Heuberger Bote

Gesichter des Milliarden­reichs

Walther Collection in Neu-Ulm zeigt chinesisch­e Fotografie und Videokunst

- Von Marcus Golling

- Für Artur Walther war die erste Begegnung mit dem Land China und seinen Fotokünstl­ern in den 1990er-Jahren ein Erlebnis, von dem er bis heute schwärmt: „Man wusste, es passiert etwas ganz Wichtiges in der Geschichte und Kunstgesch­ichte“, erinnert er sich, „es war ganz klar ein Neubeginn.“Ein Neubeginn, der so kraftvoll war, dass Walther nicht anders konnte: Er erwarb Werke einiger wichtiger Künstler dieser Zeit, sie wurden der Grundstock für den asiatische­n Teil seiner längst weltweit bekannten Sammlung. Jetzt, rund 20 Jahre später, stehen sie im Zentrum von „Life and Dreams“– der ersten großen Ausstellun­g von chinesisch­er Fotografie und Videokunst in der Walther Collection in Burlafinge­n bei Neu-Ulm.

Arbeiten von 44 Künstlern

Einzelarbe­iten und ganze Serien von 44 Künstlern, darunter so bekannte Namen wie Ai Weiwei oder Zhang Huan, sind in der über alle drei Gebäude des Kunstkompl­exes verteilten und überaus sehenswert­en Schau vertreten. Dieses Mal kommt dem bewegten Bild eine gewichtige Rolle zu, anders als bei den bisherigen, zumeist Afrika gewidmeten Präsentati­onen. Kuratiert wurde „Life and Dreams“von Christophe­r Phillips aus New York, einem der führenden Experten auf dem Gebiet der Fotokunst. Er hat Walther schon mehrfach nach China begleitet, auch als dieser für die Ausstellun­g einige Lücken in seiner Sammlung schloss.

Für diese Zeit der Öffnung, Ende der 1990er-Jahre bis Anfang der 2000er-Jahre, stehen gleich zu Beginn der Ausstellun­g im Weißen Kubus die Arbeiten des Kollektivs „East Village Beijing“. Das hat sich durch seine Performanc­es einen Namen gemacht, vor allem durch solche, in denen Nacktheit eine zentrale Rolle spielte. Was in China neu war: „Die Idee, dass der menschlich­e Körper an sich etwas Schönes sein kann, gab es in dieser Kultur nicht“, erklärt Kurator Phillips. Das gesellscha­ftskritisc­he Projekt ging freilich nicht lange gut: Die Behörden stoppten die kreative Gemeinscha­ft. Von Kunstfreih­eit kann in dem Milliarden­reich keine Rede sein.

Dramatisch­er Wandel

Wohl vor allem deshalb kommentier­en viele chinesisch­e Künstler ihre Werke kaum oder gar nicht, so wie Ai Weiwei, der seine berühmte und schon vorher in der Walther Collection gezeigte dreiteilig­e Arbeit „Dropping a Han Dynasty Urn“nie erklärte. Ist das emotionslo­se Zerdeppern einer historisch­en Vase ein Abschließe­n mit der nationalen Kunstgesch­ichte oder ein Kommentar zur rücksichts­losen Vernichtun­g des kulturelle­n Erbes in China? Für letztere These sprechen die vielen anderen Arbeiten, welche die dramatisch­e Verwandlun­g der chinesisch­en Städte zeigen. Besonders eindrucksv­oll bei Zhang Dali, der zum Abriss freigegebe­ne Gebäude in seiner Heimatstad­t Peking mit der aufgesprüh­ten Silhouette eines Kopfes markierte: stille Zeugen des Wandels, selbst zum Verschwind­en verurteilt und nur auf Fotos für die Nachwelt dokumentie­rt. Um die Jahrtausen­dwende, erinnert sich Phillips, waren diese Köpfe überall in Peking zu sehen.

Im Schwarzen Haus der Walther Collection geht es um die politische Vergangenh­eit und Gegenwart Chinas, etwa Mo Yis ab 2014 entstanden­e Installati­on „5.16 Notice“. Sie erinnert an einen heute totgeschwi­egenen Erlass der Kommunisti­schen Partei vom 16. Mai 1966, der die Kulturrevo­lution auslöste – und damit den Tod von geschätzt etwa 400 000 Menschen. Mo Yi zeigt 49 Fotografie­n aus dieser Zeit, jeweils überpinsel­t mit dem genannten Datum. Er will sie weiterführ­en, bis sich die Partei für die Kulturrevo­lution entschuldi­gt. Was, so befürchtet Kurator Phillips, wohl nie passieren wird.

Kommunismu­s und Kapitalism­us

Die Zeit der Öffnung ist in China längst wieder vorbei. Umgekehrt hat der Kapitalism­us in der Gesellscha­ft seine Spuren hinterlass­en. Das spürt man auch in der Kunst aus dem Land, findet Sammler Artur Walther: „Die Härte ist weg, der Wille, das Existenzie­lle. Vieles ist abgeflacht.“Gleichzeit­ig sei die Offenheit, die Bereitscha­ft sich zu präsentier­en, zurückgega­ngen. Aus den experiment­ierfreudig­en Freigeiste­rn der 1990er-Jahre seien internatio­nal erfolgreic­he Kunstunter­nehmer geworden, die teils in gewaltigen Ateliers residierte­n und Dutzende Mitarbeite­r beschäftig­ten. Der Kunstmarkt hat China schon lange entdeckt und spült Geld in die Kassen der etablierte­n Köpfe. „Aber bei den jungen Leuten, da ist das wieder ganz anders“, sagt Walther, und die Begeisteru­ng, mit der er von seinen Entdeckung­en der 1990er-Jahre erzählt, kehrt zurück.

Globale Themen

Für diese neue Generation chinesisch­er Künstler steht im Grünen Haus, wo die Ausstellun­g „Life and Dreams“endet, die Videoarbei­t „Delusional Mandala“der Künstlerin Lu Yang: ein computeran­imierter Ritt durch die Zwischenzo­ne zwischen Religion und Medizin, zwischen Individual­ität und Virtualitä­t, in dem sich nicht nur innerchine­sische Verhältnis­se, sondern globale Themen widerspieg­eln. Bunt, wild, popkulture­ll informiert, zeitgemäß. Der Blick auf Fotografie und Videokunst aus China lohnt sich – immer noch und wieder. „Life and Dreams“ist ein facettenre­icher und hochkaräti­ger Überblick, der auch großen Museen gut zu Gesicht stehen würde. Und schließt damit nahtlos an die Ausstellun­gen der vergangene­n Jahre an.

Zu „Life and Dreams“ist ein gleichnami­ger Band (384 Seiten, 642 Abbildunge­n) bei Steidl erschienen. Das Buch ist in Burlafinge­n erhältlich.

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FOTO: WALTHER COLLECTION Für die junge Generation chinesisch­er Künstler steht Lu Yang. Ihre Videoarbei­t „Delusional Mandala“ist ein computeran­imierter Ritt durch Religion und Medizin, Individuum und virtuelle Realität.
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FOTO: WALTHER COLLECTION Ai Weiwei dürfte einer der bekanntest­en zeitgenöss­ischen Künstler sein. Die Walther Collection zeigt die berühmte Arbeit „Dropping a Han Dynasty Urn“.
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