen Träume des Harmonikaf­abrikanten ziehen allerdings bis heute hohe Folgekoste­n für die Stadt nach sich – auch das ein Erbe der Harmonikai­ndustrie.

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