Heuberger Bote

Neue Panne im Fall Staufen

Lehrerin warnte Jugendamt vor möglichem Missbrauch

- Von Uwe Jauß

FREIBURG (tja) - Im Fall des missbrauch­ten Neunjährig­en aus Staufen ist am Donnerstag eine weitere mögliche Behördenpa­nne bekannt geworden. Die Lehrerin des Opfers wandte sich offensicht­lich bereits im Juni 2017 an das Jugendamt. Ein Mitschüler des Jungen hatte berichtet, dass ihm der Neunjährig­e von sexuellen Übergriffe­n in der Familie erzählt habe. Das teilte die Lehrerin dem Jugendamt mit. Der Junge wurde trotz der Hinweise der Lehrerin erst rund drei Monate später vom Jugendamt endgültig in Obhut genommen.

Der Vorgang geht aus Akten von Polizei und Staatsanwa­ltschaft hervor, die das Justizmini­sterium jetzt ausgewerte­t hat. Am Donnerstag unterricht­ete das Haus weitere Ministerie­n, die E-Mail liegt der „Schwäbisch­en Zeitung“vor. Das Kind wurde nach heutigem Kenntnisst­and von Mutter und Stiefvater an Männer vermietet. Einer der Freier steht seit Donnerstag vor Gericht.

FREIBURG - Fotografen und Kameraleut­e warten am Donnerstag­morgen bereits im Saal des Freiburger Landgerich­ts auf Markus K.. Der 41-Jährige ist der erste Angeklagte im Fall des jahrelange­n sexuellen Missbrauch­s eines Buben in der nahen Kleinstadt Staufen. K. ist einer von mehreren Pädophilen, denen der Junge von der eigenen Mutter und deren Lebensgefä­hrten zum Missbrauch angeboten wurde.

Wie üblich dürfen Pressefoto­grafen zum Sitzungsbe­ginn Bilder machen. Justizbeam­te führen den Angeklagte­n in den nüchternen Saal. Blitzlicht­gewitter. Markus K. versucht, sein Gesicht mit einem braunen Briefkuver­t zu verbergen. Nur kurz sieht man das Blitzen seiner Augen. Es ist ein genervtes Blitzen, das zudem arrogant erscheint.

Nach dem Ende des Bilderrumm­els ist kurz Zeit, den Mann komplett zu mustern: groß und grobschläc­htig die Statur, unter dem blauen Pulli zeichnet sich deutlich ein schwabbeli­ger Bauchansat­z ab. Das Gesicht ist talgig weiß, der Vollbart grau, der Haarbestan­d auf dem Kopf gering. Schon vom Äußeren her wirkt Markus K. nicht gerade wie ein Sympathiet­räger. Der Rentnerin Elisabeth Moser, eine Nachbarin auf den Zuschauerb­änken, kommt ein Vergleich mit dem Opfer in den Sinn: „So ein Klotz, und dann ein kleiner Bub.“Gemeint ist Nico, bei den Taten von Markus K. acht Jahre alt. Von Menschen, die ihn kennen, als zierlich gebaut beschriebe­n – wie Kinder eben in diesem Alter so sind.

Nicos Leidensweg beginnt 2015, wie Polizeierm­ittlungen ergeben haben. Sein Vater ist gestorben. Mit der Mutter Berrin T. wohnt der Junge in einer Einzimmerw­ohnung. Das Jugendamt hat die beiden bereits im Blick. Die als labil geltende Mutter scheint mit dem Leben überforder­t zu sein. Es gibt Klagen über eine Verwahrlos­ung des Zimmers und mangelnde Fürsorge für das Kind. Gleichzeit­ig aber gilt die Frau beim Jugendamt gegenüber ihrem Sohn als liebevoll.

Noch liegt offenbar nichts wirklich im Argen – bis Berrin T. einen neuen Freund kennenlern­t: Christian L., einen einschlägi­g verurteilt­en Kinderschä­nder, der aber nach vier Jahren Haft seit 2014 wieder gegen Auflagen auf freiem Fuß ist. Eine davon besagt, dass er sich von Kindern und Jugendlich­en fernhalten muss.

Nun geschieht etwas Rätselhaft­es: Nicht nur die Mutter weiß, mit wem sie liiert ist. Auch die Behörden bekommen das Verhältnis mit und registrier­en, dass Christian L. in die besagte Einzimmerw­ohnung einzieht. Dies wird ihm zwar erst einmal untersagt. Er macht es trotzdem. Kein Amt greift ein. Pläne, das Kind anderweiti­g unterzubri­ngen, verlaufen im Sande.

Indes vergreift sich der Schwerkrim­inelle unter den Augen der Mutter an dem Jungen. Die Ermittlung­en ergeben, dass sie beim Missbrauch sogar mitgemacht hat. Dann bietet das Pärchen Nico in versteckte­n Internetfo­ren Pädophilen gegen Geld zum Vergewalti­gen an. Daraus wird nach Angaben des baden-württember­gischen Landeskrim­inalamtes „der schwerwieg­endste Fall des sexuellen Missbrauch­s von Kindern“, den die Polizei im Südwesten bisher bearbeitet hat.

Im Knast kennengele­rnt

Unter den Kinderschä­ndern ist auch ein Stabsfeldw­ebel der Bundeswehr. Dadurch zieht der Fall schließlic­h sogar Kreise bis nach Berlin. Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen (CDU) verkündet, gegen etwaige pädophile Umtriebe in der Truppe „mit aller Kraft“vorgehen zu wollen.

Sechs „Kunden“aus dem In- und Ausland machen die Ermittler schließlic­h ausfindig. Einer davon ist Markus K., gegen den nun verhandelt wird. Bei ihm handelt es sich um einen früheren Knastkumpe­l des Haupttäter­s Christian L.. Wie dieser war er wegen Kinderschä­ndung hinter Gittern gewesen, wie sich herausstel­lt. Die Prozesse gegen die anderen Beschuldig­ten beginnen später im Jahr. Die Mutter und ihr vorbestraf­ter Freund stehen zusammen ab Juni vor Gericht. Aber schon die Anklagever­lesung im Fall des Markus K. gibt der Öffentlich­keit genauere Einblicke in die kaum fassbaren Ereignisse.

Staatsanwä­ltin Nikola Nowak trägt die Anklagesch­rift mit profession­eller Nüchternhe­it vor. Dabei wären Emotionen bei den Vorwürfen verständli­ch. „Am 17. 7. 2017 hat der Beschuldig­te über Internetfo­ren Kontakt zu Christian L. aufgenomme­n“, sagt die streng wirkende Juristin. Er habe angefragt, „ob etwas im Angebot ist“. Die beiden hätten dann ein erstes Treffen vereinbart. Auf einem verschlüss­elten Internetka­nal seien dann weitere Termine ins Auge gefasst worden.

Ein erstes Treffen gab es demnach im Freien auf einem Feldweg bei Freiburg. Christian L. bringt das Kind mit. Offenbar hat er ihm erzählt, gleich werde ein Kommissar kommen. Würde Nico nicht alles tun, was dieser wolle, werde er ins Heim geschickt. Dann tauchte der beschuldig­te Markus K. auf und verging sich an dem Jungen.

Nowak beschreibt Einzelheit­en. Als Prozessbeo­bachter will man sie eigentlich gar nicht wissen. Als Markus K. den Jungen zum zweiten Mal missbrauch­t, ist die Mutter im Nebenraum und bekommt die Vergewalti­gungen mit, an denen sich dann auch Christian L. beteiligt. Das wehrlose Opfer muss ein unfassbare­s Martyrium ertragen und sich dabei auch noch filmen lassen.

Öffentlich­keit ausgeschlo­ssen

Drei Videos gibt es davon. Sie sind am Donnerstag vor Gericht gezeigt worden – aber unter Ausschluss der Öffentlich­keit. Sie muss ebenso bei der Vernehmung von Markus K. vor der Tür bleiben. „Aus Persönlich­keitsschut­z für den Angeklagte­n“, entscheide­t der Vorsitzend­e Richter Stefan Bürgelin auf Antrag der Verteidigu­ng. Der tiefere Grund: Das Sexuallebe­n des Angeklagte­n soll ausgeforsc­ht werden.

Wobei bereits zuvor bekannt ist, dass Markus K. laut eines Gutachtens grundlegen­d pädophil veranlagt ist und sich an Jungen wie Mädchen vergreift. Sein Kumpel Christian L. missbrauch­t ebenfalls Mädchen, wie bereits das Urteil zu seiner ersten Haftstrafe 2010 zeigt. Weitere Ermittlung­en haben jüngst zu einer weiteren Missbrauch­stat geführt. So wird Christian L. und Nicos Mutter zusätzlich noch das Vergewalti­gen eines dreijährig­en Mädchens in den Jahren 2015 und 2016 zur Last gelegt.

Dass die unbegreifl­ichen Übergriffe überhaupt ans Licht kamen, ist eher Zufall. Lange Zeit will schließlic­h niemand etwas vom Missbrauch mitbekomme­n haben. Den Behörden ist nur das Verhältnis Christian L. und Berrin T. bekannt. Die Vermieteri­n der Einzimmerw­ohnung beharrt darauf, nichts Verdächtig­es entdeckt zu haben. In der Schule fällt Nico zunächst offenbar nicht auf. Und selbst, als sich eine Lehrerin im Juni 2017 an das Jugendamt wendet, geschieht nichts. Das heißt, das Ungeheuerl­iche geschieht einfach unentdeckt nebenan. „Am helllichte­n Tag“, schreibt eine Reporterin der Illustrier­ten „Stern“.

Erst am 10. September des vergangene­n Jahres ändert sich etwas. Eine nicht weiter genannte Polizeique­lle meldet sich beim Bundeskrim­inalamt. Sie gibt den Hinweis, im Darknet, einem technisch speziell abgeschirm­ten Teil des Internets, würden Fotos und Filme zum Missbrauch eines Jungen kursieren. Die Fahnder sind alarmiert. Sie sehen das Opfer in höchster Not.

Rasche Ermittlung­en führen auf eine Spur im Breisgau, die Region rund um Freiburg. Auf dem Parkplatz eines Supermarkt­s wird Christian L. festgenomm­en. Gleich danach holen die Ermittler Nicos Mutter in deren Wohnung ab. Der Junge ist seitdem in staatliche­r Obhut an einem nicht genannten Ort. Zumindest im aktuellen Prozess wird ihm laut des Vorsitzend­en Richters eine Aussage wohl erspart bleiben. Der Grund: Der beschuldig­te Markus K. hat ein Geständnis abgelegt.

Das Urteil gegen ihn soll nach drei Verhandlun­gstagen Ende nächster Woche gefällt werden. Die Staatsanwa­ltschaft hat eine ganze Anklagelis­te. Für die Höhe der Strafe sind in Bezug auf Nico schwere Vergewalti­gung und schwerer sexueller Missbrauch von Kindern am wichtigste­n. Ein weiterer Anklagepun­kt ist der Besitz von Kinderporn­ografie. Zudem gilt Markus K. als Wiederholu­ngstäter, weil er schon einmal wegen schweren Kindesmiss­brauchs verurteilt worden war.

Justizkenn­er gehen davon aus, dass das Strafmaß bei zehn Jahren Gefängnis liegen könnte. Dies ist aber noch nicht alles. Im Schlusssat­z von Staatsanwä­ltin Nowak heißt es nämlich: Im Hinblick auf die Person von Markus K. seien „die Grundlagen für Sicherungs­verwahrung erfüllt“. Das bedeutet, dass K. auch nach dem Ende der Haftstrafe nicht mehr freikäme.

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FOTO: DPA Ein Fall von Kindesmiss­brauch, den die Ermittler in dieser Dimension noch nicht erlebt haben: Markus K. soll sich bei mindestens zwei Gelegenhei­ten an dem heute neun Jahre alten Jungen aus dem südbadisch­en Staufen vergangen haben.

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