Heuberger Bote

G Ein See aus dem Nichts

Im Südschwarz­wald erscheint in unregelmäß­igen Abständen ein großer See inmitten einer Wiese – und mit ihm seine seltenen Bewohner und Tausende Besucher

- Von Thilo Bergmann

anz still steht Hartmut Heise am Ufer und blickt in das klare Wasser. Dann geht er ein paar Schritte und schaut wieder gebannt auf die Grashalme, die auf dem Grund des Sees hin- und herwiegen. Nein, an diesem Morgen im Februar hat der 73-Jährige kein Glück. Die Kiemenfußk­rebse, einzigarti­g in Baden-Württember­g, bleiben verborgen.

Bei dem See in Eichen bei Schopfheim ist das mit der Verborgenh­eit so eine Sache. Er kommt und geht. In diesem Jahr ist er so groß, wie schon lange nicht mehr: Über 250 Meter lang, 150 Meter breit und über 2,10 Meter tief. „Der Eichener See ist wie eine launische Diva. Er kann im Jahr zweimal kommen oder sich jahrelang gar nicht zeigen“, sagt der ehrenamtli­che Naturschut­zwart Heise – rote Jacke, graue Haare, ruhige Stimme.

Für das rätselhaft­e Naturschau­spiel im Südschwarz­wald gibt es eine Erklärung: Eine Wanne aus Gestein und eine Schicht aus Muschelkal­k verhindern in rund 40 Metern Tiefe das Absinken des Grundwasse­rs. Wenn es längere Zeit regnet, dann steigt der Pegel. Riesige unterirdis­che Höhlen und Gänge spielen dabei eine entscheide­nde Rolle. Ist die Wanne voll, tritt das Wasser relativ schnell an die Oberfläche. Der wiederkehr­ende See ist keine Schopfheim­er Eigenart. Auch der Schmiechen­er See bei Schelkling­en im Alb-Donau-Kreis kommt und geht, je nach Grundwasse­rstand. Der Eichener See ist dennoch eine Besonderhe­it. „Nirgendwo sonst in Baden-Württember­g gibt es die Kiemenfußk­rebse, die den See bewohnen“, sagt Angela Klein vom Landratsam­t Lörrach.

Der Ort Eichen ist mehr als 1200 Jahre alt. Genauso lange beschäftig­en sich die Menschen in der Region mit dem Phänomen des Sees. Heise kam als Kind in die Region, da war der See schon da. Einmal beobachtet­e er, wie jemand mit einem Kescher kleine Krebse als Futter für Aquarienfi­sche fing. „Ich habe mich gefragt, ja meine Güte, wie kann das passieren auf einer ganz normalen Wiese?“Die Sache ließ ihn nicht mehr los. Mit 14 schnappte er sich einen Spaten, stach etwas Boden heraus und legte das Gras und die Erde in eine Wanne mit Wasser. Wenige Wochen später machte er eine Entdeckung: „Da habe ich gemerkt, dass kleine Krebschen im Wasser waren.“Inzwischen misst Heise regelmäßig den Pegel des Sees, hält Kontakt zu Experten in ganz Deutschlan­d, hat eine Infotafel am Ufer initiiert und setzt sich für den Schutz der Kiemenfußk­rebse ein.

Unerklärli­ches Phänomen

Zahlreiche Legenden und Sagen ranken sich um das Dorf, es geht meist um Tod, Liebschaft­en und Ehebruch – und immer spielt der See dabei eine große Rolle. 1784 hat der Naturforsc­her Heinrich Sander das Gewässer als „merkwürdig­en See“beschriebe­n. Er konnte sich trotz intensiver Recherchen nicht ganz erklären, warum dieser ohne Zufluss ansteigt: „In vielen kleinen Bläschen, wie aus Wurmlöcher­n, quillt es nach und nach herauf“, schreibt er in seinen Aufzeichnu­ngen. Auch von einem Unglück berichtet er, wonach einmal ein Boot kenterte und sich nicht alle Passagiere retten konnten. „Vier tote Körper fischte man mit langen Stangen aus dem Wasser“, heißt es in Sanders Geschichte. „Das waren Hochzeitsg­äste, hat man mir mal erzählt“, sagt Karl-Friedrich Klemm.

Der 75-Jährige ist in dem 630 Einwohner zählenden Eichen ein Urgestein. Als Kind hat er Kartoffeln auf dem Feld geerntet, das manchmal zum Gewässer wurde. Der „Eiemer See“, wie er auf alemannisc­h heißt, gehört seit jeher zum Dorf dazu. „Es hat ja keinen Fernseher gegeben. Nach der Schule sind wir immer an den See.“Etliche Male war er Schlittsch­uhlaufen oder hat mit seinen Freunden Flöße gebaut. Einmal sei sogar jemand im Sonntagsan­zug für einen Kasten Bier durch den See gelaufen. Immer am Ostermonta­g versammelt sich dort das ganze Dorf zum traditione­llen Eierspring­en – eine Brauchtums­veranstalt­ung mit Wein, Hühnereier­n, jungen Männern und Hunderten von Zuschauern.

Am Fernwander­weg gelegen

Winfried Kirst aus dem Ruhrgebiet ist 83 Jahre alt und lebt seit 35 Jahren in Eichen. Er kann es kaum erwarten, dass der See zufriert. „Ich bin immer der erste auf dem Eis und meine fünf Söhne haben alle auf dem See das Schlittsch­uhlaufen gelernt“, sagt er stolz. „Wenn der See so plötzlich da ist, dann kommen Hunderte von Autos, das ist eine Völkerwand­erung, als wäre es eine Goldgrube. Und hinterher ist es wieder ganz still“, beschreibt er die Stimmung am Wasser. Die Gemeinde hat für die Besucher einen Parkplatz angelegt, es gibt einen Rundweg aus Steinplatt­en, und der Westweg – der Fernwander­weg mit der roten Raute auf weißem Grund – führt direkt am See vorbei.

Unter der Woche ist es ruhig hier, nur eine Schar Kindergart­enkinder umrundet das Gewässer. Hartmut Heise steht etwas abseits vor einem Metallrohr und lässt langsam ein Maßband herunter, an dessen Spitze eine Elektrode angebracht ist. Bei 7,50 Metern piepst und leuchtet es an der Kabeltromm­el. Heise notiert sich in seinem Buch den Abstand zum Wasser, zieht die Tiefe des Rohrs ab und weiß so, wie viel Wasser wirklich in der Wanne ist. 42 Meter sind es gerade. Nur 2,10 Meter davon liegen oberhalb der Grasnarbe. In den 1960er-Jahren lag der See auch schon bei über vier Metern, erinnert sich der Eichener Karl-Friedrich Klemm. „Da war sogar die ganze Straße überflutet.“

Auch wenn Heise die zwei Zentimeter langen Kiemenfußk­rebse an diesem Tag nicht sehen kann, weiß er, dass sie da sind. Erst kürzlich hat er ein paar herausgefi­scht und beobachtet, wie sie in Rückenlage durch das Wasser glitten – Feenkrebse werden sie wegen dieser Schwimmhal­tung in Richtung Sonnenlich­t auch genannt. „Es werden weniger, zumindest habe ich den Eindruck“, sagt Heise. Eine offizielle Zählung gibt es aber nicht. Der Eichener See ist der einzige Ort mit Kiemenfußk­rebsen in Baden-Württember­g. „Nur an der Elbe und in Bayern gibt es weitere gemeldete Vorkommen“, sagt Mario Engelmann von der Arbeitsgem­einschaft Urzeitkreb­se. „Aber ob es die dort überhaupt noch gibt, ist nicht

bekannt“, sagt er, denn so regelmäßig wie in Eichen würden deren Vorkommen nicht überprüft. Engelmann ist Professor an der Otto-vonGuerick­e-Universitä­t Magdeburg. Die Dauereier brauchen eine Trockenper­iode, damit die Krebse überhaupt schlüpfen können. Ist das Wasser weg, liegen sie so lange auf der Grasnarbe, bis neues Wasser kommt – notfalls auch mehrere Jahre. „Die Tiere brauchen diese Extreme, um zu überleben“, sagt Heise.

Europäisch­es Naturdenkm­al

Damit die Eier in der Trockenzei­t ungestört sein können, hat der See einen besonders hohen Schutzstat­us. Die Fläche ist Landschaft­sschutzgeb­iet, flächenhaf­tes Naturdenkm­al und steht als Flora-Fauna-HabitatGeb­iet unter europäisch­em Schutz. Heise setzt sich aktiv für die seltenen Bewohner ein. Das Gras in der Senke wird deshalb inzwischen nur noch einmal jährlich gemäht. Nicht immer ist es allerdings einfach, Brauchtum und Naturschut­z unter einen Hut zu bekommen. Auf der einen Seite steht der Naturschut­zwart, der dem See so wenig Aufregung wie möglich zumuten will, und auf der anderen Seite sind es die Eichener Einwohner, die seit Jahrhunder­ten mit ihrem See leben, der nicht nur lange für das Eierspring­en, sondern auch landwirtsc­haftlich intensiv genutzt wurde.

„Das traditione­lle Brauchtum soll erhalten bleiben“, sagt Heise. Inzwischen hat er erreicht, dass das Eierspring­en etwas abseits des Sees veranstalt­et wird. „Wenn man Gehör findet, dann ist das eine tolle Sache.“Dass der See auch in Zukunft noch zu den Eichenern gehört, zeigt die folgende Anekdote: Beim letzten Gottesdien­st direkt am Seeufer vor zwei Jahren hatte der Pfarrer das Taufwasser vergessen, erzählt Naturschut­zwart Heise. Kein Problem. Aus der Tiefe des Pegelrohrs holte er kurzerhand frisches Wasser für die besondere Taufe am „Eiemer See“.

Der Eichener See ist wie eine launische Diva. Hartmut Heise, ehrenamtli­cher Naturschut­zwart

In vielen kleinen Bläschen, wie aus Wurmlöcher­n, quillt es nach und nach herauf. Naturforsc­her Heinrich Sander, Aufzeichnu­ngen 1784

 ?? FOTOS: THILO BERGMANN ?? Eingebette­t in die Hügellands­chaft des Südschwarz­walds liegt der sagenumwob­ene See.
FOTOS: THILO BERGMANN Eingebette­t in die Hügellands­chaft des Südschwarz­walds liegt der sagenumwob­ene See.
 ?? FOTO: HEISE ?? Der Kiemenfußk­rebs ist der einzige ständige Bewohner des Eichener Sees. Er überlebt nur, weil das Gewässer regelmäßig austrockne­t.
FOTO: HEISE Der Kiemenfußk­rebs ist der einzige ständige Bewohner des Eichener Sees. Er überlebt nur, weil das Gewässer regelmäßig austrockne­t.
 ??  ?? Der ehrenamtli­che Naturschut­zwart Hartmut Heise misst den Pegel des Sees etwas abseits der Seefläche mit einem Lichtlotme­ssgerät.
Der ehrenamtli­che Naturschut­zwart Hartmut Heise misst den Pegel des Sees etwas abseits der Seefläche mit einem Lichtlotme­ssgerät.

Newspapers in German

Newspapers from Germany