SPD nennt Minister erst am 12. März
Die SPD diskutiert mit Leidenschaft, ob sie in die Große Koalition eintreten will – Ein Besuch an der Basis in Oberschwaben
BERLIN/RAVENSBURG (ts/ume) Die SPD-Führung will ihre Minister für eine etwaige neue Große Koalition erst am 12. März benennen. Das hat die designierte Parteichefin Andrea Nahles intern im Willy-BrandtHaus angekündigt, wie die „Schwäbische Zeitung“am Mittwoch erfuhr. So wolle Nahles verhindern, dass ihr Personaltableau zerredet wird. Am Sonntag gibt die SPD das Ergebnis des Mitgliedervotums bekannt. Noch sind viele Genossen, auch im Süden, unschlüssig.
BAD WALDSEE/RAVENSBURG/
FRIEDRICHSHAFEN - Der Hype um Martin Schulz ist an Bad Waldsee komplett vorbeigegangen, damals, als die „Jetzt ist Schulz“-Plakate geschwenkt wurden und als es eine Zeit lang nicht völlig ausgeschlossen schien, dass Deutschland wieder einen sozialdemokratischen Kanzler bekommen könnte. Ein einziges Neumitglied hat damals den Weg in den SPD-Ortsverein Bad Waldsee gefunden, erzählt Annette Uhlenbrock, die kommissarische Vorsitzende, an deren Auto immer noch ein „Zeit für Martin“-Aufkleber pappt.
Und jetzt? Eine verlorene Bundestagswahl, eine gescheiterte JamaikaSondierung und mehrere Pirouetten der eigenen Parteiführung später, zählt die SPD Bad Waldsee sieben Neumitglieder und das bei einer Gesamtstärke von zuvor 30 Genossen im Ort. Uhlenbrock ist stolz. „So viele rote Bücher habe ich noch nie mit mir getragen.“
Das legendäre Parteibuch im SPD-roten Einband gibt es auch im Zeitalter der Digitalisierung noch, auch wenn Mitglieder inzwischen zusätzlich einen Plastikausweis in Kreditkartengröße erhalten. Immerhin fünf der Neu-Sozialdemokraten sind an diesem Abend in die Gastwirtschaft „Grüner Baum“gekommen, um das Büchlein persönlich in Empfang zu nehmen. Wenige Tage zuvor ist das Mitgliedervotum angelaufen. Während eine Kellnerin Maultaschen und Hefeweizen bringt, dreht sich auch im „Grünen Baum“alles um die eine Frage: Wie hältst Du’s mit der GroKo? Das will die Parteispitze von 463 723 Sozialdemokraten in Deutschland wissen. Bis zum morgigen Freitag müssen die Antworten im Willy-Brandt-Haus in Berlin vorliegen.
Erneuerung nur in der Opposition?
Wer in diesen Tagen SPD-Veranstaltungen besucht, erlebt, auch in Oberschwaben, eine Partei, die mit sich ringt. In Bad Waldsee, in Ravensburg, in Friedrichshafen – überall diskutieren Sozialdemokraten, streiten, wägen ab: Erneuerung in der Opposition, wie Juso-Chef Kevin Kühnert predigt? Oder Verantwortung übernehmen für eine stabile Regierung in Deutschland, wie es die Parteispitze von ihren Mitgliedern erwartet?
Christel Engel stand der SPD seit jeher nahe. Nun, jenseits der 70, hat sie sich zum Eintritt in die Partei entschlossen. Wegen eines 28-Jährigen. „Den jungen Herrn Kühnert, den fand ich mutig. Dass der so gegen die Führung steht und wie souverän er das durchzieht“, sagt Engel, eines der fünf Neumitglieder im „Grünen Baum“. Von der Parteispitze hat sie eine weniger hohe Meinung. Deren Entscheidung pro GroKo sei unehrlich. „Wie die Frau Nahles gesagt hat, jetzt kriegt die CDU auf die Fresse…“Christel Engel unterbricht sich, die Ausdrucksweise der Bundestagsfraktionschefin ist ihr offensichtlich peinlich. „Entschuldigung, das habe ich so gehört im Fernsehen.“Jedenfalls habe sie Nahles damals geglaubt. Und die wirbt nun doch für ein Bündnis mit der Union. Christel Engel ist gegen die GroKo, so wie vier der fünf Neuen an diesem Abend in Bad Waldsee.
Die Jusos bekommen viel Anerkennung in diesen Tagen für ihr Engagement, auch von Sozialdemokraten, die inhaltlich anderer Meinung sind. Bei allen SPD-Veranstaltungen sind – neben vielen Mitgliedern im Rentenalter – auch sehr junge Menschen dabei, die leidenschaftlich diskutieren. Von Kevin Kühnert persönlich sind allerdings nicht alle so überzeugt wie Christel Engel. Manche sind sogar richtig sauer.
Zu ihnen gehört Jochen Narr. Der langjährige Ortsvereinsvorsitzende der SPD Leutkirch steht an einem Stehtisch in der ehemaligen Schwimmhalle des Zentrums für Psychiatrie in Weißenau. Dorthin hat am vergangenen Wochenende der SPD-Kreisverband Ravensburg zu einer Informationsveranstaltung eingeladen, es gibt Kaffee und Butterbrezeln. „Seit 40 Jahren bin ich in der SPD“, sagt Narr, „20 Jahre war ich Ortsvereinsvorsitzender, viele Jahre im Gemeinderat. Bei Wind und Wetter bin ich auf den Marktplätzen, um für die SPD zu werben. Ich laufe mir die Hacken ab, um Kandidaten für den Gemeinderat zu finden. Und dann kommt der Juso-Vorsitzende und sagt: Tritt ein, sag Nein, tritt wieder aus. Das finde ich zum Kotzen!“
Der letzte Zusatz „tritt wieder aus“ist zwar keine Erfindung von Kühnert, sondern stammt aus dem nordrhein-westfälischen Juso-Landesverband. Dennoch hat die Kampagne viele langjährige Mitglieder vergrätzt, nicht nur Jochen Narr. Der Leutkircher will mit Ja stimmen. Rhetorisch fragt er: „Wie soll ich denn den Leuten auf dem Marktplatz klarmachen: Wähl’ mich nicht! Ich will gar nicht regieren, ich will mich erneuern!“
Erneuerung – das ist ein Stichwort, das immer wieder fällt in diesen Tagen. Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle einigen können, ist, dass die SPD Erneuerung braucht. Aber wie?
Einige fordern wie die Jusos und der linke Parteiflügel, die Demokratische Linke 21, die Erneuerung in der Opposition, um dann geläutert im nächsten Bundestagswahlkampf angreifen zu können. Andere verweisen auf die Genossen in Bayern. Dort hat die SPD seit 1957 ununterbrochen Gelegenheit, sich in der Opposition zu erneuern.
Rudolf Bindig ist ein Urgestein der SPD in Oberschwaben. Acht Legislaturperioden lang, von 1976 bis 2005, war er Mitglied des Bundestags und die meiste Zeit in der Opposition. Die will er seiner Partei nun ersparen. „Wer sagt denn, dass Erneuerung nur in der Opposition geht? Ich habe da meine großen Zweifel“, sagt Bindig. „Zumal der Begriff der Erneuerung als ziemlich leere Schachtel dasteht. Was heißt das denn? Für manche heißt ,Erneuerung’ wohl nur: Wir wollen an eure Posten.“
Zweimal habe er sich seit der Bundestagswahl in der Partei zu Wort gemeldet, erzählt Bindig später bei einem Kaffee. Das erste Mal, als Martin Schulz direkt nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche erklärt hatte, trotz der neuen Sachlage eine Koalition auszuschließen. „Das war ein vorschnelles, unüberlegtes, unausgegorenes Nein, das hat mich so empört, dass ich eine EMail an Schulz und alle seine Stellvertreter geschrieben habe.“Die zweite empörte E-Mail schrieb er, als Schulz das Außenamt für sich beanspruchte. Da war das Thema Schulz für Bindig durch. Zwar macht er sich keine Illusionen über die Wirkung einer einzelnen E-Mail aus Oberschwaben in Berlin. Allerdings hätten gerade im zweiten Fall binnen weniger Stunden Tausende Mails die Parteizentrale erreicht. Zudem treibt ihn die Lage der SPD um: „Ich hatte das Gefühl, dass alle, die in der SPD Verantwortung getragen haben, sich massiv einbringen müssen.“
Wer an herausgehobener Stelle für die SPD Verantwortung trägt, etwa als Abgeordneter oder Bürgermeister, gehört beim Mitgliedervotum in der Regel zum Ja-Lager. Der Kreis dieser Verantwortungsträger ist in der sozialdemokratischen Diaspora Oberschwabens freilich überschaubar. Der frühere Ulmer Oberbürgermeister Ivo Gönner hat sich klar für die GroKo ausgesprochen. Ebenso sein amtierender Lindauer Amtskollege Gerhard Ecker. Der Lindauer Rathauschef hatte kürzlich beklagt, dass es in der Partei „viele illusorische Meinungen“gebe; er hoffe, dass die Vernunft in der SPD sich durchsetzt.
Ein Zagen und Zaudern
Unermüdlich für ein Ja kämpft auch Martin Gerster. Der Biberacher Bundestagsabgeordnete betreut für die SPD auch die Landkreise Ravensburg und Bodensee, weil die SPD hier ansonsten niemanden hat, weder im Bundestag, noch im Landtag. An diesem Tag ist er morgens bei der SPD in Weißenau und nachmittags bei den Parteifreunden des Kreisverbands Bodensee; zwischendurch muss er noch zum Biberacher Kreisfeuerwehrverband nach Eberhardzell. Überall werde er auf die Koalitionsverhandlungen angesprochen, berichtet Gerster seinen Genossen in Ravensburg und Friedrichshafen. Und die Grundstimmung sei: „Jetzt machet doch endlich mal eine Regierung.“15 der 16 Bundestagsabgeordneten aus Baden-Württemberg seien für die Koalition, betont Gerster – eine Spitze gegen die Ulmer Abgeordnete Hilde Mattheis, die aus der Reihe fällt. „Mein Eindruck ist, dass sich in den letzten drei Wochen der Wind eindeutig pro GroKo gedreht hat.“Die Wortmeldungen in Ravensburg und auch später in Friedrichshafen scheinen das zu bestätigen. Die meisten Redner sprechen sich für eine Große Koalition aus, in Friedrichshafen steht sogar ein Juso auf und bekennt sich zum Ja-Votum. Allerdings gibt es auch eine starke Minderheit, für die ein Bündnis nicht infrage kommt. Weil es auch weiterhin sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen geben wird. Weil man der AfD nicht die Rolle als größte Oppositionspartei überlassen will. Weil Alexander Dobrindt und Andreas Scheuer von der CSU immer so überheblich daherreden.
„Es ist eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera“, gibt die Waldseer SPD-Vorsitzende und GroKo-Gegnerin Annette Uhlenbrock zu, nachdem ihr Ortsverein drei Stunden lang gestritten hat.
Die große Mehrheit der Wortmeldungen, in Waldsee genauso wie in Ravensburg oder Friedrichshafen, zeugte nicht von unversöhnlichen Gegensätzen – sondern von viel Verständnis für die jeweils andere Position. Jene, die für die GroKo stimmen, ahnen, dass die kommende Regierung für die SPD nicht der große Wurf werden wird. Jene, die gegen die GroKo stimmen, sehen durchaus das Risiko, dass die Partei dadurch ins Abseits driften könnte. „Ganz ehrlich“, fragt irgendwann jemand beim SPD-Treffen im „Grünen Baum“in die Runde, „welche der Optionen, die wir haben, ist denn schon wirklich gut?“
„Es ist eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera.“
Annette Uhlenbrock, Bad Waldseer SPD-Vorsitzende