Bis zum fröhlichen Ende
Drama, Dusel und ein groteskes Eigentor: Wie der VfB Stuttgart sich Luft verschafft hat
– Fußball sei zuweilen pure Psychologie, erklärte Mario Gomez später. „In Überzahl ist man nicht automatisch besser. Als wir 1:0 führten und einen Mann mehr hatten, hatten wir plötzlich wieder was zu verlieren, das hat man uns angemerkt. Das hat uns verunsichert und gehemmt. Die Bremer dagegen haben zuletzt ja alles gewonnen, die sagten sich: Jetzt erst recht, dann gewinnen wir hier halt zu zehnt. Die hatten nichts mehr zu verlieren.“
Bis auf dieses eine Fußballspiel am Samstag in der Mercedes-Benz-Arena eben, das keine Verlierer verdient hatte und doch welche fand: Florian Kohfeldts Werdereraner nämlich, die am Schluss zu viert angriffen, zweimal den Pfosten trafen und bei diesem 1:2 nicht mit fliegenden Fahnen untergingen, sondern mit Wirbelsturmflaggen. „Wir waren besser, haben auch zu zehnt lange dominiert, unglaublich gut gespielt, und ich bin unfassbar stolz auf die Spieler“, sagte der 35-jährige Kohfeldt, der die lange Zeit so grauen Bremer gerade neu erfindet.
Ein Tor für die Annalen
Auch Tayfun Korkuts VfB wollte sich nach seinem Fehlstart neu erfinden, und die Maßnahmen des Trainers fruchteten – trotz zahlloser Fehler. „Wir waren schlecht, doch das Groteske ist, dass wir drei Punkte haben“, räumte Kapitän Christian Gentner ein. Am groteskesten war der Ausgleich, den sich der VfB einfing – ein irrsinniges Einwurf-Eigentor. Verteidiger Borna Sosa hatte Ron-Robert Zieler nach 68 Minuten mit Verve den Ball zurückgeworfen. Dem überraschten Torhüter, der gerade die Stutzen richtete, sprang er allerdings über den Fuß und kullerte ins Netz. Wäre Zieler weggeblieben, das Tor hätte nicht gezählt, es hätte Eckball gegeben. So stand er nach dem zweiten Patzer in Serie da wie ein begossener Pudel. Eines muss ihm da schon klar gewesen sein: Das Tor hat beste Chancen, in den Jahresrückblick von „Hurra Deutschland“aufgenommen zu werden.
„Da ist vielleicht Bundesliga-Geschichte passiert, und ich Idiot habe gar nicht hingeguckt“, witzelte Kohlfeldt später, VfB-Manager Michael Reschke zürnte: „Schmunzeln kann man da nicht. Es gibt keinen Grund, dass der Torwart nicht aufmerksam ist.“Zieler sagte nur: „So ein Ding will man nicht, aber es ist passiert, und weil alles gutging, ist alles okay.“
Tatsächlich: Trotz der Panne landete Stuttgart seinen ersehnten Befreiungsschlag, den ersten Saisonsieg. Korkuts Neue schlugen ein: Spielmacher Daniel Didavi – zurück nach Achillessehnenleiden –, glückten auf Anhieb wieder die prototypischen Traumpässchen, etwa jenen auf den pfeilschnellen Griechen Anastassios Donis, der im Konter allen enteilte, auch dem zu stürmischen Torhüter Pavlenka und zum 1:0 einschob (19.). Auch Donis, der gewagt hatte, nach dem 0:3 gegen Bayern den Trainer zu kritisieren, nutzte also seine Chance, ehe er nach 61. mit einem Muskelbündelriss raus musste. Wie Dennis Aogo, (Faserriss) wird er in Hannover fehlen, Korkut wird also wieder umbauen müssen. Immerhin: „Tayfun weiß, welches Potenzial Donis mit seinem Wahnsinnstempo hat, und heute wird er sich bestätigt gefühlt haben“, sagte Reschke nur, der „einfach nur heilfroh über den Sieg war“.
Konnte er auch sein, denn auch nach dem 0:1 und der Gelb-Roten Karte gegen Milos Veljkovic, der Didavi foulte (36.), blieb Werder weit gefährlicher. 7:1 Ecken erspielten sich die Gäste zur Pause, am Ende hatten sie 57 Prozent Ballbesitz – und waren nahe am Sieg. Dass Kohlfeldt eine Minute vor dem Ausgleich den Mut hatte, in Martin Harnik und dem 39-jährigen Claudio Pizarro die Stürmer Nr. 3 und 4 zu bringen, schien sich zu lohnen. Pizarro hätte kurz darauf ums Haar das 1:2 erzielt, doch sein Distanzschuss prallte an den Innenpfosten.
Gonzalez: Weinender Chancentod
Ein irrwitziger Schlagabtausch, ein 20minütiges Auf und Ab folgte. Der VfB leitete das große Finale mit dem 2:1 ein, wieder durch einen Konter, den der eingewechselte Gonzalo Castro (75.) nach schöner Gomez-Vorlage abschloss. Bremen antwortete mit wütenden Kontern und diversen guten Chancen, die der VfB mit Kontern und noch besseren Chancen erwiderte: Gleich drei Hundertprozentige, eigentlich waren es fünf, boten sich Joker Nicolas Gonzalez, und als der Schiedsrichter endlich abpfiff, begann der 19-jährige Argentinier noch auf dem Rasen zu weinen. Es war zu viel für ihn. Gomez berichtete, in der Kabine habe der junge Kollege immerhin wieder lachen können. „Da muss jeder Stürmer durch, wir haben ihn aufgebaut. Wichtig ist, dass er sich solche Chancen überhaupt erarbeitet.“
Reschke („Ich habe mir ein paar Haare ausgerissen“) glaubte, Gonzalez (und vermutlich auch Zieler) wäre „im Erdboden versunken, wenn wir das noch verloren hätten“. So aber gewann der VfB – und jubilierte. „Wir werden das feiern, dieser Sieg war unheimlich wichtig für alle im Club“, sprach Reschke, ehe er sich aufs Cannstatter Volksfest verabschiedete. Und Korkut durfte erkennen, dass manchmal auch Offensivgeist belohnt wird. Im Vorjahr versuchte er mit Erfolg, Vorsprünge kompakt zu verteidigen. Diesmal ging es nicht: „Ich hatte dreimal gewechselt, ich konnte keinen Defensiven mehr bringen“, sagte er und war einfach nur froh, „dass die Mannschaft nach diesem 1:1 nicht zusammengebrochen ist“.
Korkut ging nicht auf den Wasen. Er werde in Ruhe ein Glas Wein trinken, sagte er. Auch er musste dieses Drama erst mal verarbeiten. Finnbogasons Saisondebüt nach einer Achillessehnenentzündung war von den Augsburger Fans herbeigesehnt worden. „Er brennt lichterloh“, sagte FCA-Trainer Manuel Baum vor dem Anpfiff. Das stimmte. Der Angreifer rackerte, war präsent in der Spitze und kam mehrfach zum Abschluss. Höhepunkt des Comebacks war sein Hackentreffer nach einer präzisen Hereingabe von Innenverteidiger Goouweleeuw zum 2:0. Beim Elfmeter übernahm der Isländer zudem Verantwortung.
Beim SC wurde der Mittelstürmer dagegen vermisst. Nationalspieler Nils Petersen stand wegen einer Prellung am Schultereckgelenk nicht im Kader. Das langte aber nicht als Begründung für einen vor der Pause schwachen Auftritt. Der Wucht der