Messerstecher vorläufig in der Psychiatrie
Mutmaßlicher Täter von Ravensburg offenbar psychisch krank – Opfer außer Lebensgefahr
RAVENSBURG - Nach dem Messerangriff mit drei Schwerverletzten am Freitagnachmittag auf dem Ravensburger Marienplatz wurde der mutmaßliche Täter, ein 21-jähriger Asylbewerber aus Afghanistan, am Samstag in die Psychiatrie eingewiesen. Anstelle eines Haftbefehls wurde laut Polizei ein sogenannter Unterbringungsbefehl erlassen. Offenbar leidet er an einer tief greifenden psychischen Erkrankung, wegen der er bereits mehrfach stationär behandelt wurde. Ein Unterbringungsbefehl darf nur ergehen, wenn es Hinweise auf eine verminderte Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit gibt. Der zuständige Ravensburger Oberstaatsanwalt Karl-Josef Diehl erklärte am Samstag, der Beschuldigte habe Stimmen gehört. Jedoch könne auch ein Streit mit einem Arbeitskollegen hinter der Attacke stecken.
Der Täter hatte mit einem Messer auf zwei syrische Asylbewerber (19/ 20) sowie einen Touristen aus Hessen (52) eingestochen und alle drei schwer verletzt. Der am schwersten verletzte 20-Jährige schwebt laut Polizei nicht mehr in Lebensgefahr. Bei der Festnahme des Afghanen hatte auch Ravensburgs Oberbürgermeister Daniel Rapp (CDU) mitgeholfen.
Baden-Württembergs Integrationsminister Manne Lucha (Grüne), der in Ravensburg lebt, zeigte sich „zutiefst erschüttert über diese grausame Tat“. Er dankte Rapp für „sein couragiertes und besonnenes Verhalten“. Innenminister Thomas Strobl (CDU) lobte zunächst die beteiligten Polizeibeamten und sagte dann mit Bezug auf Rapp: „Manchmal braucht es Menschen, die nicht wegschauen, die mutig sind, die schnell und beherzt eingreifen, um Schlimmeres zu verhindern.“
Tilman Steinert, der Ärztliche Direktor des ZfP Südwürttemberg in Weißenau, sagte am Sonntag zur „Schwäbischen Zeitung“: „Bisher war das Gefährdungspotenzial nicht bekannt. Der Mann galt nicht als gefährlich. Er war freiwillig in Behandlung, es gab keine Hinweise darauf, dass eine Fremdgefährdung durch ihn möglich ist.“In Weißenau war der Mann mehrfach behandelt worden. Steinert stellte klar, dass die derzeitige Unterbringung in der forensischen Psychiatrie „nur vorläufig“sei. Ein Gutachter müsse in der Gerichtsverhandlung klären, „ob der Betreffende einsichts- und steuerungsfähig war“. Steinert sagte weiter: „Wenn ein Gutachter zu dem Schluss kommt, dass er zwar psychotisch, aber trotzdem schuldfähig war, geht er ins Gefängnis.“
RAVENSBURG - Rein äußerlich geht am Samstagmorgen in der Innenstadt von Ravensburg alles seinen gewohnten Gang. Der Wochenmarkt ist gut besucht, Busse fahren über den Marienplatz, vor dem Rathaus findet ein Hochzeitsempfang statt. In den Gesprächen der Menschen geht es aber nur um ein Thema: den Messerangriff vom Vortag.
„Ich war natürlich geschockt, als ich gestern Abend im Fernsehen davon erfahren habe“, sagt Gertrud Hildebrand aus Ravensburg. „Man rechnet ja nicht damit, dass so etwas in unserer ländlichen Umgebung passiert, solche Vorfälle passieren doch eher in Großstädten.“Damit trifft sie im Wesentlichen den Grundtenor, der im Stimmungsbild am Samstagmorgen vorherrscht. „Als ich heute Morgen aus dem Haus gegangen bin, habe ich natürlich darüber nachgedacht. Aber ich hatte keine Angst“, erzählt sie. „Ich war ziemlich neutral eingestellt. Eigentlich kann sowas ja überall passieren.“
Schrecken im Idyll
Ganz ähnlich sieht das auch Beate Niedermaier aus Wolfegg: „Es ist schon schlimm, dass sowas in Ravensburg passiert. Bisher gab es solche Vorfälle bei uns ja noch fast gar nicht.“Aber auch sie ist ohne ein mulmiges Gefühl aus dem Haus gegangen. „Das bringt ja nichts, deswegen jetzt Angst zu haben.“Auch dem Ravensburger Stadtbild ist kaum mehr etwas von den Vorfällen anzumerken. Es sind nicht weniger Menschen unterwegs als an anderen Samstagen. In der Marktstraße schlendern die Leute an den Ständen des Wochenmarktes vorbei, in der Bachstraße lauscht eine Gruppe einer Stadtführung. Auch an den Tatorten sind, abgesehen von aufgesprühten Markierungen keinerlei Spuren mehr zu erkennen. Dort bleiben zwar vereinzelt Leute stehen, schauen sich alles genauer an und schütteln dann den Kopf – ein Klima der Angst oder ähnliches herrscht in Ravensburg aber nicht vor.
Am Samstag hat Oberbürgermeister Daniel Rapp im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“geschildert, wie er die Vorgänge am Marienplatz erlebte. Besonderheit: Rapp stieß zufällig persönlich auf den Angreifer und konnte diesen durch Zureden dazu bewegen, das Messer niederzulegen. Der Täter konnte daraufhin dingfest gemacht werden „Währenddessen habe ich das alles gar nicht so wahrgenommen. Es waren ja nur wenige Sekunden und meine Rolle war eine kleine Rolle. Mir ist danach erst, wie man schwäbisch so schön sagt, das Zäpfle runtergegangen.“Der großen Gefahr, in der er sich befunden hatte, sei er sich gar nicht so bewusst gewesen. Rapp: „Das war instinktiv. Ich habe das nicht bewusst entschieden. Nachdem mir Leute zugerufen hatten, dass da jemand mit einem blutigen Messer herumläuft, war das einzige, was ich überlegt habe: Ich renne jetzt dahin, vielleicht sind da Menschen, die Hilfe brauchen und verletzt sind, vielleicht muss ich den Rettungsdienst rufen. Mit dieser Absicht bin ich losgelaufen – und dem Mann mit dem Messer direkt in die Arme.“Keine Heldentat, wie Rapp betont. Ein Restaurantbesucher, der aktiv gegen den Angreifer vorgegangen sei, habe viel mehr Mut bewiesen.
Erstaunlich unbekümmert
„Erstaunlich unbekümmert“erlebt Fenja Birkle die Menschen am Samstag in der Stadt. Zum Zeitpunkt der Tat war sie auf dem Weg zum Bahnhof, sie wohnt aber in der Adlerstraße, also nicht weit entfernt von einem der Tatorte. Ein Nachbar hatte sie über den Vorfall informiert. „Ich dachte als erstes, dass sowas ja irgendwann kommen musste“, erzählt sie. „Und dann habe ich gehofft, dass der Täter keinen Asylhintergrund hat. Das war ja dann leider doch der Fall. Jetzt werden wahrscheinlich gewisse Stimmen aktiv, die bisher still waren.“Sie sei zwar mit einem mulmigen Gefühl aus dem Haus gegangen, aber eher wegen der Ungewissheit über die Stimmung in der Stadt. Wirklich entsetzt war sie über eine ganz andere Sache: „Es ist völlig krank, dass die Tatorte dann auch noch gefilmt werden und man solche Videos verbreitet.“
Eine Sache ist dann aber doch anders als an anderen Samstagen. Am Schadbrunnen neben der Bushaltestelle steht ein großer Einsatzwagen der Polizei. Zahlreiche Beamte sind vor Ort, stellen sich den Fragen und Diskussionen mancher Bürger und laufen vereinzelt in kleinen Gruppen über den Wochenmarkt. Das kommt bei den Menschen gut an. „Ich bin positiv überrascht von der Polizeipräsenz. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass überhaupt jemand von der Polizei vor Ort ist“, meint Robin Moser und Kim Semmler fügt hinzu: „Das gibt einem schon ein Gefühl von Sicherheit.“Die beiden haben über das Internet von der Tat erfahren und auch die Videos gesehen, die seither kursieren. Angst verspüren auch sie keine: „Ich dachte eher: Das ist doch völlig verrückt. Warum macht jemand sowas?“
Hohe Polizeipräsenz
Das Wasserrauschen des Schadbrunnens erfüllt die Szenerie auch am Sonntagmorgen und vermittelt idyllisches Flair. Auf den Straßen flanieren Besucher, eine Stadtführerin erklärt Geschichtliches zur Altstadt. An den umliegenden Tischen der Gastronomie sitzen Menschen und unterhalten sich. Wie an normalen Sonntagen auch. Wären da nicht die hellpink leuchtenden Markierungen auf der Straße, dem Pflasterstein sowie am Frauentor. Sie zeugen noch von der Tat des Messerangreifers, der am Freitagnachmittag auf drei Personen eingestochen und zum Teil schwer verletzt hat.
Auch der Streifenwagen der Polizei prägt wie samstags schon das Bild an diesem Morgen. Direkt neben dem Schadbrunnen kontrollieren zwei Polizisten das Geschehen aus dem Wagen heraus. Die Maßnahme dient der Sicherheit der Öffentlichkeit, wie Roland Sominka vom Führungsund Lagezentrum des Polizeipräsidiums Konstanz auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“berichtet. Wie lange die Kontrollen andauern werden, darüber werde am Montag entschieden.
Oberbürgermeister Daniel Rapp zeigt sich im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“dankbar für die Präsenz der Einsatzkräfte: „Es wird ein mulmiges Gefühl bleiben. Dem können wir nur entgegenwirken durch hohe Polizeipräsenz an solchen Plätzen, auch durch Prävention wie aufsuchende Sozialarbeit, also das gezielte Ansprechen solcher Personen, die sich an den betreffenden Plätzen bewegen. Mir ist eins ganz wichtig: Es gibt keinen Grund zu glauben, dass Ravensburg ein unsicherer Ort ist. Das wäre hysterisch. Aber zu behaupten, es gibt keine Gefahren, wäre widersprüchlich zu dem, was passiert ist.“
Die Stimmung nach der Messerattacke beschreibt Sominka aus Polizeisicht als ruhig. Gleichwohl waren die Beamten auf alles vorbereitet. Es wurde eigens eine Führungsgruppe im Polizeipräsidium installiert, die sich intensiv mit der Lage in Ravensburg auseinandersetzte. „Die Führungsgruppe dient der Sicherheit, falls es zu weiteren Vorfällen gekommen wäre, hätten wir sofort handeln können“, verdeutlicht Sominka die Ausrichtung einer solchen Spezialeinheit.
Indes wird das Präsidium in Konstanz vom Landeskriminalamt (LKA) unterstützt. Bereits seit Freitagabend ermittelt das LKA intensiv durch Mitarbeiter aus den Bereichen Staatsschutz, Cybercrime und Kriminaltechnik. „Da geht es hauptsächlich um Gefahrenanalyse und die Auswertung von Hinweisen, ob es zu Ausschreitungen kommen könnte“, betont der Polizeisprecher. Auffälligkeiten habe es gleichwohl keine gegeben.
Die Ermittlungen der Kriminalpolizei dauern weiter an. Als nächste Schritte stünden Zeugenvernehmungen und die Auswertungen von Überwachungskameras und Handyfilmen an. Außerdem würden sogenannte Umfeldanalysen des Beschuldigten, der sich wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung verantworten muss, durchgeführt. „Das sind alles ganz normale Ermittlungsvorgänge, wie bei jedem Fall“, erklärt Sominka.