Hoffnungslos in Kalabrien
Italien wählt eine neue Regierung in Rom, aber im armen Süden regiert der Frust – Mafia, Arbeitslosigkeit und Migranten treiben die Menschen davon – auch nach Deutschland
sie sich aus Plastikplanen einen Slum zusammengezimmert haben. „Hier kann man nur mit Ticket mitfahren“, wehrt der Busfahrer ab. Das Grüppchen zieht weiter. Sie haben keine Möglichkeit, Crotone den Rücken zu kehren.
Viele Busse fahren hier nach Deutschland. Nach Fellbach, Stuttgart, Offenbach, München, Frankfurt, Wuppertal, Köln. Deutsche Städte scheinen leichter erreichbar zu sein, als der Nachbarort. „Vor allem
die jungen Leute gehen weg. Es ist dramatisch“, sagt der Busfahrer Salvatore Sinopoli. Seit zehn Jahren fährt er nach Deutschland für das sizilianische Unternehmen „Cipolla Group“, übersetzt Zwiebel-Gruppe. Doch heute haben die Leute nicht mehr, wie einst die Gastarbeiter, Zwiebeln oder Kartoffeln im Gepäck in Richtung „Bella Germania“, sondern oft einen Uni-Abschluss.
Von einem „demografischen Tsunami“sprach ein Forschungsinstitut unlängst. Crotone fehlt eine ganze Generation junger, gut ausgebildeter Leute. Auch Kinder gibt es kaum. Die Geburtenrate ist hier so niedrig wie in kaum einer anderen Provinz in Italien. Wieder ein Platz auf dem Verlierertreppchen.
Dabei hätte die Region durchaus Potenzial. Das Meer plätschert an der Strandpromenade, kilometerlange Sandstrände, gelbe Blümchen blühen schon im Februar unter den Olivenbäumen. Das Essen ist gut, die Leute freundlich. Die meisten Sonnenstunden pro Jahr in ganz Italien habe Crotone, weiß man hier. Wenigstens ein positiver Rekord.
„Die Leute machen aber nichts aus dem Potenzial. Sie weinen und warten“, sagt Loris Rossetto, Deutschlehrer in der Stadt. Aus Frust über ihre Situation würden sie nun Parteien wählen, die ihnen eine Revolution versprechen oder purer Protest seien. Vor allem die FünfSterne-Bewegung ist im Süden stark, auf die sozialdemokratische Regierungspartei ist hier kaum einer gut zu sprechen. Der Tourismus berge so viele Chancen, aber Hotels gebe es kaum, und wenn, „dann spricht niemand Fremdsprachen“, so Rossetto. Er hat beschlossen, nicht zu jammern, sondern etwas zu tun. Er organisiert Leuten aus Crotone Jobs in Deutschland: In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz habe er schon 130 Leute vermittelt.
Regeln. Das sei es, was die Leute verstehen müssten, so Rossetto. Es bringe nichts, nur den Politikern die Schuld zuzuschieben, man müsse sich auch selbst an die Regeln halten. Seine Organisation Amici del Tedesco (Freunde der deutschen Sprache) hat zwei alte Gebäude zu Jugendherbergen umfunktioniert, in denen auch regelmäßig deutsche Gruppen zu Besuch kommen. Eines der Häuser war einst im Mafiabesitz und wurde dann beschlagnahmt. „Die Mafia ist hier nicht der Boss, der mit der Pistole rumrennt“, sagt Rossetto und macht mit der Hand eine Schussbewegung. Mafia, das sei mafiöses Denken, Korruption, Vetternwirtschaft.
Natürlich: Kalabrien ist die Heimat der 'Ndrangheta, eine der mächtigsten Mafiaorganisationen der Welt. Aus Kalabrien kamen auch die Täter der Mafiamorde von Duisburg, als sechs Menschen vor einer Pizzeria erschossen wurden. In Kalabrien ist sie omnipräsent. So verdient die Mafia beispielsweise auch an der Migration in Richtung Italien ordentlich mit. In Crotone zum Beispiel steht eines der größten Migrantenlager Italiens. Im Mai letzten Jahres kam ans Licht, dass das Zentrum Sant’ Anna, geführt auch von der katholischen Kirche und gefördert mit EU-Geldern, in den Händen der 'Ndrangheta war. Die kassierte das staatliche Geld für die Migranten ein, bei den Einwanderern kam nichts an. Auch ein lokaler Priester wurde festgenommen. Das Lager gibt es immer noch. Genau gegenüber vom Flughafen Crotone, auf dem kein Flugzeug mehr abhebt oder landet. Der nur noch ein gutes Mahnmal für den Verfall der Region abgibt.
Von den Politikern wie Berlusconi, die versprechen, rund 600 000 illegale Einwanderer sofort abzuschieben, hat sich im Wahlkampf bisher niemand in Crotone blicken lassen. Matteo Salvini, der seine Lega-Partei mit Hetze gegen Ausländer auch im Süden groß machen will, war bisher nur in Reggio Calabria, rund zweieinhalb Autostunden entfernt von Crotone. Aber das große Elend hat auch er umkurvt: In der Nähe von Reggio Calabria, in dem Ort San Ferdinando, ist die große Politik so weit weg wie sie nur sein kann. In dem Ort am Meer steht seit acht Jahren so etwas wie das „Calais des Südens“: ein riesiges MigrantenGhetto. Eine Baracke, in der bisweilen bis zu 2500 Migranten hausen – oder muss man sagen: wie die Tiere leben? Aus Plastikfetzen haben sie sich inmitten einer verwaisten Industriezone etwas zusammengebaut, das wie ein Dach über dem Kopf aussehen soll. Es gibt kein fließend Wasser, keinen Strom. Sie leben im Müll. In Pfützen und Schlamm gammeln Essensreste und unidentifizierbarer Dreck.
Andrea Tripodi ist der Bürgermeister dieses kaputten Ortes. Er ist seit eineinhalb Jahren im Amt, nachdem die Verwaltung der Kommune wegen Mafiaunterwanderung aufgelöst wurde. Tripodi hat neben dem Slum eine Zeltstadt errichten lassen, wo die Migranten wenigstens Wasser haben und ein paar Polizisten nach dem Rechten schauen. Essen oder eine Kochstelle gibt es allerdings nicht – nur einen Automaten mit Schokoriegeln.
„Es fehlt eine klare Politik, es fehlt Geld, um das Problem in den Griff zu bekommen. Es ist eine enorme Zahl
für eine kleine Gemeinde wie unsere. Es ist eine Zahl, die zum Erdbeben geworden ist“, sagt Tripodi. Rund 4500 Menschen leben in San Ferdinando – und etwa 2500 Migranten, die ihrem Schicksal überlassen wurden. Ein explosiver Cocktail.
Die meisten der Migranten in San Ferdinando und Umgebung sind sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge, haben also kein Anrecht auf Asyl. Eine internationale Krise spielt sich hier auf engstem Raum ab. Aber weder
hochrangige EU-Politiker noch italienische Spitzenpolitiker lassen sich hier sehen. Es ist ein System des Ignorierens, des Wegschauens. Aber auch eines des gegenseitigen Ausnutzens: Die Migranten arbeiten für einen Hungerlohn auf den Feldern in der Region. Im Hintergrund zieht die Mafia die Strippen. Im Winter pflücken die Einwanderer Orangen, Mandarinen, Zitronen, die dann in Norditalien und im Ausland verkauft werden. „Im Sommer wandern sie nach Apulien und Kampanien für die Tomatenernte“, so der Bürgermeister.
Sie sind die modernen Sklaven, Opfer mafiöser Strukturen in der Landwirtschaft. Ausgenützt von den anderen Verlierern der Globalisierung, den kalabrischen Bauern. Denn mit dem Orangenanbau verdient man mittlerweile auch nichts mehr. Längst kommen billigere Zitrusfrüchte aus Tunesien oder Brasilien in Europa an, wie der Bürgermeister sagt. Und zwar absurderweise genau in dem riesigen Containerhafen, der vor einiger Zeit hier in San Ferdinando gebaut wurde – und der vor allem der 'Ndrangheta als Drehkreuz für den weltweiten Drogenhandel dient.
Europa, Rom, Wahlen? All das spielt in San Ferdinando eine Nebenrolle. Die Menschen interessieren sich nicht für Europa, sondern dafür, ob es nachts Beleuchtung auf der Straße gibt, ob der Müll endlich weggeräumt wird und ob man auch morgen noch Geld für den Einkauf hat. Die Einwohner, die die Schnauze voll haben von der Misere, wandern in Richtung Norden ab, setzen sich in Busse und Züge Richtung Mailand, Genua, Turin oder nach Deutschland. Nur die Migranten, die nicht weiterkönnen, bleiben bis auf weiteres in San Ferdinando und Crotone. Wählen dürfen sie am 4. März nicht.