Und ewig röhrt der Zweiradfahrer
Der Oberallgäuer Jochpass ist ein unwiderstehlicher Anziehungspunkt für Motorradpiloten – Krach und Raserei sorgen für Ärger
- Dieses Mal haben die Polizisten zwei Eidgenossen aus Sankt Gallen erwischt. „Verdammter Mist“, flucht einer der jungen, korpulenten Burschen. Was ist passiert? Mit ihren dicken Motorrädern sind sie die Jochpassstraße im Oberallgäu heraufgebraust, eine wunderbare Serpentinenstrecke durch Alpenidylle. Der Fahrgenuss der beiden wurde jedoch von einem Reisebus gestört. Also kurz das Gas aufgedreht und vorbeigezischt.
Dass auf der Strecke Überholverbot herrscht, spielte beim eidgenössischen Vorwärtsdrang offenbar keine Rolle. Als Auswärtige war dem Duo aber eines nicht klar: Am Jochpass lauert die Polizei – dauerhaft. Der Grund: Die Teilstrecke vom Ostrachtal hoch zum Feriendorf Oberjoch gilt im süddeutschen Raum als einer der zentralen Brennpunkte der zunehmend härter diskutierten Motorradfahrerproblematik.
Es geht um Raserei und Lärm durch aufgedrehte Maschinen. Der Jochpass mit seinen 107 Kurven zieht Motorradfahrer an wie Licht die Mücken. An schönen Sommertagen dürften hier um die 1200 solcher Zeitgenossen unterwegs sein – und während der Wochenenden ist der Andrang noch größer. Aufheulende Motoren sind dann der erste Morgengruß und ebenso der GuteNacht-Gesang. Üblicherweise geht dies von Anfang April bis Ende Oktober so.
Teure Emotionen
Manchen Verursachern des infernalischen Lärms scheint der Krach zur eingebildeten Kraftsteigerung zu dienen, während die Kurvenlage zum gefühlsmäßigen Höhepunkt führt. Welche Emotionen die Eidgenossen hatten, bleibt unklar. Für das Überdrehen ihrer Fahrbegeisterung werden die Schweizer jedenfalls zur Kasse gebeten. Sie stehen genervt am obersten Jochpassparkplatz. Das ist der übliche Checkpoint der Polizei, weil es in der Nähe einen Aussichtspunkt mit Blick auf weite Streckenteile gibt: die sogenannte Kanzel. Ein Beamter wacht dort mit Fernglas über Verkehrsverstöße. Sieht er etwas, bekommen die Kollegen am Parkplatz Meldung. Die Kelle geht hoch.
Jeweils 70 Euro dürfen die Eidgenossen abdrücken. Noch mehr stört sie aber das Abwarten der Personenüberprüfung. „Werden die nie fertig?“, fragt der, der sich Ueli nennt. Zum Schluss mahnen die Beamten: „Fahrt’s halt langsamer.“Da haben die beiden schon ihre Helme auf und preschen los. Die nächsten Pässe locken.
Routen wie die am Jochpass hatten früher schon ihre Klientel. Ärger gab es auch schon bald. Ein Beispiel ist die legendäre oberbayerische Kesselbergstraße zwischen Kochelund Walchensee. Dort verursachte die Raserei viele Unfälle. Und die Hotels fürchteten wegen des Lärms um die Gäste. Die Traditionsstraße wurde deshalb schon vor längerer Zeit am Wochenende für Motorradfahrer gesperrt. Inzwischen schlagen sich die Anlieger kurvenreicher Straßen aber überall mit der Problematik herum.
Dies hat mit einer bestimmten Entwicklung zu tun: „Seit den 80erJahren hat sich der Bestand an Motorrädern nahezu verdoppelt und liegt derzeit bei rund 4,1 Millionen Maschinen“, berichtet Michael Lenzen, Vorsitzender des Bundesverbandes der Motorradfahrer. Das vermeintliche Gefühl der Freiheit auf zwei Rädern reizt nicht erst seit Easy Rider, dem US-MotorradKultfilm von 1969. Jetzt wirkt sich noch ein anderer Aspekt negativ aus: der Wohlstand.
In den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit war ein Motorrad oft der Autoersatz für weniger Betuchte – und daher meist eher Töff-Töff als Geschoss. Heutzutage hingegen können sich viele Menschen ein fettes Motorrad neben der Familienkarosse leisten. „Der typische Motorradfahrer zählt in der Tat eher zu den überdurchschnittlich verdienenden Bundesbürgern und ist bereit, in sein Fahrzeug entsprechend zu investieren“, attestierte Reiner Brendicke, Geschäftsführer des Industrieverbands
Michael Lenzen, Vorsitzender des Bundesverbandes der Motorradfahrer
Motorrad bereits vor einigen Jahren.
Die Motorradbranche spricht intern von „einem Hobby für gesetzte Herren“. Demnach gilt fast schon die Sequenz aus Udo Jürgens RentnerHit „Mit 66 Jahren“: „... Ich kauf mir ein Motorrad und einen Lederdress/ Und fege durch die Gegend mit hundertzehn PS ...“Das bedeutet allerdings nicht, dass junge Biker eine vernachlässigbare Größe wären. Aber am Jochpass fallen die vielen älteren Fahrer auf. Einer davon ist Robert Pfeifer aus Krumbach in Schwaben. Zusammen mit vier Kumpels macht er Pause. „Was gibt es Schöneres, als bei tollem Wetter durch die Landschaft zu kurven?“, fragt Pfeifer und blickt auf seine Maschine. „Das Ding da hat 190 PS, da geht was“, ergänzt der drahtig gebliebene Mann.
„Wir brauchen etwas Richtiges“
Damit ist der obere Pferdestärkenbereich für den Straßengebrauch erreicht. Müssen es gleich so viel PS sein? Immerhin bezeichnen sich Pfeifer und seine Spezln als „Genussfahrer“. Soll heißen, sie fahren gemütlich durch die Lande. „Wir sind aber gestandene Männer. Wir brauchen etwas Richtiges“, erklärt Pfeifer. Seine Gruppe legt dabei ausdrücklich Wert auf die Feststellung, nicht zu den Rasern zu zählen. Wobei diese Art der Problemfahrer nach Angaben der Polizei sowieso eine Minderheit ist.
Um Lärm zu erzeugen, braucht es jedoch keine überhöhte Geschwindigkeit. Dies zeigt sich bei der Abfahrt Pfeifers und seiner Kumpels Richtung Passhöhe. Hochschalten, Gas geben. Die Maschinen heulen auf, ohne absichtlich hochgedreht worden zu sein. Andere Fahrer provozieren den Krach dagegen ausdrücklich. „Sound ist geil“, heißt es dann. Ein Umstieg auf leise Elektromotorräder wird in der Szene als absurd angesehen. Lärm ist also Teil des Kraftraderlebnisses. Geplagt davon sind längst nicht nur alpine Pässe, zu denen Zweiradbegeisterte über Hunderte von Kilometern anreisen. Auch im Schwarzwald lässt sich schön kurven, preist der Internetdienst Kurvenkönig. Ebenso finden sich bekannte Strecken auf der Schwäbischen Alb. Für örtliche Freizeitfahrer reicht aber auch ein Sträßchen in Oberschwaben. Überall stöhnen Anlieger. Am Jochpass in Oberjoch fasst eine an der Hauptstraße lebende Frau die Klagen zusammen: „Der Horror. Manchmal hält man es nicht mehr aus.“Wenigstens eine Geschwindigkeitsbegrenzung hätte sie gerne.
Ihren Namen will die Frau nicht in der Zeitung sehen: „Sonst werde ich hier angefeindet.“Hinter den Bedenken versteckt sich ein Graben, der das Dorf trennt. Auf der einen Seite sind die Geplagten, auf der anderen die Motorradprofiteure. „80 Prozent unserer Kundschaft sind Motorradfahrer“, erfährt man in einem Kiosk. Klar, dass man nichts gegen die Leute habe. Der Rubel rollt. Die Asphaltfläche bei dem kleinen Ausschank ist voll mit hungrigem und durstigem Publikum in Lederkluft. Darunter der 21-jährige Paul und der 19-jährige Daniel aus dem nahen Immenstadt, jeweils bestens motorisiert. Auch Genussfahrer? „Nö. Wir sind sportlich unterwegs“, sagt der ältere.
Daniel ergänzt: „Rasantes Kurvenfahren ist das Allergeilste. Das gibt den Adrenalinkick.“Vor dem geistigen Auge sieht man die beiden schon an Leitplanken kleben. Bemerkenswerterweise nimmt jedoch bundesweit seit vielen Jahren die Zahl der tödlich verunglückten Motorradfahrer tendenziell ab, auch wenn es 2017 wieder einen leichten Anstieg auf 689 Tote gab. Es waren aber eben auch schon viel mehr.
Selbst der Jochpass ist kein wirklicher Unfallschwerpunkt. Der Polizeibericht erfasst dort jährlich im Schnitt zehn Motorradunfälle. Tote gab es schon länger nicht mehr. „Die Alten fahren oft vorsichtiger. Leitplanken sind verbreitert worden, um Verletzungen bei Motorradfahrern gering zu halten. Die Maschinen wurden besser“, nennt Daniel einen weiteren Grund. Jenseits aller Vernunft spürt der ein oder andere Biker
Eine Anwohnerin am Jochpass
aber nach wie vor das Bedürfnis, die Maschine und sich selbst an die Grenzen zu bringen. Daniel empfiehlt, „nachts auf die Strecke zu gehen“. Da sei der Jochpass polizeifrei. Mehr wollen sie nicht sagen. Es gibt aber jemanden, der die Jochpassgebräuche jenseits der Legalität ganz gern beschreibt: Bertl Mayr, Wirt der Kanzelhütte, dem Ort mit dem besten Blick auf die Strecke. „Es gibt ganz Wilde“, meint er, „die fahren immer wieder rauf und runter. Vorher prüfen Freunde, ob die Straße frei von Polizisten ist.“
Vierköpfige Kontrollgruppe
Mayr sagt, es würden auch Rennen gefahren. Dies verneint wiederum die Polizei. Dennoch nimmt sie Motorradfahrer stärker in den Fokus. Das zuständige Präsidium in Kempten hat kürzlich eine vierköpfige Kontrollgruppe gegründet. Diese Spezialisten sollen gezielt technische Verstöße ermitteln: abmontierte Auspuffschalldämpfer oder leistungsstärkende Eingriffe. Die ersten solcher Kontrollen waren nach Polizeiangaben erfolgreich.
Am Jochpass stehen noch die üblichen Streifenbeamten. Ihr Augenmerk gilt den Überholern. An Spitzentagen winken sie schon mal 120 Übeltäter heraus. Vom Aussichtspunkt Kanzel meldet ein Polizist: „Achtung, da kommt gleich eine Gruppe, vier Fahrer.“In guter Schräglage nehmen sie die Kurve, als der Erste überrascht die Kelle sieht. Im Folgenden reduziert sich das Ausflugsgeld der Gruppe spürbar.
„Seit den 80er-Jahren hat sich der Bestand an Motorrädern nahezu verdoppelt.“ „Der Horror. Manchmal hält man es nicht mehr aus.“