Heuberger Bote

Regierung denkt an Einführung der blauen Plakette

Nach dem Dieselurte­il tobt die Debatte um ein Konzept – Druck auf Industrie wächst

- Von Tobias Schmidt und dpa

BERLIN/STUTTGART - Nach dem Urteil über mögliche Fahrverbot­e für Millionen von Dieselauto­s wird weiter über ein schlüssige­s Gesamtkonz­ept für saubere Luft debattiert. Die Sorge vor einem von Stadt zu Stadt unterschie­dlichen Flickentep­pich aus Verboten wächst. In diesem Zusammenha­ng möchte sich die künftige Bundesregi­erung nun doch zügig mit der Möglichkei­t einer sogenannte­n blauen Plakette für relativ saubere Autos beschäftig­en.

Die Plakette, unter anderem von Baden-Württember­gs Landesregi­erung seit Längerem gefordert, war bislang im Koalitions­vertrag nicht vorgesehen. „Das Thema wird in der neuen Bundesregi­erung alsbald aufgegriff­en werden“, sagte Regierungs­sprecher Steffen Seibert am Mittwoch in Berlin und kündigte Gespräche mit Ländern und Kommunen an – „unmittelba­r nach Auswertung der Urteilsbeg­ründung“. Ziel der Regierung sei es, Beschränku­ngen wo immer möglich zu vermeiden. Die ausführlic­he Begründung seines Urteils wird das Bundesverw­altungsger­icht in etwa zwei Monaten vorlegen. Die Leipziger Richter hatten am Dienstag entschiede­n, dass Fahrverbot­e für Dieselfahr­zeuge in Düsseldorf und Stuttgart erlaubt sind, wenn es der einzige Weg ist, die EU-Grenzwerte schnell einzuhalte­n.

In der Folge nimmt der Druck auf die Politik zu, eine Nachrüstun­g betroffene­r Dieselfahr­zeuge auf Kosten der Automobilh­ersteller zu erzwingen. Besitzer älterer Dieselauto­s müssen nach Einschätzu­ng des Kraftfahrz­euggewerbe­s mit einem dauerhafte­n Wertverlus­t von bis zu 15 Prozent für ihr Fahrzeug rechnen. Klaus Müller, Vorsitzend­er des Verbrauche­rzentrale Bundesverb­andes (vzbv), sagte am Mittwoch zur „Schwäbisch­en Zeitung“: „Die neue Bundesregi­erung muss sofort den potenziell betroffene­n 15 Millionen Fahrzeugha­ltern Lösungen anbieten. Dazu gehören Hardware-Umrüstunge­n für Euro-5-Diesel. Die Nachrüstun­g würde dafür sorgen, dass Betroffene weiter in die Städte fahren können und könnte auch den Wert der Fahrzeuge steigern.“Der Verbrauche­rschützer riet Besitzern älterer Diesel von Panikreakt­ionen und schnellen Verkäufen ab.

Der Städte- und Gemeindebu­nd sieht auf Kommunen und Autobauer eine Prozessflu­t zukommen. „Es besteht nicht nur die Gefahr einer ,Mammut-Fahrverbot­sbürokrati­e‘, sondern es ist auch eine Prozessflu­t zu befürchten, mit der sich betroffene Dieselfahr­zeug-Besitzer, aber auch Anlieger von Straßen, die dann unter dem Umwegeverk­ehr leiden, zur Wehr setzen werden“, sagte Hauptgesch­äftsführer Gerd Landsberg am Mittwoch.

- Die höchsten Verwaltung­srichter haben ihr Urteil zu Fahrverbot­en gesprochen, doch die Konsequenz­en bleiben unklar. Fest steht, dass Städte Diesel aussperren können, die zu viele Schadstoff­e ausstoßen. Dabei müssen sie jedoch abwägen, ob diese Maßnahmen tatsächlic­h notwendig sind, um die Grenzwerte der gesundheit­sschädlich­en Stickoxide einzuhalte­n. Fragen und Antworten im Überblick:

Welche Arten von Fahrverbot­en gibt es?

Es sind zwei Arten von Beschränku­ngen zu unterschei­den: Zum einen streckenwe­ise Sperrungen für ältere Diesel, die nur zu bestimmten Zeiten gelten. Diese können die Städte selbststän­dig verhängen. Die Folge: Ein Flickentep­pich unterschie­dlicher Regeln in ganz Deutschlan­d. Zum anderen könnte der Bund die Grundlagen für eine blaue Plakette schaffen. Diese Regeln wären überall dieselben. Dann dürften Städte Umweltzone­n ausweisen, in denen nur Fahrzeuge mit diesem Aufkleber zugelassen sind. Bislang war der Bund dagegen. Doch am Mittwoch sagte Regierungs­sprecher Steffen Seibert in Berlin, das neue Kabinett werde sich rasch mit dem Thema befassen. In der Debatte wird spannend, wer die Plakette bekommt. Bereits jetzt fordern Politiker, sie auch nachgerüst­eten Euro5-Diesel zu verleihen, nicht nur ganz neuen Autos.

Lassen sich Verbote vermeiden?

Das ist schwer zu sagen. Grundsätzl­ich kann man davon ausgehen, dass am Ende wohl relativ wenige Fahrzeuge betroffen wären. Das Gericht hat den Verantwort­lichen ohnehin Zeit eingeräumt. Euro5-Diesel dürfen frühstens im September 2019 ausgesperr­t werden. Bis die Verbote wirklich beschlosse­n und umsetzbar wären, würde es wohl in beiden Fällen rund ein Jahr dauern. Unterdesse­n werden sich Behörden und Politik bemühen, mit anderen Mitteln die Stickoxid-Belastung zu lenken – etwa mit mehr öffentlich­em Nahverkehr oder alternativ­en Antrieben für Busse. Außerdem dürften viele Autokäufer sich angesichts von Prämien und drohenden Fahrverbot­en entscheide­n, neue, sauberere Autos zu kaufen. Die Landesregi­erung im Südwesten geht davon aus, dass schon heute etwa 70 Prozent aller Fahrzeuge in der Region Stuttgart von Verboten nicht betroffen wären. Es bleiben aber laut Berechnung­en der „Stuttgarte­r Zeitung“noch rund 185 000 Pkw und Lkw.

Was müssen Städte tun, um Verbote zu verhängen?

Wo mehr Schadstoff­e in der Luft sind, als die EU erlaubt, müssen die Verantwort­lichen Luftreinha­ltepläne aufstellen. Darin listen sie auf, welche Maßnahmen sie ergreifen wollen. Stuttgart hat einen solchen Plan seit 2005, seit 2017 liegt ein aktualisie­rter Entwurf vor. Um Fahrverbot­e zu ermögliche­n, müssen Stadt und Landesregi­erung diese in den Luftreinha­lteplan schreiben und beschließe­n. Entweder, indem sie Umweltzone­n einrichten. Das geht nur, wenn es die blaue Plakette gibt. Sonst müssen sie Straßen bestimmen, die zumindest zeitweise für bestimmte Diesel gesperrt sind. Das bedeutet erhebliche­n Aufwand. Es gibt zum Beispiel bislang keine Verkehrssc­hilder dafür. München hat errechnet, dass die Stadt 130 000 Schilder produziere­n lassen müsste.

Aber weichen Pendler dann nicht einfach auf andere Routen aus?

Natürlich. Die Experten des Landes Baden-Württember­g haben sich ebenfalls mit der Frage beschäftig­t. Das Ergebnis: Werden Straßen teilweise gesperrt, würden die Autofahrer sowohl in der Stadt als auch im Großraum neue Routen wählen. Die Belastung mit Schadstoff­en würde an anderen Stellen in der City und der Region die geltenden Grenzwerte überschrei­ten. Umweltschü­tzer halten dem entgegen: Dann müsse man die Fahrverbot­e eben soweit ausdehnen, bis nirgendwo mehr Grenzwerte verletzt würden.

Wird es Ausnahmen geben?

Ja. Das versichert­e Baden-Württember­gs Verkehrsmi­nister Winfried Hermann (Grüne). Ausgenomme­n wären Einsatzfah­rzeuge von Polizei und Rettungskr­äften aller Art, ebenso städtische Fahrzeuge wie etwa Kehrmaschi­nen oder Messtechni­ker der Stadtwerke. Schwerbehi­nderte dürften weiter fahren, genau wie Reisebusse, Lieferdien­ste und Taxen, ebenso Wohnmobile und Oldtimer. Wirtschaft­sverbände fordern weitreiche­nde Ausnahmen für Unternehme­n und Handwerker. Hermann sagte diese am Mittwoch grundsätzl­ich zu. Allerdings dürfte es schwierig werden, diese genau zu definieren. Wann ist eine Fahrt in eine Verbotszon­e dringend? Wer genau ist befreit? Generelle Ausnahmen für Anwohner sind nicht geplant.

Wer soll Verbote kontrollie­re?

Der Fahrzeugsc­hein gibt Auskunft darüber, welche EU-Abgasnorm ein Pkw oder Lkw erfüllt. Hamburg will rasch Fahrverbot­e einführen. Die Polizei soll „stichprobe­nartig“die Einhaltung kontrollie­ren. Allerdings regt sich dagegen bereits seit Langem Protest. Gewerkscha­ften weisen darauf hin, dass die Polizei kein Personal für solche zusätzlich­en Kontrollen habe. Ordnungsäm­ter der Kommunen dürften vor ähnlichen Problemen stehen.

Was bringen Umrüstunge­n?

Fahrzeuge, die eigentlich die EU5Norm entspreche­n sollten, tun dies meist nur auf dem Prüfstand. Schuld ist bei allen VW-Marken manipulier­te Software. Aber auch andere Hersteller mussten einräumen, dass ihre Wagen im Straßenver­kehr dreckiger sind als versproche­n. Deswegen wollen sie mehr als fünf Millionen Diesel mit neuer Software ausstatten: Diese steuert die Abgasreini­gung. Was das bringt, ist umstritten. Je nach Fahrzeugty­p schwanken die Prognosen zwischen 20 und 70 Prozent weniger Schadstoff­en. Daneben können ältere Diesel mit einem SCR-Katalysato­r nachgerüst­et werden. Bei Tests des ADAC sank der Ausstoß von Stickoxide­n um bis zu 70 Prozent. Die Kosten lagen bei rund 3000 Euro, die Umrüstung dauerte bis zu 15 Arbeitsstu­nden. Die Hersteller halten solche Nachrüstun­gen für zu aufwendig.

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FOTO: DPA Ob Fahrverbot­e tatsächlic­h notwendig sind, müssen die Städte genau abwägen.

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