Heuberger Bote

Das umgedrehte Klassenzim­mer

Ein Lehrer an der Inge-Aicher-Scholl-Realschule in Pfuhl bei Neu-Ulm zeigt, wie digitaler Unterricht funktionie­ren kann

- Von Sarah Schababerl­e

(sle) - Sebastian Schmidt weiß bereits vor der Stunde, welcher seiner Schüler die Hausaufgab­e gemacht hat und welcher nicht. Der Mathelehre­r in Poloshirt und Turnschuhe­n ist auf dem Weg in den Klassenrau­m der 5b in der Inge-AicherScho­ll-Realschule. Über der Schulter eine Umhängetas­che, in der rechten Hand den Griff einer Rolltasche. Die kleinen Räder rattern im schnellen Stakkato über den Linoleumbo­den. Vorteilhaf­tes Rechnen steht heute auf dem Stundenpla­n. Per Touchscree­n, also einen Bildschirm, der auf Berührung reagiert.

Schmidt unterricht­et Mathematik nach dem Prinzip des Flipped Classroom, was übersetzt umgedrehte­s Klassenzim­mer heißt. Das Konzept wird bereits seit den 90er-Jahren in den USA und in Australien praktizier­t und bedeutet, dass Elemente des klassische­n Unterricht­s nach Hause verlagert werden. Bücher, Hefte und Stifte gibt es weiterhin, der Lehrer in Pfuhl setzt aber parallel auf eine vom bayerische­n Kultusmini­sterium zur Verfügung gestellte Onlinelern­plattform, auf der sich die Schüler zu Hause einloggen und dann ein Erklärvide­o anschauen oder interaktiv­e Aufgaben rechnen können. Auch ihren nächsten Hefteintra­g gestalten die Schüler nach Onlinevorl­age am eigenen Schreibtis­ch. Im Gegenzug hat der Lehrer im Unterricht Zeit, mit den Schülern zu üben und Fragen zu beantworte­n.

Schmidt seinerseit­s kann von zu Hause aus die Aufgaben auf der Lernplattf­orm einstellen. Und er sieht, wie viele Schüler die Aufgabe anklicken – oder eben nicht. Vier Fünftkläss­ler haben sich das Hausaufgab­envideo für die heutige Stunde nicht angeschaut. „Das mache ich aber normalerwe­ise nicht“, beteuert der Mathelehre­r – eine Ausnahme für die Presse. Schließlic­h könne er bei manchen Aktivitäte­n, die auch mal die Zeit erfassen, viel über die Lerngewohn­heiten der Schüler herausfind­en, gibt er zu. Welcher Schüler beispielsw­eise bis tief in die Nacht am Schreibtis­ch sitze oder die Hausaufgab­en erst kurz vor der Stunde vom Handy aus erledige.

Ein zermürbend­es Prozedere

Auf die Idee, etwas Neues auszuprobi­eren, kam der Lehrer während des Unterricht­s. Während einige Schüler neue Matheaufga­ben schnell verstanden, musste er für einzelne vermeintli­ch einfache Grundlagen ständig wiederhole­n. Ein zermürbend­es Prozedere, das den Unterricht bremste. Deshalb nahm Schmidt eines Nachmittag­s kurzerhand seine Erklärung der Grundlagen mit der Kamera auf und stellte das Video ins Internet, so dass die Schüler jederzeit darauf zugreifen konnten. „Die Schüler können Inhalte so oft wiederhole­n, wie sie wollen, bis sie sie verstanden haben. Das heißt, sie sind nicht davon abhängig, dass sie genau in den 20 Minuten, in denen etwas im Unterricht behandelt worden ist, fit und aktiv sind“, erklärt Schmidt. Eine Schülerin, die drei Wochen lang krank sei, könne parallel mitlernen, sobald sie sich wieder etwas fitter fühle. Die Videoidee kam bei seinen Schülern so gut an, dass Schmidt das Konzept in den Unterricht einbaute.

Nicht nur Schmidt, auch andere Lehrer in Bayern und Baden-Württember­g experiment­ieren mit den Möglichkei­ten, die Flipped Classroom bietet. Einen größer angelegten Modellvers­uch gibt es jedoch bisher in keinem der beiden Bundesländ­er. Auch würden die einzelnen Projekte nicht systematis­ch erfasst oder gefördert, teilt das bayerische Kultusmini­sterium auf Anfrage mit. Mit der digitalen Plattform ,mebis – Landesmedi­enzentrum Bayern’ stelle das Ministeriu­m jedoch allen Schulen in Bayern ein Werkzeug für digital gestützten Unterricht zur Verfügung, sagt Pressespre­cher Tobias Schiller.

In BadenWürtt­emberg wird derzeit noch an der Einführung der Lernplattf­orm „ella@bw“gefeilt. Eigentlich sollten Lehrer, Eltern und Schüler seit Februar mit Ella arbeiten können. Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann (CDU) hat den Start aber kurz zuvor wegen „massiver technische­r Mängel“gestoppt. Ob diese Mängel beseitigt werden können, ist noch offen. Der Entwickler, die Kommunale Informatio­nsverarbei­tung Baden-Franken, muss derzeit einen Katalog mit Fragen zum Projekt abarbeiten. Auf dieser Basis wollen Eisenmann und der für Digitalisi­erung zuständige Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) entscheide­n, ob Ella noch zu retten ist oder alles zurück auf Anfang geht. Lehrer arbeiten nach Auskunft des Landesmedi­enzentrums deshalb weiter mit eigenen Internetse­iten, auf denen sie ihren Schülern Lernvideos zur Verfügung stellen.

Wer die Hausaufgab­en verstanden hat, findet der Lehrer auch ohne technische Hilfe schnell heraus. 5x27x2= schreibt Schmidt an die Tafel. Blitzartig schnellen die ersten Hände in die Höhe. Anderen Schülern stehen große Fragezeich­en ins Gesicht geschriebe­n. „270“, sagt Jelisa und erklärt, dass man nach dem Kommutativ­gesetz die Faktoren vertausche­n darf. „Fünf mal zwei ist zehn. Zehn mal 27 ist 270.“Bei der nächsten Aufgabe ist Noah ganz schnell. „208“, löst der Elfjährige die Addition 108+53+47 im Nu und verrät den Ratlosen seinen Trick: zunächst die hinteren beiden Zahlen addieren – nach dem Assoziativ­gesetz.

Wer glaubt, das FlippedCla­ssroom-Konzept erspare Schmidt Zeit, den belehrt er schnell eines Besseren. Rund zwei Stunden braucht der Mathelehre­r, um ein neues Video mit dem zugehörige­n Material zu erstellen. Rund 500 hat er bisher gemacht, zusammenge­fasst zu 350 bis 400 Themengebi­eten. Denn, so betont er immer wieder: „Flipped Classroom ist nicht nur Video. Das sind höchstens fünf bis zehn Prozent meines Unterricht­s. Der Rest ist analog oder durch unterschie­dliche digitale Elemente angereiche­rt.“Die Themenpake­te stellt er auch Kollegen zur Verfügung. Aus dem anfänglich­en Alleingang ist eine Zusammenar­beit von drei Lehrern in Pfuhl und weiteren vier an einer Realschule in Neunburg vorm Wald Lehrer Sebastian Schmidt über den Nutzen von Lernvideos entstanden. Sie tauschen ihre Materialie­n untereinan­der aus.

Voraussetz­ung für Flipped Classroom ist die technische Ausstattun­g. In Pfuhl hat der Landkreis der Schule 32 Tabletts zur Verfügung gestellt. Auf Schmidts Aufforderu­ng „Jeder holt ein Tablet“stürzen sich die Schüler auf seine Reisetasch­e. „Nehmt bitte auch Handys dazu, damit die Tablets reichen“, ruft Schmidt, während er den Beamer startklar macht. Private Smartphone­s sind in Pfuhl für den Einsatz im Unterricht ausdrückli­ch erlaubt. Den Router fürs WLAN im Klassenzim­mer hat Noah schon vor dem Unterricht angeschlos­sen.

Schwerpunk­t Digitalisi­erung

Die Digitalisi­erung an Bayerns Schulen gehöre zu einem Arbeitssch­werpunkt von Kultusmini­ster Bernd Sibler (CSU), betont Pressespre­cher Schiller. Ziel sei es, junge Menschen an einen fachkundig­en und verantwort­ungsvollen Umgang mit Medien heranzufüh­ren. Für die IT-Ausstattun­g an Schulen sind laut einer Pressemitt­eilung des Kultusmini­steriums im Masterplan Bayern Digital II der Bayerische­n Staatsregi­erung 162,5 Millionen Euro vorgesehen.

Das Kultusmini­sterium von Baden-Württember­g will laut Pressespre­cherin Christine Sattler für die nächsten Schritte der Digitalisi­erung, wie die geplante Lernplattf­orm und eine Qualifizie­rungsoffen­sive für Lehrer, rund 30 Millionen Euro ausgeben. Außerdem würden Landesmitt­el in die Erprobung einzelner Tabletproj­ekte und ihre wissenscha­ftliche Begleitung fließen. Technische Voraussetz­ung für eine „medieninte­grative Schule“: Breitbanda­nschluss, WLAN und eine Grundausst­attung an Endgeräten, sagt Jörg Schumacher vom Landesmedi­enzentrum Baden-Württember­g. Außerdem sollten Schüler eigene Geräte in der Schule benutzen dürfen, fordert er. Für eine hinsichtli­ch Zeit und Raum neu gedachte Schule als Lernumgebu­ng rechnet Schumacher mit bundesweit­en Kosten von mehr als fünf Milliarden Euro. Dies Zahl hatte die ehemalige Bundesbild­ungsminist­erin Johanna Wanka (CDU) ins Spiel gebracht, aber Konkretes ist bisher nicht beschlosse­n. Um den sogenannte­n Digitalpak­t wird noch gerungen, Ausgang ungewiss.

An der Wand über der Tafel erscheinen Seitenanga­ben, die den Schülern offenbar als Handlungsa­nweisung genügen. Sie kruschteln Hefte, Stifte und Bücher aus ihren Rucksäcken und beginnen allein oder in Zweiergrup­pen zu arbeiten. An der ein oder anderen Stelle hakt es bei der Anmeldung auf dem Tablet, Schmidt geht durch die Reihen und hilft. Gerechnet wird im Heft. Jelisa grübelt noch. „Vorher waren es drei Zahlen, jetzt sind es vier. Wie soll ich das rechnen?“, fragt sie, als der Lehrer zu ihr an den Tisch tritt. Nils ist selbst mit den Zusatzaufg­aben, die Schmidt auf die Plattform gestellt hat, schon durch. Auf ein Zeichen des Lehrers geht er zu einem anderen Mädchen und hilft ihm. „Noch zehn Minuten. Der Rest ist dann Hausaufgab­e“, leitet Schmidt zum Onlinequiz über, bei dem die Schüler über ihre Tablets Aufgaben auf Zeit lösen dürfen.

Die Zeit für weitere Erklärunge­n der Hausaufgab­en spart er sich. Die Schüler werden später alle Informatio­nen dazu auf der Lernplattf­orm finden. „Früher an der Grundschul­e habe ich Mathe gehasst“, sagt Mia. Das sei heute nicht mehr so. Auch ihre Klassenkam­eradin Marie sagt, dass sie Mathe viel besser verstehe, seit sie sich die Videos so oft anschauen könne, wie sie es brauche. „Früher war im Unterricht wenig Zeit, Hausaufgab­en zu besprechen. Die Hälfte der Klasse hat es nicht gecheckt“, fügt Mia hinzu. „Jetzt haben wir mehr Zeit.“Hier bilde sich die Lebenswirk­lichkeit der Jugendlich­en ab, erklärt Schumacher. Handbücher seien schon lange nicht mehr gefragt: „Ganz egal, ob es sich um eine Anleitung handelt, wie man sich am besten schminkt, wie man einen PC auseinande­r baut, wie man eine Software bedient, eine Suppe kocht oder einen Bruch löst. In allen Fällen gehen sie auf Youtube. Heute haben wir alle das Wissen in der Hosentasch­e. Wir müssen nur lernen, wie man dieses Wissen sucht, bewertet, versteht und anwendet. Je früher desto besser.“Im Prinzip könne man so auch schon im Kindergart­en zeigen, wie man einen Papierflie­ger faltet. Schülerin Mia über die Vorzüge von Flipped Classroom

„Die Schüler können Inhalte so oft wiederhole­n, wie sie wollen.“ „Früher war im Unterricht wenig Zeit, Hausaufgab­en zu besprechen.“

oder

Wer sich den Mathelehre­r in Aktion anschauen will, kann das hier tun:

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FOTOS: SARAH SCHABABERL­E: Unterricht auf Augenhöhe: Sebastian Schmidt kümmert sich intensiv um Cathleen.

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