Tattoos als Therapie
Mit den Schwingen des Phönix auf der Brust raus aus dem tiefen Tal der Depression
- Auf David Telmanns (Name von der Redaktion geändert) Brust prangt ein großer Phönix, wiedergeboren aus Flammen und Asche. Die Federn der ausgebreiteten Flügel ragen über seinen kompletten Brustkorb. Die Flammen, aus denen der Phönix aufsteigt, bedecken fast den kompletten Bauch. So groß die Tätowierung des 51-Jährigen ausgefallen ist – gesehen hat sie fast noch nie jemand. Keine der Personen, die David Telmann nahestehen, kennt sie. Nicht seine Eltern, nicht die Freunde oder Arbeitskollegen. Noch nicht einmal seine drei Geschwister wissen davon, obwohl er mit einem seiner Brüder zusammenwohnt. Keiner von ihnen ahnt, dass Telmann von den Schlüsselbeinen bis zu den Knien tätowiert ist.
Genauso geheim wie das Abbild des auferstehenden Phönix auf seiner Brust und zwei indische Gottheiten auf den Oberschenkeln ist Telmanns Motivation, sich diese Motive in seine Haut stechen zu lassen. Die bunten Farben auf seinem Körper sind das Ergebnis einer sehr düsteren Zeit in Telmanns Leben. Der mittelgroße Mann mit den feinen Fältchen um die Augen, dichtem Bart und schwarzen Haaren lacht viel. Wenn er von den schwierigen Phasen in seinem Leben erzählt, wirkt es, als treffe ihn das kaum noch, als habe er längst komplett abgeschlossen mit diesem Lebensabschnitt.
Dabei kämpfte der pflichtbewusste Verwaltungsangestellte jahrelang mit Depressionen, ausgelöst durch zu viel Arbeit. Telman fühlte sich an seinem Arbeitsplatz mit schwierigen Aufgaben alleingelassen, schlichtweg überlastet. „Es wurde mir alles zu viel“, erklärt er. „Jede Woche habe ich in etwa 60 bis 65 Stunden gearbeitet und an den Wochenenden nur noch geschlafen.“
Telmann ist am Stadtrand von Ravensburg aufgewachsen. 1987, nach der Schulzeit, hat er eine kaufmännische Ausbildung absolviert, danach als Verwaltungsangestellter im Landkreis Ravensburg gearbeitet. Fünf Jahre lang ging alles gut. Dann erhielt er ein neues Aufgabengebiet. Nur ungenügend eingelernt, wurde er mit den Anforderungen in seiner neuen Abteilung komplett alleingelassen und fühlte sich schnell total überfordert. „Da haben die körperlichen Beschwerden angefangen“, erinnert er sich. Herzrhythmusstörungen, Schweißausbrüche, Zittern, Schlaflosigkeit und hoher Blutdruck sind nur ein paar der Symptome, die ihn plagten. „Es ist erstaunlich, dass ich so lange durchgehalten habe“, erzählt er. „Es ist, als stünde man neben sich. Ich habe mich von außen betrachtet, als sei ich eine Maschine und kein Mensch mehr. Nur noch da, um zu funktionieren. Das war eine sehr düstere Zeit“, schildert er mit ruhiger Stimme.
Sieben schwere Jahre
Sieben lange Jahre leidet Telmann unter Burn-out und Depressionen. „Dann ging es einfach nicht mehr.“Er fängt an, Medikamente zu nehmen, beginnt eine Gesprächstherapie. Der Auslöser für seine Entscheidung, endlich etwas zu unternehmen: Zwei seiner Bekannten nehmen sich innerhalb nur eines Monats das Leben. „Das war ein Alarmzeichen für mich. Ich dachte, ich muss jetzt etwas tun, sonst ende ich genauso.“Die Therapie, die Telmann 2002 beginnt, hilft dem damals 37-Jährigen, zumindest am Anfang. Auf Empfehlung seines Arztes fängt er mit autogenem Training an, ist jedoch bald danach auf der Suche nach etwas, das ihm mehr Bedeutung in seinem Leben gibt. Er entdeckt Yoga für sich: Das ruhige Atmen, sich auf sich selbst zu fokussieren und äußere Umstände auszublenden – das hilft ihm letztendlich nach und nach aus seiner Depression. Kurz darauf wechselt er den Arbeitsplatz.
„Als ich die Depression überwunden hatte, war das wie eine Wiedergeburt für mich, und als sie dann ein paar Jahre her war und nicht wiederkam, war der Phönix das richtige Symbol“, erzählt der 51-Jährige. 2008 lässt er sich tätowieren. Bereits 2002, zu Beginn seiner Yogapraxis, lässt sich Telmann auf einen Oberschenkel den Dreizack der indischen Gottheit Shiva tätowieren. Er symbolisiert die Dreiheit aus ewigem Leben, absolutem Bewusstsein und absoluter Glücksseligkeit. Alles Dinge, die Telmann erreichen möchte. Ein paar Jahre nach dem Phönix muss auf den anderen Oberschenkel die Gottheit Ganesha. Sie gilt als Glückssymbol und steht wie der Phönix für einen Neuanfang.
Mit Hinduismus hatte der gläubige Christ bis dato nichts am Hut, die Motive auf seinem Körper repräsentieren jedoch den Wandel in seinem Leben. „Es war mir wichtig, dass ich das immer ganz nah bei mir habe. Eben als Erinnerung an die schwere Zeit und wie ich das alles überwunden habe“, erklärt Telmann.
Seine Tätowierungen zur Schau stellen oder damit prahlen, was er ge- schafft hat, das will er nicht. „Wenn mein Vater nur einen Wutanfall bekommen würde, dann würde es eigentlich ganz gut laufen. Aber ich glaube, er würde mit mir nichts mehr zu tun haben wollen, wenn er erfahren würde, dass ich tätowiert bin“, befürchtet der gebürtige Ravensburger. Denn in seiner Familie sind Tattoos verpönt. Nur verruchte, zwielichtige Gestalten oder Leute, die im Gefängnis waren, hätten Tätowierungen, hört er vonseiten seiner Verwandten.
Telmann ist in einem konservativen Umfeld aufgewachsen. „Bei uns in der Gegend hat man sehr darauf geachtet, was andere sagen. Bei Tattoos würde es definitiv heißen, er ist auf die schiefe Bahn geraten“, glaubt Telmann, auch wenn er so gar nichts von einem Verbrecher oder einer zwielichtigen Person an sich hat. Nur ein braver Verwaltungsangestellter, mit einem freundlichen Gesicht und rot kariertem Hemd, das ordentlich in seine Jeans gesteckt ist.
Auch bei seinem Arbeitgeber würden Tattoos wahrscheinlich nicht so gut ankommen. „Ich würde nicht unbedingt gekündigt, aber von vielen Leuten schräg angeschaut werden“, denkt Telmann. Sich tätowieren zu lassen, betrachtet er als persönliche Entscheidung, die andere Leute gar nichts angehe. Gleichzeitig waren die Tattoos für Telmann ein Weg, um ein Stück weit aus seinem Umfeld auszubrechen. „Ich wollte aus dieser Enge irgendwie raus, aber eben nicht an die Öffentlichkeit. Die Grenzen zu überschreiten, sollte einfach nur für mich persönlich sein“, erklärt er.
Manchmal hat er Angst, dass seine Familie rausfinden könnte, dass er tätowiert ist. „Das wäre eine ganz schreckliche Situation, denn ich bin schon ein ziemlicher Familienmensch“, sagt er über sich selbst. Deswegen hat er seiner Familie auch nichts von seiner Depression erzählt. „Das alles hat mich selbst genug belastet. Ich wollte das Ganze nicht noch auf jemand anderem abladen. Meine Mutter hätte bestimmt nur noch geweint“, glaubt Telmann.
Trotz der gelegentlichen Ängste bereut er seine Tätowierungen nicht. „Wenn es mir so lange eine Bedeutung gegeben hat, dann glaube ich, ist es gut so. Und ich bin ja immer noch derselbe Mensch, nur eben etwas bunter“, bekräftigt Telmann und lacht.
„Bei Tattoos würde es definitiv heißen, er ist auf die schiefe Bahn geraten.“David Telmann erklärt, weshalb er seine Tattoos versteckt