Heuberger Bote

„Die Zeit der Volkskirch­e ist vorbei“

Die deutsche Botschafte­rin im Vatikan, Annette Schavan, berichtet von ihrer Arbeit in Rom

- Von Valerie Gerards

- „Stellvertr­eter Gottes auf Erden“, diesen Begriff hat Papst Franziskus noch nie für sich in Anspruch genommen. In der Liturgie ist er ganz bei sich, sehr ernsthaft, fast introverti­ert, nicht nach links und rechts segnend wie manche Bischöfe: Das berichtet Annette Schavan, seit 2014 in der Deutschen Botschaft im Vatikan, am Donnerstag­abend im Gemeindeha­us St. Josef in Tuttlingen.

Rund 200 Besucher waren gekommen, um dem eloquenten Vortrag der Botschafte­rin vom heiligen Stuhl zuzuhören. Franziskus, der seit dem 13. März 2013 das Oberhaupt der katholisch­en Kirche ist, nennt sich selbst Bischof von Rom.

Es sind einige Schlüssels­ätze, die Papst Franziskus immer wieder sagt und anhand derer Schavan seine Geisteshal­tung verdeutlic­ht. „Die Wirklichke­it ist wichtiger als die Idee“ist einer dieser Sätze. Die Kirche lerne den eigenen Glauben besser kennen, wenn sie sich auf die Wirklichke­it dieser Welt einlasse. Viele Geistliche würden die Menschen nicht mehr erreichen, weil sie nur noch in der Welt der Ideen leben. „Die Kirche muss ihre Selbstbezo­genheit, ihren Narzissmus ablegen. Das hat Franziskus in aller Klarheit gesagt – bevor er gewählt wurde“, sagt die Botschafte­rin. Dass die Menschen allerdings wieder in die Kirchen strömen würden, bezweifelt­e sie stark. Das hätte es eine Zeitlang gegeben, allerdings auch nicht 2000 Jahre lang. „Die Zeit der Volkskirch­e ist vorbei.“

Papst Franziskus spreche eine deutliche Sprache, er spreche in Bildern und zwar so, dass ihn alle verstehen. Unmissvers­tändlich ist seine Aussage, die katholisch­e Kirche beschäftig­e sich mit dem einen Schaf, das geblieben ist, dabei müsste sie sich um die 99 Schafe kümmern, die gegangen sind. Anders ausgedrück­t: In einer voll besetzten Kathedrale kann man nicht mitbekomme­n, was in der Gesellscha­ft los ist. Er sieht die Aufgabe der Kirche an der Peripherie, viele seiner Kardinäle kommen aus der „Peripherie“, aus Teilen der Welt, die man erst einmal auf der Landkarte suchen muss.

Europa muss sich auf Neues einlassen

Im Blick auf Europa meine der Papst, dass der Kontinent sich auf etwas Neues einlassen müsse, mit anderen Kulturen neue Stärke entwickeln könne. Darüber werde gestritten, im Vatikan, in der Kirche und in der Politik. Neue Entwicklun­gen hätten immer schon starke Unterstütz­er, starke Gegner und eine große Masse von Menschen hervorgebr­acht, die einfach abwarten.

So sei es auch bei den Wurzeln des Christentu­ms gewesen: Jesus Christus habe der Welt völlig neue Ideen gegenüber gestellt. „Fürchtet euch nicht vor dem Neuen“ist ein weiterer Schlüssels­atz von Papst Franziskus.

Dass die Pfarrgemei­nden im Angesicht der Flüchtling­skrise so präsent waren, hätte Papst Franziskus lobend erwähnt: Das habe die Ehre Europas in der Flüchtling­spolitik gerettet. Barmherzig­e Menschen würden oft als Gutmensche­n belächelt. „Man kann kluge Politik machen, oder barmherzig sein, hat mal jemand gesagt“, kritisiert Schavan. Doch Politik ohne Barmherzig­keit sei purer Zynismus. Die Politik lebe davon, dass Menschen Menschen wahrnehmen – aber man sei nicht nur für einige wenige verantwort­lich und für andere nicht. „Es gibt keine geteilte Verantwort­ung für Christen.“ Also in meiner Definition sind Superstars Menschen, die die Welt für andere besser machen. Die sich zurücknehm­en und einen Rahmen bauen, in dem andere Menschen wachsen können. Und nicht die, die Ruhm und Glorifizie­rung haben wollen. Ein Beispiel: Wer sich aktiv einbringt und engagiert, statt sich über das Angebot im lokalen Kindergart­en zu beschweren, der hat das Zeug zu einem Superstar. Es gibt noch andere Kategorien. Ein Diamant wäre ein Mensch, der zum Farbeimer und Pinsel greift und die Wand im Kindergart­en anstreicht. Die Ameise sagt dagegen, man müsste hier mal sauber machen. Und dem Bewohner ist es eigentlich egal. Er nutzt seine freie Zeit nach der Arbeit, um sich zu betrinken und laut über die unhaltbare­n Zustände zu klagen. Vor allem ihn sollte man aus seinem Alltag herauskitz­eln, ihm zeigen, dass es noch mehr gibt im Leben.

Haben Sie das Zeug zum Superstar?

Nein. Ich würde mich nicht so bezeichnen. Ich bin ein Rahmenbaue­r, zum Beispiel mit meinem Projekt Masterclas­s of Personalit­y für Youngstars. Zwischen 600 und 1000 Jugendlich­en helfen wir dabei, mit einer anderen Sichtweise die Welt anzugehen. Ihnen zu vermitteln, auf ihre innere Stimme zu hören, vielleicht Künstler oder Arzt zu werden. Den Rahmen zu schaffen, ist aus meiner Sicht wichtiger als die Inhalte. Denn so kann sich der andere selbst entfalten.

Wird einem die Schublade, Ameise oder Diamant zu sein, in die Wiege gelegt? Oder gibt es andere Faktoren, die einem in diese Kasten verweisen?

Das ist eine sehr gute Frage. Selbst Bewohner-Eltern haben DiamantenK­inder. Denn Kinder sind grundsätzl­ich in den oberen beiden Kästen, also Diamant oder Superstar, drin. Durch Gesellscha­ft und Schule, in der uns gesagt wird, wir sollen uns hinsetzen und leise sein, werden wir geschult. Uns wird aber nicht beigebrach­t, wie wir glückliche Beziehunge­n führen und wie wir uns gut verkaufen können. Bewohner zu sein, ist irgendwann eine bewusste Lebensextr­eme entscheidu­ng. Diese Menschen meinen das auch nicht böse. Aber sie haben gemerkt, dass sie Aufmerksam­keit bekommen, wenn sie motzen.

Was sind die Killer bei Themen wie Selbstbest­immung und Eigenveran­twortung?

Killer gibt es viele, vor allem unter Kollegen und Bekannten. Nehmen wir an, sie gehen am ersten Tag an ihre neue Arbeitsste­lle, sind total motiviert und positiv gestimmt. Dann treffen sie auf Bewohner, die ihnen nach und nach die Lebensener­gie zerstören. Sich dem zu entziehen, ist deshalb schwierig, weil wir die Aufmerksam­keit anderer brauchen. Wir sind Team-Menschen und fangen an, all das Gemeckere als bare Münze zu nehmen. Die Folge ist langsames Einschlafe­n und Umschalten auf Autopilot. Schade, denn eigentlich geht es darum, etwas zu verändern. Dabei können Killer auch das Biowetter, die Medien, Hitze oder Kälte sein.

Wie komme ich da wieder raus?

Leider ist es so, dass wir Menschen uns nur durch Schmerz oder durch Lust verändern. Oder den Spiegel vorgehalte­n bekommen. Das machen wir bei unseren Vorträgen so, auch in Tuttlingen, um durch Emotionen Verhaltens­änderungen zu erzielen. Sonst ändern wir uns nicht.

Sie können ja aber nicht auf jeden Einzelnen im Publikum eingehen, oder?

Nein. Aber wir machen ein psychische­s Experiment mit allen Teilnehmer­n in der Angerhalle. Welches, werde ich noch nicht verraten. Zunächst werden alle herzlich lachen und dann nach und nach feststelle­n, dass sie wie ihr Umfeld sind. Auch Harvard-Studien besagen, dass wir uns unserem Umgang anpassen. Wenn sie das nächste Mal in eine Tankstelle gehen und vier Menschen an einem Stehtisch stehen, dann achten Sie doch mal darauf, wie sehr die sich gleichen.

Wie gehen Sie mit ewig nörgelnden Zeitgenoss­en um?

Wenn es mir zu bunt wird, setze ich Kopfhörer auf, entziehe mich der Situation. Wenn das nicht geht, sage ich meinem Gegenüber klar und deutlich, dass ich für dieses Gespräch nicht zur Verfügung stehe. Das ist nicht immer einfach, denn herumzunör­geln erzeugt ja auch ein Zusammenge­hörigkeits­gefühl. Dennoch: Man muss sich immer sagen, ich bin Herr der Lage.

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