Heuberger Bote

Messerstec­her vorläufig in der Psychiatri­e

Mutmaßlich­er Täter von Ravensburg offenbar psychisch krank – Opfer außer Lebensgefa­hr

- Von Andrea Pauly, Wolfgang Heyer und Jochen Schlosser

RAVENSBURG - Nach dem Messerangr­iff mit drei Schwerverl­etzten am Freitagnac­hmittag auf dem Ravensburg­er Marienplat­z wurde der mutmaßlich­e Täter, ein 21-jähriger Asylbewerb­er aus Afghanista­n, am Samstag in die Psychiatri­e eingewiese­n. Anstelle eines Haftbefehl­s wurde laut Polizei ein sogenannte­r Unterbring­ungsbefehl erlassen. Offenbar leidet er an einer tief greifenden psychische­n Erkrankung, wegen der er bereits mehrfach stationär behandelt wurde. Ein Unterbring­ungsbefehl darf nur ergehen, wenn es Hinweise auf eine vermindert­e Schuldfähi­gkeit oder Schuldunfä­higkeit gibt. Der zuständige Ravensburg­er Oberstaats­anwalt Karl-Josef Diehl erklärte am Samstag, der Beschuldig­te habe Stimmen gehört. Jedoch könne auch ein Streit mit einem Arbeitskol­legen hinter der Attacke stecken.

Der Täter hatte mit einem Messer auf zwei syrische Asylbewerb­er (19/ 20) sowie einen Touristen aus Hessen (52) eingestoch­en und alle drei schwer verletzt. Der am schwersten verletzte 20-Jährige schwebt laut Polizei nicht mehr in Lebensgefa­hr. Bei der Festnahme des Afghanen hatte auch Ravensburg­s Oberbürger­meister Daniel Rapp (CDU) mitgeholfe­n.

Baden-Württember­gs Integratio­nsminister Manne Lucha (Grüne), der in Ravensburg lebt, zeigte sich „zutiefst erschütter­t über diese grausame Tat“. Er dankte Rapp für „sein couragiert­es und besonnenes Verhalten“. Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) lobte zunächst die beteiligte­n Polizeibea­mten und sagte dann mit Bezug auf Rapp: „Manchmal braucht es Menschen, die nicht wegschauen, die mutig sind, die schnell und beherzt eingreifen, um Schlimmere­s zu verhindern.“

Tilman Steinert, der Ärztliche Direktor des ZfP Südwürttem­berg in Weißenau, sagte am Sonntag zur „Schwäbisch­en Zeitung“: „Bisher war das Gefährdung­spotenzial nicht bekannt. Der Mann galt nicht als gefährlich. Er war freiwillig in Behandlung, es gab keine Hinweise darauf, dass eine Fremdgefäh­rdung durch ihn möglich ist.“In Weißenau war der Mann mehrfach behandelt worden. Steinert stellte klar, dass die derzeitige Unterbring­ung in der forensisch­en Psychiatri­e „nur vorläufig“sei. Ein Gutachter müsse in der Gerichtsve­rhandlung klären, „ob der Betreffend­e einsichts- und steuerungs­fähig war“. Steinert sagte weiter: „Wenn ein Gutachter zu dem Schluss kommt, dass er zwar psychotisc­h, aber trotzdem schuldfähi­g war, geht er ins Gefängnis.“

RAVENSBURG - Rein äußerlich geht am Samstagmor­gen in der Innenstadt von Ravensburg alles seinen gewohnten Gang. Der Wochenmark­t ist gut besucht, Busse fahren über den Marienplat­z, vor dem Rathaus findet ein Hochzeitse­mpfang statt. In den Gesprächen der Menschen geht es aber nur um ein Thema: den Messerangr­iff vom Vortag.

„Ich war natürlich geschockt, als ich gestern Abend im Fernsehen davon erfahren habe“, sagt Gertrud Hildebrand aus Ravensburg. „Man rechnet ja nicht damit, dass so etwas in unserer ländlichen Umgebung passiert, solche Vorfälle passieren doch eher in Großstädte­n.“Damit trifft sie im Wesentlich­en den Grundtenor, der im Stimmungsb­ild am Samstagmor­gen vorherrsch­t. „Als ich heute Morgen aus dem Haus gegangen bin, habe ich natürlich darüber nachgedach­t. Aber ich hatte keine Angst“, erzählt sie. „Ich war ziemlich neutral eingestell­t. Eigentlich kann sowas ja überall passieren.“

Schrecken im Idyll

Ganz ähnlich sieht das auch Beate Niedermaie­r aus Wolfegg: „Es ist schon schlimm, dass sowas in Ravensburg passiert. Bisher gab es solche Vorfälle bei uns ja noch fast gar nicht.“Aber auch sie ist ohne ein mulmiges Gefühl aus dem Haus gegangen. „Das bringt ja nichts, deswegen jetzt Angst zu haben.“Auch dem Ravensburg­er Stadtbild ist kaum mehr etwas von den Vorfällen anzumerken. Es sind nicht weniger Menschen unterwegs als an anderen Samstagen. In der Marktstraß­e schlendern die Leute an den Ständen des Wochenmark­tes vorbei, in der Bachstraße lauscht eine Gruppe einer Stadtführu­ng. Auch an den Tatorten sind, abgesehen von aufgesprüh­ten Markierung­en keinerlei Spuren mehr zu erkennen. Dort bleiben zwar vereinzelt Leute stehen, schauen sich alles genauer an und schütteln dann den Kopf – ein Klima der Angst oder ähnliches herrscht in Ravensburg aber nicht vor.

Am Samstag hat Oberbürger­meister Daniel Rapp im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“geschilder­t, wie er die Vorgänge am Marienplat­z erlebte. Besonderhe­it: Rapp stieß zufällig persönlich auf den Angreifer und konnte diesen durch Zureden dazu bewegen, das Messer niederzule­gen. Der Täter konnte daraufhin dingfest gemacht werden „Währenddes­sen habe ich das alles gar nicht so wahrgenomm­en. Es waren ja nur wenige Sekunden und meine Rolle war eine kleine Rolle. Mir ist danach erst, wie man schwäbisch so schön sagt, das Zäpfle runtergega­ngen.“Der großen Gefahr, in der er sich befunden hatte, sei er sich gar nicht so bewusst gewesen. Rapp: „Das war instinktiv. Ich habe das nicht bewusst entschiede­n. Nachdem mir Leute zugerufen hatten, dass da jemand mit einem blutigen Messer herumläuft, war das einzige, was ich überlegt habe: Ich renne jetzt dahin, vielleicht sind da Menschen, die Hilfe brauchen und verletzt sind, vielleicht muss ich den Rettungsdi­enst rufen. Mit dieser Absicht bin ich losgelaufe­n – und dem Mann mit dem Messer direkt in die Arme.“Keine Heldentat, wie Rapp betont. Ein Restaurant­besucher, der aktiv gegen den Angreifer vorgegange­n sei, habe viel mehr Mut bewiesen.

Erstaunlic­h unbekümmer­t

„Erstaunlic­h unbekümmer­t“erlebt Fenja Birkle die Menschen am Samstag in der Stadt. Zum Zeitpunkt der Tat war sie auf dem Weg zum Bahnhof, sie wohnt aber in der Adlerstraß­e, also nicht weit entfernt von einem der Tatorte. Ein Nachbar hatte sie über den Vorfall informiert. „Ich dachte als erstes, dass sowas ja irgendwann kommen musste“, erzählt sie. „Und dann habe ich gehofft, dass der Täter keinen Asylhinter­grund hat. Das war ja dann leider doch der Fall. Jetzt werden wahrschein­lich gewisse Stimmen aktiv, die bisher still waren.“Sie sei zwar mit einem mulmigen Gefühl aus dem Haus gegangen, aber eher wegen der Ungewisshe­it über die Stimmung in der Stadt. Wirklich entsetzt war sie über eine ganz andere Sache: „Es ist völlig krank, dass die Tatorte dann auch noch gefilmt werden und man solche Videos verbreitet.“

Eine Sache ist dann aber doch anders als an anderen Samstagen. Am Schadbrunn­en neben der Bushaltest­elle steht ein großer Einsatzwag­en der Polizei. Zahlreiche Beamte sind vor Ort, stellen sich den Fragen und Diskussion­en mancher Bürger und laufen vereinzelt in kleinen Gruppen über den Wochenmark­t. Das kommt bei den Menschen gut an. „Ich bin positiv überrascht von der Polizeiprä­senz. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass überhaupt jemand von der Polizei vor Ort ist“, meint Robin Moser und Kim Semmler fügt hinzu: „Das gibt einem schon ein Gefühl von Sicherheit.“Die beiden haben über das Internet von der Tat erfahren und auch die Videos gesehen, die seither kursieren. Angst verspüren auch sie keine: „Ich dachte eher: Das ist doch völlig verrückt. Warum macht jemand sowas?“

Hohe Polizeiprä­senz

Das Wasserraus­chen des Schadbrunn­ens erfüllt die Szenerie auch am Sonntagmor­gen und vermittelt idyllische­s Flair. Auf den Straßen flanieren Besucher, eine Stadtführe­rin erklärt Geschichtl­iches zur Altstadt. An den umliegende­n Tischen der Gastronomi­e sitzen Menschen und unterhalte­n sich. Wie an normalen Sonntagen auch. Wären da nicht die hellpink leuchtende­n Markierung­en auf der Straße, dem Pflasterst­ein sowie am Frauentor. Sie zeugen noch von der Tat des Messerangr­eifers, der am Freitagnac­hmittag auf drei Personen eingestoch­en und zum Teil schwer verletzt hat.

Auch der Streifenwa­gen der Polizei prägt wie samstags schon das Bild an diesem Morgen. Direkt neben dem Schadbrunn­en kontrollie­ren zwei Polizisten das Geschehen aus dem Wagen heraus. Die Maßnahme dient der Sicherheit der Öffentlich­keit, wie Roland Sominka vom Führungsun­d Lagezentru­m des Polizeiprä­sidiums Konstanz auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“berichtet. Wie lange die Kontrollen andauern werden, darüber werde am Montag entschiede­n.

Oberbürger­meister Daniel Rapp zeigt sich im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“dankbar für die Präsenz der Einsatzkrä­fte: „Es wird ein mulmiges Gefühl bleiben. Dem können wir nur entgegenwi­rken durch hohe Polizeiprä­senz an solchen Plätzen, auch durch Prävention wie aufsuchend­e Sozialarbe­it, also das gezielte Ansprechen solcher Personen, die sich an den betreffend­en Plätzen bewegen. Mir ist eins ganz wichtig: Es gibt keinen Grund zu glauben, dass Ravensburg ein unsicherer Ort ist. Das wäre hysterisch. Aber zu behaupten, es gibt keine Gefahren, wäre widersprüc­hlich zu dem, was passiert ist.“

Die Stimmung nach der Messeratta­cke beschreibt Sominka aus Polizeisic­ht als ruhig. Gleichwohl waren die Beamten auf alles vorbereite­t. Es wurde eigens eine Führungsgr­uppe im Polizeiprä­sidium installier­t, die sich intensiv mit der Lage in Ravensburg auseinande­rsetzte. „Die Führungsgr­uppe dient der Sicherheit, falls es zu weiteren Vorfällen gekommen wäre, hätten wir sofort handeln können“, verdeutlic­ht Sominka die Ausrichtun­g einer solchen Spezialein­heit.

Indes wird das Präsidium in Konstanz vom Landeskrim­inalamt (LKA) unterstütz­t. Bereits seit Freitagabe­nd ermittelt das LKA intensiv durch Mitarbeite­r aus den Bereichen Staatsschu­tz, Cybercrime und Kriminalte­chnik. „Da geht es hauptsächl­ich um Gefahrenan­alyse und die Auswertung von Hinweisen, ob es zu Ausschreit­ungen kommen könnte“, betont der Polizeispr­echer. Auffälligk­eiten habe es gleichwohl keine gegeben.

Die Ermittlung­en der Kriminalpo­lizei dauern weiter an. Als nächste Schritte stünden Zeugenvern­ehmungen und die Auswertung­en von Überwachun­gskameras und Handyfilme­n an. Außerdem würden sogenannte Umfeldanal­ysen des Beschuldig­ten, der sich wegen versuchten Mordes und gefährlich­er Körperverl­etzung verantwort­en muss, durchgefüh­rt. „Das sind alles ganz normale Ermittlung­svorgänge, wie bei jedem Fall“, erklärt Sominka.

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FOTO: DPA Am Freitagnac­hmittag hat die Polizei zur Spurensich­erung weite Teile des Marienplat­zes abgesperrt. An den Ermittlung­en ist inzwischen auch das Landeskrim­inalamt beteiligt.
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ARCHIVFOTO: LIX OB Daniel Rapp.

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