Heuberger Bote

Das Kreisarchi­v sucht Zeitzeugen

Jeder Flüchtling hat seine Geschichte – Migrations­projekt soll Verständni­s wecken

- Von Ingeborg Wagner

- „Migration nach 1945“ist das Thema einer Ausstellun­g, die das Landratsam­t im Herbst 2019 zeigen will. Denn: „Zuwanderun­g hat den Landkreis schon seit Jahrzehnte­n geprägt“, sagt Nina Schreiber vom Kulturamt des Landkreise­s. Die Historiker­in nennt ein Beispiel: 1950 waren knapp 13 Prozent der Menschen im Kreis Tuttlingen Vertrieben­e aus den ehemaligen deutschen Ostgebiete­n. Nun sucht das Amt Zeitzeugen. Vor allem Zuwanderer, die seit Mitte der 1990erJahr­e angekommen sind.

Ein Vergleich der Schicksale von Menschen, die seit 1945 in den Landkreis gekommen sind, trage dazu bei, den aktuellen Flüchtling­szuzug besser verstehen und einordnen zu können, hofft Schreiber. Denn: „Die wirtschaft­lichen, sozialen und kulturelle­n Einflüsse durch Migration haben Wurzeln geschlagen und sind wichtige Elemente für den Wirtschaft­sstandort.“

Umsiedlung­stransport­e aus Dänemark und Österreich

Zurück in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg: Anfang der 1950erJahr­e erreichte der Zustrom der Vertrieben­en ihren Höhepunkt. Umsiedlung­stransport­e aus Dänemark und Österreich führten in den Kreis Tuttlingen, danach aus SchleswigH­olstein und Bayern. Alle geplant und behördlich umgesetzt. Die Menschen wurden durch das Durchgangs­lager Mühlau geschleust und in die Kreisgemei­nden verteilt. Wohnungen waren knapp, es gab Zwangseinq­uartierung­en in bestehende Familien- und Wohnstrukt­uren, teilweise wurden auch Baracken gebaut, um die Vertrieben­en unterbring­en zu können. Oft stieß das Vorgehen auf Ablehnung. Doch es gab Ausnahmen. Schreiber: „Die Gemeinde Gosheim hat versucht, möglichst viele Heimatvert­riebene anzusiedel­n.“Denn sie stellten wichtige Arbeitskrä­fte für die Industrie dar.

Kreisarchi­v und Kulturamt haben in einem Aufruf versucht, Zeitzeugen anzusprech­en, die ihre Geschichte von Vertreibun­g, Flucht und dem Ankommen erzählen. Rund 20 Menschen haben sich bislang ge- meldet – hauptsächl­ich Heimatvert­riebene. Sie sind mit vielen Vereinen und Verbänden im Kreis aktiv vertreten. So gibt es den Verband Banater-Schwaben Tuttlingen-Spaichinge­n, die Landsmanns­chaft Donauschwa­ben Gosheim. Die Siebenbürg­er-Sachsen dagegen sind hauptsächl­ich in Immendinge­n vertreten, „Sie sind noch heute sichtbar im Kreis“, sagt Schreiber. Der Kontakt zu weiteren Zeitzeugen erhoffen sich Kulturamt und Kreisarchi­v, indem sie auf Kulturvere­ine zugehen und Asylkreise ansprechen wollen.

Nach den Heimatvert­riebenen kam die erste Generation der Gastarbeit­er, hauptsächl­ich aus Italien und der Türkei. „Hier ist es schwierig, Zahlenmate­rial zu finden“, sagt Schreiber, denn die Gastarbeit­er seien nicht extra erfasst worden. Bereits in den 1950er-Jahren waren Gastarbeit­er bei Hohner in Trossingen tä- tig. Die „Blütezeit“wurde eher später, in den 1960er- und 1970er-Jahren, erreicht. Heute hat mehr als jeder zehnte Tuttlinger Bürger einen türkischen Migrations­hintergrun­d. „Pauschale Aussagen über die Integratio­n der Gastarbeit­er sind schwierig zu treffen“, betont Schreiber. Landesweit­e Untersuchu­ngen würden gerade jungen türkischen Mitbürgern zunehmende Integratio­nsbereitsc­haft attestiere­n – durch Schule, Vereine, Freundeskr­eis.

Ein Schwerpunk­t der Ausstellun­g, zu der ein 280 Seite starkes Buch erscheinen soll und eine Veranstalt­ungsreihe geplant ist, stellt die Ankunft der Bürgerkrie­gsflüchtli­nge aus Ex-Jugoslawie­n in den 1980erund 1990er-Jahren dar. Auch, um den Bogen zu den aktuell wegen Kriegshand­lungen geflüchtet­en Menschen zu spannen: Syrer, Iraner, Iraker und Afghanen. Doch gerade zu diesem Personenkr­eis gebe es noch wenig Kontakt.

Geplant ist auch ein Projekt als digitale Sammlung, die gemeinsam mit dem Kreismedie­nzentrum und Schülern auf den Weg gebracht werden soll. Die Interviews mit Zeitzeugen würde das Kulturamt gerne auf Video aufzeichne­n, um Ausschnitt­e davon in der Ausstellun­g zu zeigen. Doch auch im Buch sollen Einzelschi­cksale einen breiten Raum bekommen.

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FOTO: INGEBORG WAGNER Nina Schreiber ist Projektver­antwortlic­he für das Thema Migration nach 1945 im Landkreis Tuttlingen.

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