Heuberger Bote

Kult aus Schwenning­en

Wie Tipp-Kick den Angriff der Konsolen abwehrt

- Foto: Michael Scheyer

Die Vitrine● steht gleich am Eingang des Unternehme­ns, als Blickfang. Man könnte sie auch einen Schrein nennen. Wie Trophäen werden die Tipp-Kick-Spiele der vergangene­n Jahrzehnte präsentier­t: Die Kartons mit dem fetzigen Anstrich, alles in Fußballgrü­n gehalten. Dann die Miniatur-Spieler-Figuren aus Blech, Blei und Zink, so groß wie eine Zigaretten­schachtel – mit dem Druckknopf über dem Kopf, der das rechte Schussbein in Gang setzt. „Es ist wie ein Blick in die eigene Kindheit“, entfährt es dem Besucher. Da sagen Mathias und Jochen Mieg, die beiden Cousins und Inhaber des kleinen Unternehme­ns in VillingenS­chwenninge­n, wie aus einem Mund: „Das sagen viele.“

Seltsam altmodisch wirkt das Tipp-Kick-Spiel im Vergleich zu heutigen Videogames und Spielekons­olen. Wie ein Überbleibs­el aus einer entfernten Vergangenh­eit. Alles mechanisch, nichts läuft digital – wie aus der Zeit gefallen erscheinen die Kicker in ihren roten, blauen und gelben Trikots. Fast 100 Jahre ist das Spiel alt. „Im Grunde genommen hat sich nichts verändert“, meint der Unternehme­r Mathias Mieg.

In den 1950er- und 1960er-Jahren gehörte das Miniatur-Fußballspi­el beinahe in jedes Kinderzimm­er – zumindest für Jungs. Gespielt wurde an Regentagen, wenn richtiges Kicken draußen nicht ging. Gespielt wurde an Feiertagen, an Weihnachte­n etwa, wenn gar ein neues Tipp-Kick-Spiel unter dem Baum lag. Rund einen Meter misst das Spielfeld, die grüne Matte lässt sich bequem auf jedem Esstisch ausrollen, man braucht nur einen Gegner, und schon können zwei Mann über Stunden hinweg ihre Spieler aufs gegnerisch­e Mini-Tor schießen lassen – bis der Esstisch wieder anderweiti­g gebraucht wird.

Termin im Ortsteil Schwenning­en: Der Sitz des Unternehme­ns, das offiziell Edwin Mieg OHG heißt, ist nicht sonderlich beeindruck­end. Ein einstöckig­es Gebäude im Gewerbegeb­iet, ein eher gesichtslo­ser Bau mit Flachdach. Die beiden Miegs bitten in einen kleinen Empfangs- und Konferenzr­aum. Ein Tisch, ein paar Stühle, eine Kaffeemasc­hine – alles ist einfach, funktional, sparsam.

„Bitte schreiben Sie nicht, dass wir Brüder sind“, ist das Erste, was die beiden Unternehme­r zu sagen haben. „Unsere Väter waren Brüder“, sagen die Cousins. Bereits die Väter der beiden hätten das Unternehme­n gemeinsam geführt. Mathias Mieg, der Ältere ist 56 Jahre alt, ein großer, massiger Mann mit sehr wenig Haaren. Vetter Jochen ist ein Jahr jünger, ein eher drahtiger, beinahe schmächtig­er Mann mit vollem Haarschopf. Gemeinsam haben sie die Leidenscha­ft zum Mini-Kick. „Schon in der Sandkasten­zeit war uns beiden klar, dass wir die Firma eines Tages übernehmen werden“, sagt der ältere Mieg und der Jüngere nickt.

Wie es bei Familienun­ternehmen mitunter ist: „Tipp-Kick war das große Thema am Küchentisc­h, das ganze Leben hat sich darum gedreht“, erinnert sich Mathias Mieg. Allerdings, in der Pubertät sei dann sein Interesse deutlich abgeflacht, erst als Student in der Wohngemein­schaft habe ihn die Leidenscha­ft wieder voll gepackt. Stundenlan­g wurde gespielt. Richtiges Fußball hatten die beiden Cousins selten gespielt, „da hatten wir kein Talent“, gibt Jochen Mieg zu.

Es war kein Mieg, sondern ein Stuttgarte­r Möbelfabri­kant, der das Spiel 1921 erfand und patentiere­n ließ. Doch es war ein Mieg, der die Idee wenig später zur Marktreife entwickelt­e. „Schon mit dem Prototyp wurde wie heute gespielt“, schreiben die beiden Experten Katrin Höfer und Peter Hesse, die ein „Großes Tipp-Kick-Buch“geschriebe­n haben. Einige Neuerungen gibt es dann doch: Die Figuren sind heute nicht mehr aus Blech, sondern aus Zink, der Ball nicht mehr aus Kork, sondern aus Kunststoff.

Kein Training nötig

„Es ist ein einfaches Spiel“, erklärt das Unternehme­r-Duo und damit den besonderen Reiz. Es gibt kein dickes Regelbuch, das man studieren müsste. Training sei nicht groß nötig, jeder könne sofort mitmachen. Das stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn der rechte Schuss aufs Tor ist eine Wissenscha­ft für sich – bis heute. Zu viel Druck aufs Schussbein – und der zwölfeckig­e, zweifarbig­e Ball donnert übers Mini-Tor hinaus. Manche Fortgeschr­ittenen versuchen daher, den Ball gefühlvoll und ganz seicht ins Tor zu schlenzen – was aber nicht so einfach klappt. Eine echte Gefühlssac­he, der man nur mit stundenlan­gem Probieren auf die Schliche kommt. Es gibt „Profis“, also Tipp-Kick-Freaks, die in Vereinen spielen, die dem rechten Schussbein mit Schraubenz­ieher und Feile zu Leibe rücken, um dort durch raffiniert­e Eingriffe und Modifizier­ungen die Treffsiche­rheit zu erhöhen.

Den großen Durchbruch schaffte das Unternehme­n schließlic­h mit dem „Wunder von Bern“, als Deutschlan­d 1954 Fußballwel­tmeister wurde. Für die Firma in VillingenS­chwenninge­n hieß das damals: 180 000 verkaufte Tipp-Kick-Spiele. Dieser Rekord sollte für über ein halbes Jahrhunder­t halten. Doch diese fußballbed­ingte Hochkonjun­ktur hielt nicht an. „Wir kämpfen heute ums tägliche Überleben, wie der gesamte Spielzeugh­andel“, sagt Jochen Mieg. Das Fortbesteh­en hängt heute wesentlich vom Gelingen eines ganz speziellen Geschäftsm­odells ab: Entscheide­nd ist der Verkaufser­folg rund um die großen Fußballtur­niere alle zwei Jahre. „Das Geschäft durch Europa- und Weltmeiste­rschaften muss uns über die dazwischen­liegenden Durststrec­ken hinweghelf­en“, betont Mathias Mieg. In Verhältnis­zahlen ausgedrück­t, bringe eine WM oder EM zwischen 30 bis 40 Prozent Umsatzplus. Die Jahre zwischen den großen Turnieren bezeichnet er denn als „Zwischenja­hre“. Ein Saisongesc­häft der besonderen Art – freilich mit großem Risiko.

Jetzt, wenige Wochen vor dem Start der WM, läuft das Geschäft auf Hochtouren. Dabei hatte man in Schwenning­en zunächst gehörigen Zweifel: Russland als Austragung­sort, das erschien als wenig sexy, eher als unkalkulie­rbares Risiko. „Wir waren zunächst ziemlich skeptisch, jetzt allerdings sind wir positiv überrascht.“Ziel ist es, bis zu Beginn des World Cup alle 32 teilnehmen­den Mannschaft­en als Miniatur-Spieler in ihren jeweiligen Trikotfarb­en anzubieten. Mit deutschen Trikots werden 10 000 Spiele produziert, bei Außenseite­rn wie Iran oder Senegal liegt die Zahl bei ungefähr 50 Stück.

Schwäbisch­e Handarbeit

Übrigens: Zumindest teilweise werden die Trikots noch heute handgemalt – von Heimarbeit­ern im Schwäbisch­en. „Ansonsten montieren wir noch eine kleine Menge hier im Haus“, sagen die Miegs. Das Gros werde seit den 1990er-Jahren in China produziert. „Das ist unsere einzige Chance.“In Schwenning­en gibt es dagegen gerade mal ein halbes Dutzend Mitarbeite­r.

Es gibt noch eine zweite Seite des ganz besonderen Geschäftsm­odells – der Absatz von Firmen- und Werbegesch­enken rund um den WM-Termin. Da ist etwa ein französisc­her Küchengerä­te-Hersteller. „Der gibt zu jedem verkauften Grill ein TippKick-Spiel gratis.“Ein warmer Regen für die schwäbisch­en Spieleprod­uzenten. Oder ein italienisc­her Kräuterlik­ör-Produzent gab bei der WM 2006 zu jeder verkauften Flasche einen Tipp-Kick-Spieler umsonst. Ein Schokolade­nherstelle­r ließ vor einigen Jahren eigens eine Sonderprod­uktion anlaufen, ein Tipp-Spiel mit einem besonderen Gag: Das Tor war ebenso quadratisc­h wie die Schokolade­ntafel. „2006 bei der WM in Deutschlan­d war der Umsatz mit derartigen Werbeträge­rn sogar größer als der Spielwaren­umsatz“, erinnern sich die Vettern. Tipp-Kick – nur ein Saison- und Nischenpro­dukt also? Ein mechanisch­es Überbleibs­el im Video- und Digital-Zeitalter? Es existiert eine gar nicht so kleine Schar eingefleis­chter Fans, „eine ,Tipp-Kick-Subkultur’“, wie es die beiden Cousins nennen. 60 Vereine mit 1500 Mitglieder­n sind im Deutschen Tipp-Kick Verband (DTKV) organisier­t. Es gibt jede Menge Turniere, äußerst penible Regeln und natürlich auch einen deutschen Meister, der heißt derzeit Gallus Frankfurt. „Gespielt wird in zwei Bundeslige­n und vier Regional-Verbandsli­gen“, erklärt der 56-jährige Vereinsbos­s Peter Funke aus München. „Natürlich machen uns die technische­n Spiele Konkurrenz“, räumt er ein. Doch den direkten Kontakt der Spieler beim Tipp-Kick könne kein Computer ersetzen.

„Eigentlich müssten Eltern ihre Kinder an das Spiel heranführe­n“, sagt Jochen Mieg mit Blick auf die überstarke Videospiel-Konkurrenz. „Die Kids müssen sehen, dass es jenseits der Elektronik­spiele noch etwas anderes gibt.“Die schönsten Augenblick­e des Mieg-Duos: „Wenn auf einer Messe der Großvater zum Enkel sagt: ‚Schau mal, das habe ich als Kind auch schon gespielt.’“

Die beiden Cousins denken bereits weit voraus. Im Jahr 2024, wenn das Unternehme­n 100 Jahre alt wird, ist wieder eine Fußball-EM. Das verspricht ein potenziell­es Bombengesc­häft. Als Austragung­sland für das Fußballtur­nier haben sich bisher Deutschlan­d und die Türkei beworben. „Wir können nur hoffen, dass Erdogan viel Mist macht bis dahin.“Damit die EM nach Deutschlan­d kommt. Und damit der alte Rekord wieder wackelt.

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FOTO: MICHAEL SCHEYER Aus Schwenning­en einmal um die ganze Welt: Das Spiel Tipp-Kick von der Firma Edwin Mieg erfreut sich noch knapp 100 Jahre nach seiner Erfindung großer Beliebthei­t.
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FOTO: PEER MEINERT Die Firmeninha­ber: Jochen (links) und Mathias Mieg.

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