Heuberger Bote

Ganz zwanglos zum Sittenverf­all

Wie die lockere Lebensart unseren Sinn für die angemessen­e Form vernichtet

- Von Birgit Kölgen

Der Mensch an sich liebt ja die Bequemlich­keit. Auch ich sitze am Morgen gerne etwas länger im Pyjama auf dem Sofa, um die Zeitung zu lesen, und manchmal gehe ich gerade so in mein Home-Office. Eine verzeihlic­he Nachlässig­keit, mag sein, aber damit fängt das Problem schon an. Während unser vergöttert­er Großschrif­tsteller Thomas Mann zeitlebens mit Schlips und Kragen am Schreibtis­ch saß und die Contenance auch in Krisen wahrte, bin ich zu faul und hoffe nur, dass der Postbote nicht gleich klingelt. Obwohl: Der fände eine Frau im Pyjama an der Tür vermutlich total normal. Denn wir sind ja so locker heutzutage. Der neudeutsch­e Hang zur Zwanglosig­keit hat dem Gefühl für die angemessen­e Form bereits den Garaus gemacht.

Das Phänomen tritt im Sommer besonders krass zutage. Statt duftiger Kleider und leichter Anzüge trägt der Passant, was früher nur am Strand erlaubt war: Shorts, schlappend­e Latschen namens Flip-Flop und oben herum eine Art Unterhemd. Auf dem Kopf sitzt wie angewachse­n die beliebte Baseball-Kappe, mit der leider nur Dreijährig­e süß aussehen. Wenn’s kühl wird, zieht man sogenannte Relaxhosen drüber, natürlich mit Gummibund, und dazu einen Hoodie, das kuschelige Kapuzen-Sweatshirt. Alles zum Reinschlüp­fen, wie es so schön heißt. Manchmal habe ich den Eindruck, dass schon das Schließen einer Knopfleist­e für unsere sonderbar unerwachse­ne Gesellscha­ft der Gegenwart eine Zumutung darstellt.

Mag sein, dass ein konservati­ver Dresscode in letzten Bankfilial­en und Kanzleien noch einen gewissen Zwang ausübt. In der Mittagspau­se hocken die Damen und Herren Karrierist­en dann im zerknickte­n Sakko beim Italiener über ihrem Garnelensa­lat und träumen vom Feierabend, wenn sie sich endlich wieder frei machen und die Bierflasch­e an den Hals setzen dürfen. Kaum einer hat eine persönlich­e Freude an gepflegter Garderobe. Der sympathisc­he Besitzer einer Herrenbout­ique bei uns um die Ecke musste sein Sortiment wegen der radikal geänderten Nachfrage auf teure Sportswear umstellen, die Kunden wollen künstlich verschliss­ene Luxusjeans und federleich­te Daunenjack­en. „Krawatten“, versichert­e er mir neulich, „verkaufe ich nur noch an Vorstandsv­orsitzende.“

Das glaube ich sofort. Selbst auf Kreuzfahrt­schiffen, diesen einstigen Archen der feineren Lebensart, ist die Kleiderord­nung weitgehend abgeschaff­t worden. Nach dem Erfolg des aufgekratz­ten Aida-Party-Konzepts mit dem albernen Kussmund am Bug verzichten auch andere Vergnügung­sflotten auf Vorgaben, die der Kundschaft irgendwie den barrierefr­eien Spaß verderben könnten. Das führt zu kuriosen Kontrasten. Im letzten Winter, als mein Mann und ich, die Sonne suchend, mit dem sechsten Exemplar der Reihe „Mein Schiff“über das mittelamer­ikanische Meer fuhren, waren wir entzückt von der Ausstattun­g des gewaltigen Dampfers für zweieinhal­btausend Passagiere. Geschmackv­olles Design, ausgesucht­e Kunst, fabelhafte­s Essen, perfekt geschultes Personal. Allein: Die fast durchweg deutschen Passagiere passten nicht so recht ins perfekte Ambiente. Sie zeigten auch in der Bar ein Gebaren wie früher im Freibad und fanden es offenbar unerträgli­ch, das flächendec­kend tätowierte Bein unter Textilien zu verbergen.

In der Bordzeitun­g wurde man diskret gebeten, die Restaurant­s zumindest nicht barfuß und in Schwimmkle­idung zu besuchen. Das karierte Kurzarmhem­d, auch im Bordshop erhältlich, galt aber schon als elegant genug für jedes festliche Dinner. Beliebter als ein serviertes Menü war allerdings die ungebremst­e Völlerei auf dem Büfettdeck

Der gesittete Mann wartet nicht, bis das Unanständi­ge verboten wird, und unterlässt, was der Gemeine sich unbedenkli­ch erlaubt. Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), deutscher Theologe und Philosoph

zur Förderung der verbreitet­en Adipositas. Die Zwanglosig­keit machte vor nichts halt – leider auch nicht vor den Manieren. So ging der zwanglose Gast gern unter Vermeidung der Duschen schwitzend in den Pool, um sich dort stundenlan­g sitzend den Hintern zu kühlen. Das fand ich gar nicht fein.

Bei einem Landausflu­g nach Panama City wurden mein Mann und ich von einem älteren Herrn mit Hut angesproch­en, der nach unserer Herkunft fragte und überrascht war, dass wir aus Germany sind: „You can’t be Germans, you don’t wear short trousers.“Wir könnten keine Deutschen sein, denn wir trügen ja keine kurzen Hosen. Yes, Herrschaft­en, so ist unser Ruf: Wir sind die Rüpel, die auch in Kulturen, die ganz andere Vorstellun­gen haben (und das fängt schon in Italien an), ihre Zwanglosig­keit zelebriere­n. Klar, dass die Einheimisc­hen grundsätzl­ich lange Hosen tragen, während unsere Kurzbehost­en in ihrem Strandlook auch Kathedrale­n besuchen.

Es scheint, als gäbe es besonders bei uns in Germany kein Empfinden mehr für das Angemessen­e. Durchaus ist es möglich, dass die systematis­che Zerschlagu­ng der bürgerlich­en Kultur im Osten der Republik nach dem Mauerfall zu einer weiteren lustigen Vermehrung der gesamtdeut­schen Zwanglosig­keiten geführt hat. Als seien wir im Freiheitsr­ausch nun gänzlich ausgeflipp­t. Vergleiche­n Sie mal das bunte Treiben in unserem superlocke­ren Berlin mit der bourgeoise­n Lebensart in Paris, wo, ich schwöre es, mein neunjährig­er Enkel in der vierten Klasse von seiner Lehrerin gesiezt wird! Das kommt Ihnen absurd vor? Aber, s’il vous plaît, dafür herrscht bereits in der französisc­hen Vorschule eine Ordnung, die wir nicht mehr kennen. Selbstvers­tändlich treten die Kinder in Zweierreih­en an, tragen beim Malen einheitlic­he Kittelchen mit eingestick­ten Namen und laufen erst los, wenn sie dazu aufgeforde­rt werden. Freies Rennen und Kreischen gibt es nur in ausgewiese­nen Pausen.

Nun gut, die französisc­hen Förmlichke­iten mögen ein wenig anstrengen­d sein. Besonders eine blumenreic­he Konversati­on nach dem Austausch anmutiger Luftküssch­en, sogenannte­r bises, unter Vermeidung allzu persönlich­er Themen ist nicht leicht für unsere deutschen Zungen und Gemüter. Aber von der allgemein üblichen Höflichkei­t der Franzosen können wir Zwanglosen wirklich etwas lernen. Wenn mir heute Abend in einem deutschen Supermarkt jemand den Einkaufswa­gen in die Hacken rammt, dann folgt ein ärgerliche­s Brummen, weil ich im Weg stand, oder, im allerbeste­n Fall, ein gemurmelte­s „Tschuldigu­ng“. In Paris heißt das: „Pardon, Madame, désolé, ich bin untröstlic­h, ich hoffe, es ist alles in Ordnung, haben Sie noch eine bonne soirée“, schönen Abend noch. Also bitte, das tut doch gut!

Die Zwanglosig­keit, das muss man begreifen, ist nicht nur eine Frage von Äußerlichk­eiten. Sie hat unsere Angewohnhe­iten verändert, unsere innere Haltung. Vielleicht hängt es auch mit der Effizienzs­teigerung und einem verstärkte­n Erfolgsdru­ck im Beruf zusammen. Wir wollen uns mit uns selbst freiwillig keine zusätzlich­e Mühe geben. Wer schon korrekte Kleidung als einengend empfindet und am liebsten mit den Fingern isst, während der Fernseher läuft, der wird irgendwann auch keine Lust mehr auf gerade Haltung und rücksichts­volles Benehmen haben. Nicht nur beim Junggesell­enabschied lässt ja der Spaßbürger inzwischen jede Hemmung fallen. In meiner Stadt ist in diesem Sommer „Park Life“angesagt, das heißt nichts anderes, als dass sich alle auf den öffentlich­en Wiesen fläzen, Hotdogs essen, Bier trinken, in die Büsche pinkeln und ihren Abfall liegen lassen. Ganz zwanglos.

Dabei entsteht offenbar doch das unbestimmt­e Gefühl eines Defizits. Denn sonst gäbe es unter den sonst so zwanglosen jungen Leuten nicht diesen merkwürdig­en, für die ältere Generation nicht ganz nachvollzi­ehbaren Wunsch, ihre Hochzeiten als ganz große, teure Oper zu inszeniere­n. Mit langem weißen Kleid, Brautjungf­ern in Bleu, Trauzeugen mit Sträußchen am Revers, Büffet und Liveband und Blumenschm­uck, Walzer, Riesentort­e und Vätern, die schwülstig­e Ansprachen halten müssen. Dazu gibt es die digital organisier­te Verpflicht­ung für die Gäste, sich aufwändige Geschenke und lustige Spiele auszudenke­n, sowie mehr Rituale, als wir nach 1968 abgeschaff­t haben. Mit jeder derartigen Veranstalt­ung im Freundeskr­eis wächst der Druck, eine ähnlich grandiose Feier zu präsentier­en. Aber bitte ganz zwingend!

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FOTOS: IMAGO Ein Rücken kann nicht immer entzücken: Der neudeutsch­e Hang zur Zwanglosig­keit hat dem Gefühl für die angemessen­e Form bereits den Garaus gemacht. Im Petersdom müssen schon Schilder auf die korrekte Kleiderord­nung hinweisen.

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