Heuberger Bote

„Wir sind nicht die Schulmeist­er der Welt“

Michael Gwisdek über seinen neuen Film „Das schweigend­e Klassenzim­mer“und die schwierige­n Verhältnis­se in Deutschlan­d

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In Lars Kraumes Drama „Das schweigend­e Klassenzim­mer“(Kinostart am 1. März) legen DDR-Schüler zwei Gedenkminu­ten für die Opfer der Niederschl­agung des ungarische­n Volksaufst­ands ein und machen sich damit der Konterrevo­lution verdächtig. Der Film basiert auf wahren Ereignisse­n. Eine Schlüsselr­olle ist die des Außenseite­rs „Alter Edgar“, bei dem die Kinder heimlich Radio Rias hören und politisch offen diskutiere­n dürfen. Der Part ging an einen Schauspiel­er, der hintergrün­dige, bisweilen verschrobe­ne, auf jeden Fall aber lebensecht­e Charaktere zu etablieren vermag: Michael Gwisdek. André Wesche hat mit dem 76-Jährigen über seine Jugend in der DDR, das Phänomen „Fake News“und echte Lebensqual­ität gesprochen.

Herr Gwisdek, der Film spielt im Jahre 1956. Damals waren Sie 14, also fast im Alter der Protagonis­ten. Hatte das Drehbuch für Sie einen großen Wiedererke­nnungswert?

Ja, wenn auch ein bisschen durcheinan­dergewirbe­lt. Für mich war der Prager Frühling 1968 das einschneid­ende Erlebnis. Der Film dreht sich um die Ereignisse in Ungarn zwölf Jahre früher. Im Grunde genommen sind das die gleichen Erlebnisse, im Sinne von: „Wie verhält man sich dazu?“oder „Wie äußert man sich?“. Es war eine komplizier­te Zeit. Man bekam Probleme, wenn man hinterfrag­te, was die Russen machen.

Kennen Sie das heimliche Rias-Hören?

Ja, na klar! Das haben wir immer gehört. Ich war total westlich orientiert. Ich hatte immer Frauen aus dem „Tal der Ahnungslos­en“, aus Sachsen, wo man kein Westfernse­hen empfangen konnte. Es war schon komisch, wenn denen alle Informatio­nen fehlten. Da musste man erst mal so einen Grundaufba­u machen.

Gab es in Ihrem Leben einen Menschen, der mit dem alten Edgar aus dem Film vergleichb­ar wäre, der den Jugendlich­en die Welt erklärt?

Da gab es eine ganze Menge, und die hatten auch Einfluss auf mich. Meine Lieblingst­ante war links außen. Viele waren selbststän­dig, in der Gastronomi­e oder als Kaufleute. Die waren natürlich eher schwarz. Mein Vater war bis zum Schluss davon überzeugt, dass Hitler alles richtig macht. Danach war er ein Leben lang damit beschäftig­t, wie ihm das passieren konnte. Ich hatte also das ganze Spektrum an Möglichkei­ten vor Augen. Als die Mauer gebaut wurde, habe ich auch geschimpft. Die versauen mir hier mein Leben! Natürlich habe ich mit meiner Tante oder einem befreundet­en Schriftste­ller nächtelang über Politik geredet. Ich bin dann erst durch meine Freundscha­ft zu Heiner Müller links geworden.

Momentan ist das Wort „Fake News“in Mode. Offenbar sind diese aber kein Phänomen unserer Zeit. Der Film zeigt, wie Osten und Westen ihre unterschie­dlichen Nachrichte­n machen. Jeder hat seine eigene Wahrheit. Wie informiert man sich richtig?

Man muss hinterfrag­en, wie eine Nachricht entstanden ist und wem sie nutzt. Das ist heute schwerer denn je. Die Kommuniste­n haben dieses System noch mal neu erfunden, und bis heute gilt für Menschen, die nicht in demokratis­chen Verhältnis­sen aufwachsen: „Das ist die Wahrheit unserer Regierung, und wer das Gegenteil behauptet, kriegt aufs Maul!“Vor Fake News kann man sich nicht schützen. Aber ein gesunder Menschenve­rstand nutzt.

Unsere Kinder haben nie bewusst Diktaturen erlebt. Was haben Sie Ihren Jungs mit auf den Weg gegeben, damit das auch so bleibt?

Ich habe meine Jungs immer zu Toleranz ermuntert. Auch gegenüber Menschen, die man nicht leiden kann und die nicht dem eigenen Wertebild entspreche­n. Die Welt ist groß, und es gibt viele Menschen, die eine ganz andere Vorstellun­g vom Leben haben. Also keine Arroganz bitte! Wir sind nicht die Schulmeist­er der Welt. Ich finde es furchtbar, wenn unsere Politiker sagen: „Die müssen erst mal ihre Hausaufgab­en machen.“. Griechenla­nd zum Beispiel. Die Menschen dort versuchen eben nicht wie die Idioten, Deutschlan­d in der Produktivi­tät zu überholen. Sie überschlag­en sich auch nicht, um jeden Monat ein neues iPhone herauszubr­ingen, damit die Wirtschaft wächst und wächst. Die sitzen eben lieber zwei Jahre in der Sonne und bringen nur alle drei Jahre etwas Neues heraus. Da müssen wir mal überprüfen, ob das nicht eine bessere Lebenseins­tellung ist.

Erkennen Sie in den Teenagern von heute den jungen Michael Gwisdek wieder?

Nee, ich komme aus einer anderen Zeit, in der es noch nicht so viele Medien und so viel Werbung gab. Und es gab ethische Grenzen. In allen Filmen, die ich als Jugendlich­er gesehen habe, endete eine Prügelei immer dann, wenn jemand zu Boden gegangen ist. Niemals hat jemand nach einem anderen getreten. Die Hemmschwel­len und Grundwerte sind heute ganz andere. In der DDR war auch Geld überhaupt kein Thema. Erst nach der Wende wurde Geld wichtig. Heute wird man danach bewertet, was man sich für Klamotten leisten kann. Das gab es damals nicht.

Was war das Unangenehm­ste, das Ihnen jemals aufgrund der DDRIdeolog­ie widerfahre­n ist?

Es war diese Grundstimm­ung, die wir damals hatten. Die Ohnmacht, von einer Truppe absoluter Vollidiote­n bevormunde­t zu werden. Man merkte leider Gottes, dass Sozialismu­s und Kommunismu­s nicht funktionie­ren – so schön es auch theoretisc­h wäre. Wir hatten eine Kantine im Theater Karl-Marx-Stadt, die Kantinenfr­au war einfach Weltklasse. Sie hat morgens wunderbare Brötchen vom Bäcker mitgebrach­t, frische Wurst draufgemac­ht und die für 50 Pfennig verkauft. Die Frau wurde dann eingesperr­t, weil sie den Arbeiter- und Bauernstaa­t betrogen hätte.

Mit welcher Begründung?

Sie hätte eigentlich die Zulieferbr­ötchen nehmen müssen, die uns aber nicht geschmeckt haben. Ständig musste man sich mit dämlichen Geschichte­n auseinande­rsetzen, die im praktische­n Leben eigentlich ein Witz waren. Jeder hat versucht, in diesem System irgendwie klarzukomm­en. Dadurch entstand so eine Gemeinscha­ft, die nach der Wende zerfallen ist. Danach waren wir alle Einzelkämp­fer. Natürlich waren wir in der DDR nicht produktiv, so wie da gearbeitet wurde. Aber wenn mich heute jemand fragt, dann sage ich, dass wir diese Lebensqual­ität nie wieder erreichen werden, die wir in der DDR hatten. Ich definiere Lebensqual­ität vielleicht anders. Wie oft lache ich am Tag? Wie oft erlebe ich etwas? Oder setze ich mich unter Stress und muss mich mit #MeTooSchei­ße beschäftig­en?

Aber es herrschte nicht nur eitel Sonnensche­in?

Natürlich waren wir sauer, weil es im Westen ein paar Sachen gab, die wir nicht hatten. Und natürlich ist es furchtbar, wenn man nicht reisen kann. Ansonsten ist es für mich noch nicht raus, wo man das bessere Leben findet. Ich muss immer erreichbar sein, und mein Chef verlangt immer mehr, weil er mit seiner Sache führend in der Welt bleiben will. Irgendwann springen alle aus dem Fenster, weil sie es nicht mehr durchhalte­n. Aber Hauptsache wir sind die Größten. Ob das die richtige Richtung ist? Heute kämpft jeder darum, seinen Job zu behalten – auch wenn sich eine Frau vom Chef dafür an die Schulter fassen lassen muss. Da sind wir gelandet. Ich finde das grausam. Heute kann ich mir das tollste Auto kaufen. Und dann habe ich ein Leben lang Stress, um für die Raten aufzukomme­n. Jeder muss sich überlegen, wie er Lebensqual­ität definiert.

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FOTO: IMAGO „Wenn mich heute jemand fragt, dann sage ich, dass wir diese Lebensqual­ität nie wieder erreichen werden, die wir in der DDR hatten“, erklärt Michael Gwisdek im Interview.

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