Teilchen für Teilchen
Puzzeln ist analog und scheinbar von gestern – Doch das alte Legespiel lebt und fasziniert auch die Generation Smartphone
Jeder, der schon mal gepuzzelt hat, weiß, dass der Moment unweigerlich kommt: Nach der Anfangseuphorie („Der Rahmen ist schon fertig!“) wird es mühsamer, der Nacken verkrampft sich langsam, die Augen werden müde und an einer Stelle geht es einfach gar nicht weiter. Bis der Moment da ist, an dem man Stein und Bein schwört, dass ausgerechnet in dieser Packung ein entscheidendes, besonders geformtes Teilchen fehlt. Verdammt. Tut es natürlich nicht, am Ende fügt sich doch eins zum anderen. Die letzten Pappteilchen – Genuss, Stolz, Erlösung.
Bis dahin kann es dauern. Zumindest dann, wenn man vor einem Berg aus Zehntausenden Puzzleteilen sitzt. Was andere womöglich kapitulieren lässt, macht Günther Simetsberger größten Spaß. „Das Puzzeln fasziniert mich.“Der 51-jährige Österreicher sitzt tiefenentspannt am Wohnzimmertisch und weiß Löwen, Elefanten, Giraffen, Nilpferde, Affen, Büffel, Flamingos und eine üppige Flora in seinem Rücken. Das Puzzle „Wild Life“an der Wand hat 33 600 Teile, ist 5,70 Meter breit und 1,57 Meter hoch. „Ich habe 115 Tage gebraucht, es waren 115 Tage Freude“, erinnert sich der ehemalige Monteur. Nach einem Arbeitsunfall 2008 gab er den Job auf und ist nun als Saisonkraft in einer Schießbude auf dem Jahrmarkt beschäftigt. Das Plus an Zeit investierte er in die Organisation der „World Puzzle Days“– einem internationalen Kräftemessen der Teilchen-Detektive.
„Aus Leidenschaft ist richtig Arbeit geworden“, bilanziert er mit Blick auf die zeitweise mehr als 700 Teilnehmer. Im Januar und Februar eines Jahres dokumentieren und vergleichen die Spieler unter anderem aus Argentinien, Mexiko, Brasilien, Spanien, der Türkei und Taiwan via Internet ihre Leistungen im Legespiel. Zuletzt hat die 52-jährige Emma González aus Mexiko alle um Längen geschlagen. In den 59 Tagen schaffte die Lehrerin 107 Puzzles mit 111 985 Teilen. „Gut, dass sie mit dem Zeitraffer eines Smartphones, das über dem Tisch montiert war, alles aufgenommen hat. So wissen wir, dass ihr niemand geholfen hat“, meint Simetsberger.
González ist in der Szene ein Star. Jüngst hat sie außer Konkurrenz an der türkischen Puzzle-Meisterschaft teilgenommen und ihr scharfes Auge eindrucksvoll bewiesen. „Ihre Leistung in Istanbul war phänomenal“, meint Simetsberger. Die Lehrerin brauchte für ein 250-teiliges Puzzle nur 33 Minuten und 59 Sekunden. Sie war damit elf Minuten schneller als die offiziell Besten.
Der genaue Blick ist die halbe Miete. „Sehr viele Teile verraten mit kleinen Hinweisen wie minimalen Farbabweichungen, wo sie hingehören“, meint Simetsberger, der früher gerne Halbmarathons bewältigt hat und sich nun umständehalber für die Ausdauerleistung in der Wohnung entschieden hat. Eine weitere Erleichterung sei es, dass die Hersteller die Riesenpuzzles in Beuteln zu je mehreren tausend Stück portionierten. Simetsberger macht aber nicht einen Beutel nach dem anderen, sondern arbeitet gleichzeitig an mehreren Teilflächen. „Ich will das Puzzle insgesamt wachsen sehen.“
Das Puzzeln ist rund 250 Jahre alt und wurde von einem Engländer erfunden. Das Prinzip scheint nie langweilig zu werden. „Der Markt ist stabil“, sagt eine Sprecherin von Europas Marktführer Ravensburger. Selbst die Generation Smartphone kann dem analogen Legespiel offenbar einiges abgewinnen. „Aus einer repräsentativen Befragung wissen wir aber, dass neben Kindern zurzeit vor allem junge Erwachsene zwischen 20 und 29 Jahren besonders häufig puzzeln“, sagt Produktmanagerin Siglinde Nowak. Das alte System wird inzwischen ergänzt mit 3D-Puzzles und digitalen Angeboten. Die Auswahl ist groß. Allein Ravensburger bietet nach eigenen Angaben mehr als 600 Motive. International sind die Vorlieben verschieden. „Italiener lieben zum Beispiel Kunstmotive, Schweizer bevorzugen schöne Landschaften, während Franzosen gerne Paris und den Eiffelturm puzzeln“, so Nowak. Es scheint allerdings gelegentlich, als ob die Motive gar nicht das Entscheidende beim Puzzlen sind. Dafür hat die Teilchensuche an sich offenbar Suchtpotenzial und stachelt zu besonderen Rekorden an: Da wären beispielsweise zwei vier Kilometer lange Puzzlemeilen zu nennen, welche die Städte Königsbrunn (Bayern) und Buxtehude (Niedersachsen) beim Deutschen Puzzletag 2006 auf ihre Hauptstraßen legten: Insgesamt 9000 hintereinander gelegte Puzzles mit rund zwei Millionen Teilen.
Nicht zu vergessen das Millionenpuzzle: Zehn Jahre ist es her, dass rund 10 000 eifrige Puzzler auf dem Marienplatz in Ravensburg exakt 1 141 800 Teilchen zusammenfügten zum größten Puzzle der Welt – ein einzigartiger Rekord in der Stadt der Spiele.
Das größte Puzzle von Ravensburger ist aktuell ein Disney-Motiv mit mehr als 40 000 Teilen. Zusammengesetzt misst ein Exemplar über 13 Quadratmeter. Angesichts der überschaubaren Zielgruppe werden davon nicht allzu viele produziert. „Die Auflage ist dreistellig“, meint Sprecherin Katrin Hanger. Das Produkt steht auch bei Simetsberger auf dem Schrank – und gehört zu den nächsten Aufgaben.
Puzzeln hat das Leben des 51-Jährigen geprägt und entscheidend verändert. Als Jugendlicher war er Kettenraucher und schon Fan des Spiels. Er stellte fest: „Nur beim Puzzeln habe ich nicht ans Rauchen gedacht.“Seine Entwöhnungsstrategie war simpel und wirksam. Er nahm sich ein 3000er-Puzzle, das die französischen Alpen zeigte, vor, brauchte dafür einen ganzen Monat – und war am Ende seine Nikotinsucht los.
Es soll aber auch Fälle geben, in denen das fesselnde Hobby unerwünschte Nebenwirkungen hatte: Die Ehefrau eines leidenschaftlichen Puzzlers war offenbar so genervt, dass sie mit einer Handvoll Puzzleteilen aus dem fast fertigen 12 000erPuzzle ihres Mannes die gemeinsame Wohnung verließ. Die geklauten Teilchen konnte der Ravensburger Kundenservice dem frustrierten Mann zwar ersetzen. Doch die Ehe der beiden ließ sich so leider nicht wieder zusammenfügen.
Das hält natürlich echte Fans wie Simetsberger nicht ab. Dem Österreicher ist keine Hürde zu hoch, ein weiter blauer Himmel kein Problem. Nur bei Waldmotiven werde er nervös, bekennt er. Bald hat er aber ein anderes Problem: Es wartet ein Puzzle mit 42 000 Teilen, das 7,49 Meter breit ist. Eindeutig zu groß für sein Wohnzimmer. „Vielleicht miete ich mir für den Sommer eine Garage.“
’’ Ich habe 115 Tage gebraucht, es waren 115 Tage Freude. Günther Simetsberger über seine enorm große Puzzleleidenschaft