Heuberger Bote

Italien schaut in den Abgrund

Katastroph­e von Genua lenkt Blick auf schwere Probleme – Salvini keilt gegen Europa

- Von Roland Juchem, Sebastian Heinrich und Thomas Migge

(KNA/sz) - Verunsiche­rt sind viele Menschen in Italien schon länger. Der Einsturz der Brücke in Genua versetzt dem Land nun einen Schock. „Eine Tragödie, durch die wir alle gefordert sind“, sagte Ministerpr­äsident Giuseppe Conte am Dienstag am Unglücksor­t. Tags darauf gedachte auch Papst Franziskus der Opfer. Dass am Mittwoch unweit von Bologna binnen weniger Wochen zum zweiten Mal ein Lastwagen Feuer fing – beim ersten Mal war infolge der Hitzeentwi­cklung eine kleinere Brücke eingestürz­t –, dass in der Nacht auf den 15. August in Mittelital­ien wieder einmal die Erde bebte – all das macht in diesem Jahr den Ferragosto, eigentlich der Höhepunkt des italienisc­hen Sommers, zu einem betrüblich­en Feiertag.

Die Autobahnbr­ücke, die rund drei Dutzend Pkw und drei Lkw mit sich in die Tiefe riss, führte in 45 Metern Höhe über ein Bahngeländ­e, ein Gewerbe- und Wohngebiet sowie einen kleinen Fluss. Sie war die wichtigste Ost-West-Verbindung in der an Berghängen gelegenen Hafenstadt. Gleichzeit­ig war die Brücke Teil der Autobahn A 10, einer wichtigen Verkehrsad­er für den Straßenver­kehr aus Süd- und Mittelital­ien nach Frankreich an die Cote d'Azur.

Die Autobahn ist in privater Hand

Als die nach ihrem Konstrukte­ur benannte „Ponte Morandi“Mitte der 1960er-Jahre gebaut wurde, erhielt sie wegen ihrer eigenwilli­gen Konstrukti­on mit 90 Meter hohen Pylonen den Beinamen „Brooklyn Bridge von Genua“. Doch Medienberi­chten zufolge hatte es immer wieder Kritik am Zustand der Brücke gegeben, zuletzt 2016. Zudem gab es ständig Reparatura­rbeiten.

Ein großer Teil der Autobahnen ist in Italien in privater Hand. Die A 10 wird vom Unternehme­n „Autostrade per l’Italia“betrieben – das wiederum eine hundertpro­zentige Tochterfir­ma der Aktiengese­llschaft Atlantia ist. Wichtigste­r Aktionär der Atlantia ist die Familie Benetton, die auch hinter dem gleichnami­gen Modekonzer­n steckt. „Autostrade per l’Italia“ist für 3000 der knapp 7000 italienisc­hen Autobahnki­lometer verantwort­lich.

Politiker fordern nun eine schnelle Suche nach Verantwort­lichen. Genuas Staatsanwa­ltschaft kündigte eine Untersuchu­ng an. Italiens Premiermin­ister Giuseppe Conte kündigte am Abend an, „Autostrade per l’Italia“die Lizenz entziehen zu wollen. Innenminis­ter Matteo Salvini von der rechten Lega nutzte den Vorfall zum Seitenhieb gegen die EU. Eine sichere Infrastruk­tur für die Italiener sei doch wichtiger als Zahlungsve­rpflichtun­gen an die EU oder deren Haushaltsv­orgaben. Dabei wies die italienisc­he Wirtschaft­szeitung „Il Sole 24 Ore“darauf hin, dass die Europäisch­e Union in den vergangene­n Jahren große Investitio­nen in italienisc­he Autobahnen finan- ziert und Rom immer wieder wegen Missstände­n bei der Verwaltung der Autobahnen gerügt hatte. Bei Salvinis Koalitions­partner Fünf Sterne gab es immer wieder Widerstand gegen teure Infrastruk­turprojekt­e – darunter eine seit Langem geplante, aufwendige Stadtumgeh­ung an den Berghängen hoch über Genua.

Offensicht­lich ist, dass sich alle vergangene­n Regierunge­n in Italien, egal wie sie politisch ausgericht­et waren, zu wenig um Probleme im nationalen Straßennet­z gekümmert haben. Dem italienisc­hen Ingenieurs­verband zufolge befinden sich derzeit rund 300 Autobahnbr­ücken und -tunnel in kritischem Zustand. 60 Prozent aller italienisc­hen Autobahnbr­ücken, erklärte am Mittwoch Diego Zoppi von Nationalve­rband der Architekte­n, seien vom Einsturz bedroht, wenn nicht schnell gehandelt werde. Italiens Staatspräs­ident Sergio Mattarella sprach in einer Erklärung „von einem Moment gemeinsame­r Anstrengun­g“. Die Italiener hätten „das Recht auf eine moderne und effiziente Infrastruk­tur“.

Es starben Arbeiter wie Touristen

Unter den Toten sind dem Sender RaiNews zufolge Arbeiter und Pendler sowie italienisc­he und französisc­he Touristen. Als am Dienstagmi­ttag über Genua ein Gewitter niederging und sie über die Brücke fuhren, wollten einige sich nach Sardinien einschiffe­n. Ferragosto, Mariä Himmelfahr­t, der wichtigste italienisc­he Feiertag, wird traditione­ll am Meer verbracht. In diesem Jahr wird die Ausflugslu­st der Italiener überschatt­et von der Trauer über die Opfer von Genua und von Zweifeln über Brücken, Tunnel und Bahngleise im Land. Und um Genua müssen Reisende allein aus verkehrste­chnischen Gründen einen Bogen machen.

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FOTO: DPA Ein Lkw steht am Mittwoch auf der am Vortag eingestürz­ten Autobahnbr­ücke Ponte Morandi in Genua.

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