Blutgrätsche am Arno
Italien fährt zwar nicht zur Fußball-Weltmeisterschaft, bestreitet aber trotzdem ein Endspiel – Der „Calcio Storico“in Florenz ist der vielleicht verrückteste Kick der Welt
Emilio ringt nach Luft. Seine Lungen sind ausgepumpt, sein Körper verschwitzt. Arme und Beine zieren blaue Flecken. Giovanni hat es noch ärger erwischt. Er blutet, hat eine Platzwunde über dem Auge. Mitten in Florenz kämpfen 54 Männer um den Sieg. Zwei Mannschaften, die sich bekriegen. „Calcio in Costume“oder „Calcio Storico“heißt die Schlacht. Ein historisches Fußballspiel, das den Florentinern so lieb ist wie den Münchnern ihr Oktoberfest. Am Johannistag, dem 24. Juni, steht es wie immer auf dem Festprogramm. Denn mit dem Brutalo-Kick ehren die Italiener vor allem ihren Stadtpatron.
„Mit dem Spiel“, weiß der Vorsitzende des Festkomitees, „halten wir eine alte Tradition am Leben“. Seit Jahrhunderten nämlich kämpfen Bürger aus verschiedenen Stadtvierteln Jahr für Jahr um Sieg und Ehre. Meist auf den großen Plätzen der Stadt, im Winter früher auch gern auf dem zugefrorenen Fluss Arno. Heute heißt das Schlachtfeld Piazza Santa Croce, umgeben von großen Tribünen. Mitten drin ein sandiges Rechteck, halb so breit wie lang. Eine staubige Arena, bestückt mit Fernsehkameras, die das Match in alle Wohnstuben tragen. Gern auch in Zeitlupe, wenn es sein muss.
Denn der Calcio ist kein gewöhnliches Sportereignis. Eher schon ein Massenspektakel, ein Kampf der Gladiatoren mit großem Vor- und Nachspiel. Historisch mutet schon der Auftakt an, der Aufzug aller Teilnehmer. Schon mittags treffen sie sich beim Dominikanerkloster Santa Maria Novella, ein paar Schritte neben dem Hauptbahnhof. Mit dabei ein weißes Kälbchen, der Siegespreis für den vielleicht interessantesten Kick der Welt.
Eine rote Lilie ziert das weiße Banner der Stadt, das die Florentiner ihrem Zug voraus tragen. Dahinter uniformierte Truppen, Feldmeister und Fähnriche, Trommler und Trompeter, Hellebardenträger und Rittersleute. Die meisten zu Fuß, ein paar hoch zu Ross. An den alten Adelspalästen vorbei, quer über die Piazza della Signora mit ihren Denkmälern, schreitet der historisch kostümierte Tross zur Arena. Stolz zeigen die Zünfte ihre Fahnen. Kaufleute, Richter, Notare, Ärzte, Apotheker, Pelzhändler, Metzger, Schuster, Schmiede, Schlosser, Wirte und viele andere. 21 Gruppen, die einst das Leben am Arno bestimmten.
Zwischen den Zünften in Seide und Samt haben sich die Kämpfer versteckt, vier Mannschaften mit je 27 Spielern. Vier Teams stellvertretend für die vier wichtigsten Innenstadt-Pfarreien Santo Spirito, Santa Croce, Santa Maria Novella und San Giovanni. Blau, weiß, rot und grün sind ihre Trikots. Weit die Hemden und plüschig die Hosen, so wie man im 16.Jahrhundert eben zum Fußballspielen antrat. Betreten die Kicker schließlich die Arena, wird es laut auf den Tribünen. „Vorwärts, Ihr Grünen“, brüllen die Fans vor der mächtigen Kirchenfront. „Auf, Ihr Roten“, tönt es aus dem Block gegenüber. Rote und Grüne haben sich für das Endspiel qualifiziert, Weiße und Blaue im Halbfinale besiegt. Als Helden aber fühlen sich nur die, die heute gewinnen.
Wie beim Fußball gibt es auch beim Calcio einen Torwart, Verteidiger, Läufer und eine Sturmreihe. Große Netze an der Breitseite bilden die Tore. Nicht weit weg steht ein kleines Zelt für Spielführer und Fähnrich. Erinnerung an die militärischen Ursprünge des Kampfes sind das, den so ähnlich schon die Griechen und Römer kannten. Denn genau betrachtet waren die Ballspiele Wehrübungen. Exerzitien, in deren Rahmen der junge Adel Kampfeslust und Heldenmut beweisen musste.
Gewöhnlich fanden die Spiele zu Fastnacht statt, aber auch zu Staatsbesuchen und anderen gesellschaftlichen Anlässen. Besonders bekannt wurde jenes Spiel im Jahr 1530, als kaiserliche Truppen Florenz belagert hatten. Damals wurde der Kick nur für den Feind vor den Stadttoren organisiert, dem man so zeigen wollte, dass man noch lange nicht erschöpft oder geschlagen sei. Genau 400 Jahre später wurde das alte Spiel in historischen Kostümen neu inszeniert, und damit die im 18. Jahrhundert verschwundene Tradition des Calcio belebt. Vor allem auch für die Fremden, zu deren Gefallen das Festkomitee die Spiele vom Winter in den Sommer verlegte.
Wie immer gibt ein Kanonenschuss den Ball frei. Sekunden später schon landen die ersten im Sand, denn der Calcio ist mehr Rugby als Fußball, über weite Strecken gar reiner Ringkampf. Gezielte Würgegriffe setzen die quirligsten Torjäger matt. Früher wurden diese Haudraufs gern unter sogenannten „galleotti“(Vorbestraften) rekrutiert. Unter aktenkundigen Raufbolden, die man von Mailand bis Palermo im Rotlichtmilieu anheuerte. 2006 lief das Spiel so komplett aus dem Ruder, dass es schon nach wenigen Minuten abgebrochen werden musste. Die Kämpfer hinderte das nicht, sich unter den Augen der Polizei noch eine Stunde weiter zu prügeln. 2007 war das Spiel deshalb verboten, danach wurde es mit neuen Regeln wieder aufgenommen. Spaß aber hatte damit keiner mehr, sodass man Mühe hatte, überhaupt noch zwei Mannschaften für einen Kampf zu finden.
Inzwischen aber sind wieder alle Pfarrbezirke an Bord. Zur Hebung der Spielkultur darf keiner der Kombattanten Vorstrafen haben. Außerdem muss jeder Spieler ein ärztliches Zeugnis vorlegen, das ihm eine robuste Gesundheit bescheinigt. Fausthiebe und Fußtritte aber gibt es noch immer – und Tore, nach denen traditionell die Seiten des Spielfelds gewechselt werden.
Das Endspiel vor der Kirche Santa Croce wird immer spannender, auch wenn den Kämpfern langsam die Luft ausgeht. Ein Spiel dauert 50 Minuten. Es gibt keine Pausen, unterbrochen wird nur, wenn Sanitäter das Spielfeld betreten müssen, was hin und wieder der Fall ist. Immer häufiger greifen die Kämpfer nach den Wasserflaschen, immer häufiger aber auch müssen Ringmeister und Schiedsrichter jetzt eingreifen. Der sportliche Wettkampf ist zum Prestigeduell zweier Stadtviertel geworden, so als erwarte den Sieger der Himmel, die anderen die Hölle.
Auch auf den Zuschauerrängen ist der Teufel los. Rauchschwaden ziehen durch die Arena, bengalisches Feuer in Grün und Rot. Noch einmal brüllen die Fans ihre Mannschaften nach vorn. Viele Kämpfer aber liegen längst im Sand oder hängen erschöpft in den Armen ihrer Kontrahenten. Sie alle hoffen, dass der Calcio bald zu Ende ist. Dann aber folgt ein Schrei aus vielen tausend Kehlen: Schon wieder ein Tor, der Ausgleich, Verlängerung droht. Wer jetzt das nächste Tor schießt, ist Sieger. Die Roten sind es schließlich, ganz so wie es die Fachleute prophezeit hatten. Die Grünen wollen es nicht fassen, hadern mit den Schiedsrichtern.
Irgendwann ist dann – wie fast immer – die Polizei auf dem Platz, mit Helmen auf dem Kopf und Knüppeln in der Hand. Die Hüter der Ordnung sollen verhindern, dass die Hitzköpfe noch einmal aneinandergeraten. Vor allem aber sollen sie dafür sorgen, dass die Fans ruhig bleiben, der Calcio nicht wie so oft in einer Massenschlägerei endet. Auch die Mannschaftsführer sind gefragt, um Trost zu spenden und Übermut zu dämpfen. Mancher Recke weint aus Freude, andere aus Wut oder Trauer. Denn die Schlacht vor Santa Croce ist vor allem ein Kampf der Gefühle. Für Sieger und Verlierer – und für die vielen, die das Spektakel vor einem der vielen Bildschirme verfolgen.
Mit dem Spiel halten wir eine alte Tradition am Leben. Der Vorsitzende des Festkomitees über das historische Spektakel