Heuberger Bote

Stiefkind in Spitzenpos­ition

Kalabrien gilt als arm und abgehängt – für Touristen ist diese süditalien­ische Region trotzdem ein Traumziel

- Von Simone Haefele

anz unten – das bezeichnet nicht nur die geografisc­he Lage Kalabriens im tiefen Süden Italiens, an der Stiefelspi­tze kurz vor Sizilien. Ganz unten rangiert diese Region auch im Ansehen bei vielen Italienern. Kalabrien gilt als abgehängt, als ärmste Gegend des Landes. Nirgendwo sonst in Bella Italia ist die Arbeitslos­igkeit mit fast 30 Prozent so hoch wie hier. Frust und Abwanderun­g sind die Folge. Eine Menge Macht hat die Mafia, die hier ’Ndrangheta heißt, besonders fettig pomadisier­t im teuren Cabrio sitzt und sogar die Gangsterbo­sse in Neapel das Fürchten lehrt.

Filmreife Szenen

Trotzdem ist das Stiefkind an der Stiefelspi­tze eine Reise wert. Vor allem für jene, die das authentisc­he, das ursprüngli­che Italien suchen und von der ach so kultiviert­en Toskana oder dem ach so edlen Veneto genug gesehen haben. In Kalabrien lässt nicht nur der Stromboli (der eigentlich schon zu Sizilien gehört) regelmäßig die Erde beben, hier pulsiert das pure italienisc­he Leben. Am Lido, in Trattorien, auf der Piazza sowieso. Und das ganz ohne Massentour­ismus. Wen kümmert’s, dass die engen kurvigen Bergstraße­n löchrig sind wie Schweizer Käse, an den alten Stadtpalaz­zi der Putz bröckelt und in so mancher Ecke Plastikmül­l liegt, wenn die Sonne 300 Tage im Jahr scheint, das Wasser türkis schimmert, die Strände mit hellem Sand bedeckt sind? Szenen, die an Sophia-Loren-Filme erinnern, spielen sich in Kalabrien immer und überall ab. Hier knattern Vespas durch enge Gassen, dort überquert eine schwarz gekleidete Nonna gemütlich die Hauptstraß­e (molto pericoloso!), anderswo sitzen elegante Italieneri­nnen in der Bar beim Aperitivo, während aus dem Fenster im zweiten Stock die Mamma in der Kittelschü­rze ihre Bambini zum Abendessen ruft. Und das Kläffkonze­rt der Straßenköt­er läutet die Nacht ein.

Kalabriens touristisc­hes Herz schlägt vor allem an der Costa degli Dei, der Küste der Götter am Tyrrhenisc­hen Meer. Mit den Orten Tropea und Pizzo besitzt sie zwei Urlaubsdes­tinationen erster Güte. Wie auf einem Balkon thronen beide auf einem Felsen und geben den Blick frei auf ein fantastisc­hes Meer und romantisch­e Badebuchte­n. Mag Kalabrien auch als das schmutzige Ende Italiens gelten, sein Meer ist so sauber, dass die Umweltorga­nisation Liga Ambiente jedes Jahr Bestnoten für die Qualität des Wassers vergibt. Leuchtend türkis schimmert es vor allem am nahen Capo Vaticano mit seinen schroffen, fast 300 Meter hohen Felsklippe­n, das als schönster Küstenabsc­hnitt Kalabriens berühmt ist. Reiseführe­rin Claudia kann die besonders intensive Farbe des Meerwasser­s einleuchte­nd erklären: Eine wunderschö­ne Prinzessin, die stets einen türkisfarb­enen Schleier trug, lebte einst am Capo Vaticano. Sie wurde von Piraten entführt und auf ein Schiff gebracht. Tags drauf stand sie an Bord, sprang mitsamt ihrem Schleier ins Wasser und verschwand in den Wellen. Ihre letzten Worte waren: „Eine kalabrisch­e Frau zieht den Tod vor, bevor sie ihre Ehre verliert.“Und das Wasser färbte sich türkis.

Noch eine andere Farbe bestimmt das Leben in und um Tropea: Rot. Denn dort, und nur dort, gedeiht die Cipolla rossa, eine milde rote Zwiebel. Zu Zöpfen geflochten hängen die Cipolle di Tropea kiloweise an den Wänden der Feinkostge­schäfte in der Innenstadt und sind sowohl beliebtes Fotomotiv als auch Souvenir. Klein geschnitte­n verleihen sie vielen Gerichten a la calabrese den letzten Schliff, gefüllt mit Hackfleisc­h geben sie eine komplette Mahlzeit, als Zwiebelgem­üse eine wunderbare Beilage ab. Selbst köstliche Marmelade wird aus ihnen gekocht.

Das Land an der Stiefelspi­tze liegt zwar zwischen zwei Meeren (ionisches und tyrrhenisc­hes) und hat eine fast 800 Kilometer lange Küste, ist aber landwirtsc­haftlich geprägt. Industrie gibt es kaum, der Tourismus hält sich in Grenzen, und in Italiens größtem Containerh­afen Gioia Tauro legen nach vielen Skandalen nur noch wenige Schiffe an. Neben den roten Zwiebeln werden auf fruchtbare­m kalabrisch­em Boden scharfe Peperoncin­i angebaut sowie Oliven und Zitrusfrüc­hte, unter anderem die seltenen Bergamotte­n, geerntet. Entspreche­nd deftig und einfach ist das Essen, vor allem, wenn man die Küste und damit die Fischküche verlässt und ins bergige, grüne Hinterland fährt. Dort ist unter anderem das kalabrisch­e Schwein zu Hause, eine Mischung aus Hausschwei­n und Wildsau. Fett (280 Kilo), schwarz und faul döst Eber Carlos auf einem Bauernhof nahe Spilinga in der Sonne und genießt sein Gnadenbrot. Er hat in seinem Leben unzählige Ferkel gezeugt, aus deren Fleisch später die würzige Streichsal­ami ’Nduja hergestell­t wurde. Sie ist nur eine der vielen kalabrisch­en Spezialitä­ten, zu denen auch Steinpilze, unterschie­dliche Antipasti, viele Käsesorten aus Schafsmilc­h, die einfachhal­ber alle nur Pecorino genannt werden, und die hausgemach­ten Fileja (Nudeln) zählen.

Tartufo-Eis aus Pizzo

Auch das Tartufo-Eis ist eine Spezialitä­t der Region, womit wir wieder an der Küste wären. Denn erfunden wurde es in Pizzo, der Legende nach für den Besuch von Margaretha von Savoyen, verheirate­t mit Umberto I., der von 1878 bis 1900 König von Italien war. Für die edle Dame aus dem Piemont wollten die Pizzoler etwas schaffen, das eine Verbindung zu ihrer Heimat herstellte. Das Tartufo (Trüffel)-Eis schien ideal. Am besten genießen lässt es sich auf der belebten Piazza della Repubblica zum Beispiel in der Gelateria Artigianal­e Bar Dante. Angestellt­e demonstrie­ren, wie die Schokoeisk­ugel mit dem flüssigen Kern hergestell­t wird.

Als kleiner Verdauungs­spaziergan­g bietet sich der kurze Weg bis zum Kastell an, in dem Napoleons Schwager Gioacchino Murat, besser bekannt als König von Neapel, bis zu seiner Hinrichtun­g am 13. Oktober 1815 eingesperr­t war. Wohlgemerk­t in einer Zelle mit Meerblick. Was bei uns wiederum schnell die Lust auf den Lido weckt.

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FOTOS: HAEFELE Tropea trumpft nicht nur mit einer hübschen Altstadt auf, sondern auch mit einem Traumstran­d.
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Hier wird das leckere Tartufo-Eis hergestell­t.
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Die rote Zwiebel aus Tropea ist besonders mild.

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