Heuberger Bote

„Shoah“-Regisseur Lanzmann gestorben

Der große Filmemache­r Claude Lanzmann ist tot

- Von Rüdiger Suchsland

(AFP) - Mit der Holocaust-Dokumentat­ion „Shoah“schrieb er Filmgeschi­chte, nun ist der französisc­he Regisseur Claude Lanzmann in Paris gestorben. Der Regisseur des preisgekrö­nten Films aus dem Jahr 1985 wurde 92 Jahre alt. Lanzmann setzte sich Zeit seines Lebens für das Gedenken an die Opfer der Nazizeit und den Kampf gegen den Antisemiti­smus ein. Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier würdigte Lanzmann als „unermüdlic­hen Mahner gegen das Vergessen“.

- Was für ein Einfall! Ein Friseur in New York schneidet seinen Kunden die Haare. Währenddes­sen erzählt er die schrecklic­hsten Dinge – denn der Friseur war 30 Jahre zuvor Häftling in einem deutschen Konzentrat­ionslager. Dies ist eine der vielen Szenen aus „Shoah“, die man nie wieder vergisst. Und ein typischer Einfall von Claude Lanzmann. Keiner vermochte wie er, Menschen dazu zu bringen, dass sie erzählten, was sie nie wieder erzählen wollten. Claude Lanzmann ist im Alter von 92 Jahren in Paris gestorben.

„Shoah“, Lanzmanns neunstündi­ger Dokumentar­film über die Ermordung der europäisch­en Juden, wurde nach 1985 zum Meilenstei­n der Erinnerung­skultur. Der Regisseur fand Wege, die Überlebend­en zum Reden zu bringen. Sie sprachen über das Unaussprec­hliche. Wie ein Minenarbei­ter des Grauens förderte er tief Verborgene­s zutage.

Es ist das Paradox dieses Films, dass er nicht vom Überleben erzählen will. Das wäre obszön angesichts der Millionen, die nicht überlebt haben. Und doch braucht er die Überlebend­en, um dem Morden und Sterben und den Toten eine Stimme zu geben.

Lanzmann war an nichts so sehr gelegen wie an der Verteidigu­ng der Bilder gegen ihren Selbstverr­at und gegen ihre Abnutzung. Er hasste das Kino, das fortwähren­d kommentier­te, das Zitate von Augenzeuge­n aneinander­reihte, um bestimmte Themen „abzuhaken“. Er ließ seine Augenzeuge­n ausspreche­n und bot so dem Ungeheuerl­ichen Raum.

Zugleich misstraute er dem plumpen Realismus des „genau so ist es gewesen“. Oder Originalau­fnahmen, schon weil diese im Fall der Lager ja von den Tätern stammen mussten. Dafür glaubte Lanzmann an die Worte, und an die Dauer. Er konnte der Zeit Zeit lassen.

Freund Sartres und Beauvoirs

Wer dem großen breitschul­trigen Mann mit der tiefen Stimme und der stolzen, auf den ersten Blick etwas unnahbaren Art begegnete, hätte es nicht sofort geglaubt, aber Lanzmann war ein überaus feinfühlig­er und ein demütiger Mensch.

Er hat alles gemacht, was ein Mensch seiner Generation machen konnte: Mit 16 Jahren kämpfte der 1925 geborene jüdische Franzose in der Resistance gegen die deutsche Besatzung. Dann lebte er gute zwei Jahre als Soldat in Deutschlan­d, lernte die Sprache und studierte deutsche Philosophe­n. Er traf in Heidelberg den Nazi-Gegner Karl Jaspers, bevor er in das Paris der Existenzia­listen eintauchte. Der 20 Jahre ältere Jean-Paul Sartre war nicht nur Vorbild und Mentor, er wurde ein Freund und Weggefährt­e, und einige Jahre lang war Lanzmann, ein verführeri­scher „Homme á Femmes“, auch der Liebhaber von Sartres Lebensgefä­hrtin Simone de Beauvoir.

Später wurde er Journalist. Erst eine Israelreis­e, die er mit über 40 Jahren unternahm, wurde für ihn zum Erweckungs­erlebnis: Da besann er sich auf sein Jüdischsei­n und begann zwölf Jahre lang für „Shoah“zu recherchie­ren.

Am Ende seines Lebens wurde Lanzmann mit seiner Autobiogra­fie „Der patagonisc­he Hase“noch ein Bestseller­autor, drehte weiter Filme: Sein letzter, „Napalm“, eine autobiogra­fische Erzählung über seinen Nordkoreab­esuch Mitte der 1950erJahr­e, lief erst letztes Jahr in Cannes. Seine übrigen Filme waren Fußnoten, Epiloge und Ergänzunge­n zu dem Meilenstei­n „Shoah“.

Vielleicht sein persönlich­ster Film ist „Sobibor“, in dem er den extremen Ausnahmefa­ll im großen Morden erzählt: Den geglückten Aufstand der Häftlinge eines Vernichtun­gslagers, die Flucht und das Überleben – in „Shoah“wäre das fehl am Platz gewesen.

Hier aber ging es wie schon in seinem allererste­n Film über Israel um wehrhafte Menschen, um Widerstand, auch gegen das Absurde und Unmögliche. Es ist das Handeln, das Lanzmann immer thematisie­rt hat. Im Interesse für diese existenzie­llen Augenblick­e, in denen sich ein Leben entscheide­t, entpuppt sich Claude Lanzmann als Erbe der Philosophi­e seines Lehrers Jean-Paul Sartre. ANZEIGE

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FOTO: AFP Claude Lanzmann ist im Alter von 92 Jahren gestorben.

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