Misfits auf Mission
Die Vegas Golden Knights, Team der Aussortierten, greifen nach dem Stanley Cup und geben so ihrer Stadt die Freude wieder
Deryk Engelland ist Las Vegas. So sehr, wie einer Las Vegas nur sein kann, der in den Urtagen seiner Eishockey-Karriere für die Las Vegas Wranglers in der East Coast Hockey League verteidigt hat. Der seine Frau in Las Vegas kennenlernte, dessen zwei Söhne in Las Vegas geboren sind. Der in Las Vegas Haus und Heimat hat, Rückzugsort in mittlerweile neun Wanderjahren National Hockey League. Deryk Engelland ist Las Vegas, 2017/18 mehr denn je: Drei Siege noch über die Washington Capitals nach dem 6:4 vom Montag, dem 2:3 vom Mittwoch, dann wären die Vegas Golden Knights Stanley-Cup-Sieger. Als Expansion Team, als NHLEinsteiger! Überreicht bekäme die Trophäe? Vermutlich Deryk Engelland. Einer der gleichberechtigten Kapitäne der Knights ist der 36-Jährige, ein Führungsspieler – und: die Überraschung in der Überraschungsmannschaft aus der Wüste Nevadas.
Der 22. Juni 2016 war der Tag, an dem aus einer kühnen Vision des Unternehmers William P. „Bill“Foley II das 31. Franchise der National Hockey League wurde: die Vegas Golden Knights. Dem „Ja“der Liga folgte jede Menge Feinarbeit. Die T-Mobile-Arena, für umgerechnet 320 Millionen Euro erbaut, wollte gefüllt sein – bald waren alle 16 000 Dauerkarten verkauft. Ein Trainer wollte gefunden sein – Knights-Mehrheitseigner Foley holte Gerard Gallant. Den hatten die Florida Panthers eben erst mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt, in Las Vegas vertraute man seiner Hockey-Idee. „Wir wollen körperbetont spielen, viel skaten, aggressiv forechecken und hart arbeiten“, versprach der 54-Jährige. Wer „wir“sein würde, entschied neben Geldgeber Foley und Coach Gallant zuvorderst George McPhee. Ein General Manager mit reichlich Erfahrung (auch aus 17 Spielzeiten bei Finalgegner Washington!) und Verhandlungsgeschick. Der richtige Mann für den Expansion Draft, jenes Prozedere, bei dem ein neues NHLMitglied seine Mannschaft zusammenstellt. 30 Spieler aus den 30 anderen Clubs konnten die Knights im vergangenen Juni verpflichten – sofern sie nicht zu den jeweils geschützten, sprich: den besten Akteuren ihrer Arbeitgeber gehörten. Eine Auswahl von gefallenen Talenten, von Wandervögeln und Mitläufern kann so ein Expansion Team werden, George McPhee puzzelte ein Ensemble aus ambitionierten Zweit- und Drittlinienspielern zusammen. Ihnen gemeinsam war: Sie wollten sich beweisen.
Taten sie. William Karlsson zum Beispiel, der 25-jährige Schwede, war bei den Columbus Blue Jackets in seiner auffälligsten Saison mit 28 Scorerpunkten notiert; nach aktuell 99 Einsätzen im Knights-Dress führen die Statistiken den Mittelstürmer mit 50 Toren, 43 Vorlagen und einer PlusMinus-Bilanz von +58. Die wohl erstaunlichste Entwicklung, keineswegs die einzige: 16 der Misfits – der Verstoßenen, Unerwünschten, wie sie sich mit einiger Selbstironie nennen – weisen 2017/18 Karriere-Bestwerte auf. Marc-André Fleury etwa, mit den Pittsburgh Penguins dreimal ganz oben, zuletzt aber nur deren Torhüter Nummer 2. Gegentorschnitt jetzt: 2,24 (Regular Season) beziehungsweise 1,88 (Play-offs). „Ich habe“, sagt Marc-André Fleury, „gerade eine richtig gute Zeit.“Angreifer James Neal weiß: „Mit ,Flower‘ im Tor hast du immer die Chance zu gewinnen.“
Mit Deryk Engelland in der Verteidigung auch. Sentimentalitäten wollten kritische Stimmen als Grund dafür erkannt haben, dass George McPhee den Mittdreißiger von den Calgary Flames zurück nach Las Vegas lotste, einen Defensivverteidiger, Marke unspektakulär-grundsolide. Unspektakulär? Grundsolide? Fünf Tore, 20 Assists, 38 Strafminuten nur und 184 geblockte Schüsse, Vertragsverlängerung schon Mitte Januar, in den Play-offs je Spiel 22:14 Minuten auf dem Eis – nie war er so wertvoll wie heute. Gerard Gallant: „Deryk ist noch besser, als ich gedacht habe. Er ist ein wichtiger Faktor in unserem Team – ein großartiger Leader.“
Das speziell zeigte sich am 10. Oktober vergangenen Jahres. Die Heimpremiere der Vegas Golden Knights in der NHL stand an, der Roadtrip zum Saisonstart hatte ein 2:1 bei den Dallas Stars und ein 2:1 nach Verlängerung in Arizona gebracht. Doch die Stadt trug Trauer nach dem 1. Oktober, nach dem Amokschützen-Massaker beim Musikfestival „Route 91 Harvest“mit 58 Toten und 851 Verletzten. Kein FanFest, keine PR-Auftritte, beschloss das Team, 300 000 Dollar flossen stattdessen an die Familien der Opfer. Eishockeyspieler spendeten Blut, besuchten Kliniken und Ersthelfer. Und: Eishockeyspieler fanden die richtigen Worte. Deryk Engelland fand die richtigen Worte. Wohl wissend, „es ist nur Hockey, nur ein Spiel“, wandte er sich vor dem ersten Bully an die 18 191 auf den Rängen, beteuerte, wie stolz er sei, „Las Vegas meine Heimat zu nennen“, und gab sein Wort: „Wir werden alles tun, damit diese Stadt heilt.“Das Debüt auf eigenem Eis endete, erneut gegen die Arizona Coyotes, 5:2; zum 2:0 traf Deryk Engelland.
Die Misfits hatten eine zweite Mission fortan: vom kollektiven Schmerz ablenken, für kurze Zeit wenigstens, mit Siegen idealerweise. 51 wurden es aus 82 Partien, 109 Punkte bedeuteten Platz eins in der Pacific Division der NHL. Zwölf von 15 Play-off-Duellen wurden danach bis zum Finaleinzug gewonnen, heute Abend sieht Washington Endspiel Nummer 3.
Für Deryk Engelland ist es der 594. NHL-Einsatz. Der 97., seit er Las Vegas ist. Mehr denn je Las Vegas ist: Drei Siege noch ...