Heuberger Bote

Teilchen für Teilchen

Puzzeln ist analog und scheinbar von gestern – Doch das alte Legespiel lebt und fasziniert auch die Generation Smartphone

- Von Matthias Röder und Petra Lawrenz

Jeder, der schon mal gepuzzelt hat, weiß, dass der Moment unweigerli­ch kommt: Nach der Anfangseup­horie („Der Rahmen ist schon fertig!“) wird es mühsamer, der Nacken verkrampft sich langsam, die Augen werden müde und an einer Stelle geht es einfach gar nicht weiter. Bis der Moment da ist, an dem man Stein und Bein schwört, dass ausgerechn­et in dieser Packung ein entscheide­ndes, besonders geformtes Teilchen fehlt. Verdammt. Tut es natürlich nicht, am Ende fügt sich doch eins zum anderen. Die letzten Pappteilch­en – Genuss, Stolz, Erlösung.

Bis dahin kann es dauern. Zumindest dann, wenn man vor einem Berg aus Zehntausen­den Puzzleteil­en sitzt. Was andere womöglich kapitulier­en lässt, macht Günther Simetsberg­er größten Spaß. „Das Puzzeln fasziniert mich.“Der 51-jährige Österreich­er sitzt tiefenents­pannt am Wohnzimmer­tisch und weiß Löwen, Elefanten, Giraffen, Nilpferde, Affen, Büffel, Flamingos und eine üppige Flora in seinem Rücken. Das Puzzle „Wild Life“an der Wand hat 33 600 Teile, ist 5,70 Meter breit und 1,57 Meter hoch. „Ich habe 115 Tage gebraucht, es waren 115 Tage Freude“, erinnert sich der ehemalige Monteur. Nach einem Arbeitsunf­all 2008 gab er den Job auf und ist nun als Saisonkraf­t in einer Schießbude auf dem Jahrmarkt beschäftig­t. Das Plus an Zeit investiert­e er in die Organisati­on der „World Puzzle Days“– einem internatio­nalen Kräftemess­en der Teilchen-Detektive.

„Aus Leidenscha­ft ist richtig Arbeit geworden“, bilanziert er mit Blick auf die zeitweise mehr als 700 Teilnehmer. Im Januar und Februar eines Jahres dokumentie­ren und vergleiche­n die Spieler unter anderem aus Argentinie­n, Mexiko, Brasilien, Spanien, der Türkei und Taiwan via Internet ihre Leistungen im Legespiel. Zuletzt hat die 52-jährige Emma González aus Mexiko alle um Längen geschlagen. In den 59 Tagen schaffte die Lehrerin 107 Puzzles mit 111 985 Teilen. „Gut, dass sie mit dem Zeitraffer eines Smartphone­s, das über dem Tisch montiert war, alles aufgenomme­n hat. So wissen wir, dass ihr niemand geholfen hat“, meint Simetsberg­er.

González ist in der Szene ein Star. Jüngst hat sie außer Konkurrenz an der türkischen Puzzle-Meistersch­aft teilgenomm­en und ihr scharfes Auge eindrucksv­oll bewiesen. „Ihre Leistung in Istanbul war phänomenal“, meint Simetsberg­er. Die Lehrerin brauchte für ein 250-teiliges Puzzle nur 33 Minuten und 59 Sekunden. Sie war damit elf Minuten schneller als die offiziell Besten.

Der genaue Blick ist die halbe Miete. „Sehr viele Teile verraten mit kleinen Hinweisen wie minimalen Farbabweic­hungen, wo sie hingehören“, meint Simetsberg­er, der früher gerne Halbmarath­ons bewältigt hat und sich nun umständeha­lber für die Ausdauerle­istung in der Wohnung entschiede­n hat. Eine weitere Erleichter­ung sei es, dass die Hersteller die Riesenpuzz­les in Beuteln zu je mehreren tausend Stück portionier­ten. Simetsberg­er macht aber nicht einen Beutel nach dem anderen, sondern arbeitet gleichzeit­ig an mehreren Teilfläche­n. „Ich will das Puzzle insgesamt wachsen sehen.“

Das Puzzeln ist rund 250 Jahre alt und wurde von einem Engländer erfunden. Das Prinzip scheint nie langweilig zu werden. „Der Markt ist stabil“, sagt eine Sprecherin von Europas Marktführe­r Ravensburg­er. Selbst die Generation Smartphone kann dem analogen Legespiel offenbar einiges abgewinnen. „Aus einer repräsenta­tiven Befragung wissen wir aber, dass neben Kindern zurzeit vor allem junge Erwachsene zwischen 20 und 29 Jahren besonders häufig puzzeln“, sagt Produktman­agerin Siglinde Nowak. Das alte System wird inzwischen ergänzt mit 3D-Puzzles und digitalen Angeboten. Die Auswahl ist groß. Allein Ravensburg­er bietet nach eigenen Angaben mehr als 600 Motive. Internatio­nal sind die Vorlieben verschiede­n. „Italiener lieben zum Beispiel Kunstmotiv­e, Schweizer bevorzugen schöne Landschaft­en, während Franzosen gerne Paris und den Eiffelturm puzzeln“, so Nowak. Es scheint allerdings gelegentli­ch, als ob die Motive gar nicht das Entscheide­nde beim Puzzlen sind. Dafür hat die Teilchensu­che an sich offenbar Suchtpoten­zial und stachelt zu besonderen Rekorden an: Da wären beispielsw­eise zwei vier Kilometer lange Puzzlemeil­en zu nennen, welche die Städte Königsbrun­n (Bayern) und Buxtehude (Niedersach­sen) beim Deutschen Puzzletag 2006 auf ihre Hauptstraß­en legten: Insgesamt 9000 hintereina­nder gelegte Puzzles mit rund zwei Millionen Teilen.

Nicht zu vergessen das Millionenp­uzzle: Zehn Jahre ist es her, dass rund 10 000 eifrige Puzzler auf dem Marienplat­z in Ravensburg exakt 1 141 800 Teilchen zusammenfü­gten zum größten Puzzle der Welt – ein einzigarti­ger Rekord in der Stadt der Spiele.

Das größte Puzzle von Ravensburg­er ist aktuell ein Disney-Motiv mit mehr als 40 000 Teilen. Zusammenge­setzt misst ein Exemplar über 13 Quadratmet­er. Angesichts der überschaub­aren Zielgruppe werden davon nicht allzu viele produziert. „Die Auflage ist dreistelli­g“, meint Sprecherin Katrin Hanger. Das Produkt steht auch bei Simetsberg­er auf dem Schrank – und gehört zu den nächsten Aufgaben.

Puzzeln hat das Leben des 51-Jährigen geprägt und entscheide­nd verändert. Als Jugendlich­er war er Kettenrauc­her und schon Fan des Spiels. Er stellte fest: „Nur beim Puzzeln habe ich nicht ans Rauchen gedacht.“Seine Entwöhnung­sstrategie war simpel und wirksam. Er nahm sich ein 3000er-Puzzle, das die französisc­hen Alpen zeigte, vor, brauchte dafür einen ganzen Monat – und war am Ende seine Nikotinsuc­ht los.

Es soll aber auch Fälle geben, in denen das fesselnde Hobby unerwünsch­te Nebenwirku­ngen hatte: Die Ehefrau eines leidenscha­ftlichen Puzzlers war offenbar so genervt, dass sie mit einer Handvoll Puzzleteil­en aus dem fast fertigen 12 000erPuzzl­e ihres Mannes die gemeinsame Wohnung verließ. Die geklauten Teilchen konnte der Ravensburg­er Kundenserv­ice dem frustriert­en Mann zwar ersetzen. Doch die Ehe der beiden ließ sich so leider nicht wieder zusammenfü­gen.

Das hält natürlich echte Fans wie Simetsberg­er nicht ab. Dem Österreich­er ist keine Hürde zu hoch, ein weiter blauer Himmel kein Problem. Nur bei Waldmotive­n werde er nervös, bekennt er. Bald hat er aber ein anderes Problem: Es wartet ein Puzzle mit 42 000 Teilen, das 7,49 Meter breit ist. Eindeutig zu groß für sein Wohnzimmer. „Vielleicht miete ich mir für den Sommer eine Garage.“

’’ Ich habe 115 Tage gebraucht, es waren 115 Tage Freude. Günther Simetsberg­er über seine enorm große Puzzleleid­enschaft

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FOTO: RAVENSBURG­ER

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