„Mossad-Monster aus der Hölle“
Tausende machen im Internet Jagd auf Richard Gutjahr – Für sie ist der Journalist ein Terrorist, seine Frau eine israelische Agentin
Hunderte erleiden zum Teil schwere Verletzungen. Richard Gutjahr filmt das Elend mit dem Smartphone.
Sekunden später sitzt der Journalist in seinem Hotelzimmer und überlegt, was er mit den wackligen Bildern anfangen soll. Er entscheidet sich, die Aufnahmen nicht selbst zu veröffentlichen, sondern der ARD zuzuspielen. Sein Arbeitgeber stellt den Schnipsel ins Netz. Im Vordergrund zu sehen: die blutige Terrorattacke. Im Hintergrund zu hören: die verängstigte Familie Gutjahr. Ging das mit dem Hass gegen Sie und Ihre Familie an diesem Tag los? Es fing an. Schnell nach der Veröffentlichung meiner Bilder und der Schalte ins ARD-„Nachtmagazin“kursierten die ersten Verschwörungstheorien im Netz. Es wurden Videos produziert, die meine Familie und mich angriffen. Insbesondere auf Youtube standen monatelang schlimme Dinge. Menschen behaupteten, ich sei nicht zufällig an diesem Ort gewesen. Mir wurde schnell klar, dass es hier nicht um mich als Person ging. Ich repräsentiere nur leider für viele die Feinde: Massenmedien, Mainstream-Journalisten, Staatsfunk. Hinzu kommt, dass meine Frau Jüdin ist. Das alles zusammen hat uns offenbar zu einer idealen Projektionsfläche für Hass gemacht. Wie sind Sie mit dieser Situation umgegangen? Ich bin schon lange im Netz unterwegs, habe schon viele Shitstorms hinter mir und kenne die ungeschriebenen Gesetze sehr gut. Eines davon lautet: „Never feed the trolls.“Insofern war für mich die natürlichste Reaktion: nicht darauf eingehen. Sie wollten den Streisand-Effekt verhindern. Also dass eine Reaktion das Feuer noch mehr anfacht. Genau. Das war früher auch mal eine ganz gute Taktik. In einer Zeit, in der nur die Nerds das Netz bewohnt haben. Heute sind 90 Prozent aller Deutschen online. Diejenigen, die früher mit ihren Parolen und ihren Theorien im Wirtshaus vielleicht verlacht worden sind, die finden jetzt auf einmal im Netz Gehör. Und die haben gelernt, das Netz für sich als Waffe zu benutzen. Was sind das denn für Menschen? Es handelt sich um viele atomisierte Untergruppen, die vom Verfassungsschutz oder der Polizei gar nicht so recht beachtet werden, weil sie unter deren Radar operieren. Seien es die Identitären, die Libertären, die Skeptiker oder etwa die Mitglieder der Trollarmee „Reconquista Germanica“. Diese Menschen haben ganz unterschiedliche Sichtweisen auf gesellschaftliche Themen. Worin sie alle vereint sind, ist ihr Hass gegen den Staat, gegen die Regierung und gegen alle, die in dieser demokratischen Ordnung den Staat stärken. Das sind ihre Feinde. Und die werden mit aller Härte bekämpft. Das heißt, Sie können diese Gegnerschaft in keinem politischen Profil verorten? Diese Gruppierungen funktionieren jenseits aller Verbandsstrukturen und Organisationsformen, die wir bisher kannten. Je nachdem, wer ihr Gegner ist, formieren sie Allianzen und können mit einer massiven Meinungsmacht dafür kämpfen, eine Gesellschaft niederzuschlagen. Das sind keine abgehängten Hartz-IV-Empfänger. Es handelt sich mitunter um höher gebildete, gut situierte, in der Gesellschaft verankerte Menschen. Die haben natürlich ganz andere Möglichkeiten, die Gesellschaft von innen heraus zu destabilisieren. Am 22. Juli 2016, acht Tage nach dem Terrorangriff in Nizza, ist Richard Gutjahr zurück in München, seiner Wahlheimat. Als Meldungen von vermeintlichem Terror im Olympia-Einkaufszentrum aufkommen, ist er erneut einer der Ersten, die berichten. Auch seine Tochter kommt zufällig am Tatort vorbei, veröffentlicht via Twitter Meldungen zum Amoklauf.
Spätestens jetzt gerät etwas ins Rutschen, das das Leben der Familie Gutjahr nachhaltig verändert: In Internetblogs, auf Youtube und Facebook starten Verschwörungstheoretiker eine Hetzjagd auf sie. Die Nase des Familienvaters? „Eindeutig zu lang für einen Nichtjuden.“Die Militärvergangenheit der israelischen Frau? „Ganz sicher mehr als nur der auch für Frauen verpflichtende Wehrdienst.“Die in den USA studierende Tochter? „Definitiv antideutsch erzogen.“
Wann haben Sie gemerkt: Das ist nicht der herkömmliche Shitstorm, das hat eine neue Qualität? Als die Hasser dazu übergingen, mein Privatleben auszuleuchten. Meine Adresse und Telefonnummer, der Weg zur Arbeit, der Schulweg der Kinder: Alles wurde veröffentlicht. Da habe ich verstanden, dass es darum ging, mich zu brandmarken und zum Abschuss freizugeben. Die Aufforderung „Stellt sie bloß“war fast unter jedem Video zu lesen. Das wurde hingenommen, gefeiert. Gefeiert?
Ja. Das hat mich am meisten schockiert und nachhaltig verunsichert. Ich bin verzweifelt an den Hunderttausenden Likes und Kommentaren unter den Hassbotschaften. Das ist dann nämlich nicht mehr zu verbuchen unter „Na ja, da hat sich halt mal einer Luft verschaffen wollen und ist mit dem falschen Fuß aufgestanden.“Nein, hier haben wir als Gesellschaft ein massives Problem. Ein grundsätzliches Problem?
Ja, so sehe ich das. Vor drei oder vier Jahren war es beispielsweise undenkbar, dass jemand Naziparolen und Hassbotschaften im Netz unter seinem echten Namen veröffentlicht. Ich alleine hätte in den vergangenen zwei Jahren Dutzende anzeigen können, die meiner Familie ganz offen den Tod gewünscht haben. Man vereinsamt, wenn man merkt, dass das alles heute möglich ist. Oder dass diese Menschen zumindest das Gefühl haben, dass sie nichts zu befürchten haben: nicht von ihrem Umfeld, nicht vom Staat, nicht von der Polizei. In einem ausführlichen Internetbeitrag berichtet Richard Gutjahr von kräftezehrenden Gesprächen mit Polizei und Justiz. Von Stelle A sei er zu Stelle B und weiter zu Stelle C geschickt worden. Und Youtube? Die Rechtsabteilung der Firma habe einem Hasser und ihm die jeweiligen Kontaktdaten geschickt: „Damit Sie das selbst klären können.“Gutjahr schlägt einen scharfen Ton an, wenn er über „völlig überbürokratisierte Verfahren zur Meldung von Hass im Netz“spricht. Beschränkt sich dieser Hass denn überhaupt aufs Netz? Es beginnt im Netz. Doch dort bleibt er nicht. Der Hass entwickelt eine Dynamik, die sich dann auch im Alltag widerspiegelt. Denken Sie an unsere Diskussion über Flüchtlinge in den vergangenen zwei Jahren – wie sich da die Argumentation verschoben hat. Das spüren die Hasser und fühlen sich immer sicherer. Haben Sie deshalb dann auch Ihre Taktik geändert? Exakt. Ich brauchte aber noch einen Impuls: Nachdem ich durch den ganzen Hass und das ständige Hin und Her mit Facebook, Youtube und der Polizei fast schon am Verzweifeln war, erhielt ich eine Facebook-Nachricht von Lenny. Lenny ist US-Amerikaner. Sein Sohn ist bei einem Schulmassaker ums Leben gekommen. Auch Lenny wurde von Verschwörungstheoretikern angefeindet und hat mir den Tipp gegeben, in die Offensive zu gehen. „Geh nicht davon aus, dass der Hass einfach so irgendwann aufhört“, sagte er mir. Und er hatte recht. Nach unseren Gesprächen begann ich, gegen die Hasser auch rechtlich vorzugehen und meine Erfahrungen mit der Öffentlichkeit zu teilen. Kein einfacher, aber definitiv der richtige Weg. Wer unterstützt einen auf solch einem Weg? Die Familie war für mich da, die engsten Freunde waren für mich da. Aber schon in der zweiten Reihe, in der Leute stehen, die keine ganz engen Freunde, aber doch bessere Bekannte sind, fing das Gift an zu wirken. Diese Menschen hatten im noch besten Fall Angst davor, sich in einen akuten Shitstorm einzumischen. Im schlimmsten Fall waren sie einfach nur ignorant und desinteressiert. Und dann gab es auch Menschen, die sagten: „Na ja, komisch ist das schon, dass du zweimal an so ’nem Tatort warst.“Da sitzt du dann da, starrst auf den Bildschirm und weißt nicht mehr, was du da noch sagen sollst. Waren das dann auch die schlimmsten Momente? Sie gingen einher mit einem Verlust des Grundvertrauens. So etwas passiert nicht sofort. Es waren viele kleine Momente, die mich an der Welt haben verzweifeln lassen. Dramatisch wurde das alles, als mir auch noch meine Rechtsschutzversicherung gekündigt hatte. Ich glaube, das Schlimmste war aber die Reaktion meines Arbeitgebers. Der jetzt noch Ihr Arbeitgeber ist.
Ja. Wenn ich jetzt auch noch meinen Job verlieren würde, dann wäre alles aus. Alles, was ich gerade verdiene, geht vollständig an meinen Anwalt und an die Gerichte. Sie hätten sich mehr Rückhalt gewünscht? Ich habe in zwei menschlich sehr schwierigen Momenten meines Lebens versucht, im Sinne der BR„Rundschau“und der ARD-„Tagesschau“zu handeln. Anschließend musste ich hören, dass mein Arbeitgeber rein juristisch nicht verpflichtet ist, mir als freiem Mitarbeiter unter die Arme zu greifen. Mir wurde gesagt: „Sie sind ja nicht fest angestellt bei uns.“Wenn die menschliche Komponente in solch einem Fall fehlt, dann stelle ich mir schon die Frage: Wer ist