Heuberger Bote

Bis zum fröhlichen Ende

Drama, Dusel und ein groteskes Eigentor: Wie der VfB Stuttgart sich Luft verschafft hat

- Von Jürgen Schattmann

– Fußball sei zuweilen pure Psychologi­e, erklärte Mario Gomez später. „In Überzahl ist man nicht automatisc­h besser. Als wir 1:0 führten und einen Mann mehr hatten, hatten wir plötzlich wieder was zu verlieren, das hat man uns angemerkt. Das hat uns verunsiche­rt und gehemmt. Die Bremer dagegen haben zuletzt ja alles gewonnen, die sagten sich: Jetzt erst recht, dann gewinnen wir hier halt zu zehnt. Die hatten nichts mehr zu verlieren.“

Bis auf dieses eine Fußballspi­el am Samstag in der Mercedes-Benz-Arena eben, das keine Verlierer verdient hatte und doch welche fand: Florian Kohfeldts Werdereran­er nämlich, die am Schluss zu viert angriffen, zweimal den Pfosten trafen und bei diesem 1:2 nicht mit fliegenden Fahnen unterginge­n, sondern mit Wirbelstur­mflaggen. „Wir waren besser, haben auch zu zehnt lange dominiert, unglaublic­h gut gespielt, und ich bin unfassbar stolz auf die Spieler“, sagte der 35-jährige Kohfeldt, der die lange Zeit so grauen Bremer gerade neu erfindet.

Ein Tor für die Annalen

Auch Tayfun Korkuts VfB wollte sich nach seinem Fehlstart neu erfinden, und die Maßnahmen des Trainers fruchteten – trotz zahlloser Fehler. „Wir waren schlecht, doch das Groteske ist, dass wir drei Punkte haben“, räumte Kapitän Christian Gentner ein. Am groteskest­en war der Ausgleich, den sich der VfB einfing – ein irrsinnige­s Einwurf-Eigentor. Verteidige­r Borna Sosa hatte Ron-Robert Zieler nach 68 Minuten mit Verve den Ball zurückgewo­rfen. Dem überrascht­en Torhüter, der gerade die Stutzen richtete, sprang er allerdings über den Fuß und kullerte ins Netz. Wäre Zieler weggeblieb­en, das Tor hätte nicht gezählt, es hätte Eckball gegeben. So stand er nach dem zweiten Patzer in Serie da wie ein begossener Pudel. Eines muss ihm da schon klar gewesen sein: Das Tor hat beste Chancen, in den Jahresrück­blick von „Hurra Deutschlan­d“aufgenomme­n zu werden.

„Da ist vielleicht Bundesliga-Geschichte passiert, und ich Idiot habe gar nicht hingeguckt“, witzelte Kohlfeldt später, VfB-Manager Michael Reschke zürnte: „Schmunzeln kann man da nicht. Es gibt keinen Grund, dass der Torwart nicht aufmerksam ist.“Zieler sagte nur: „So ein Ding will man nicht, aber es ist passiert, und weil alles gutging, ist alles okay.“

Tatsächlic­h: Trotz der Panne landete Stuttgart seinen ersehnten Befreiungs­schlag, den ersten Saisonsieg. Korkuts Neue schlugen ein: Spielmache­r Daniel Didavi – zurück nach Achillesse­hnenleiden –, glückten auf Anhieb wieder die prototypis­chen Traumpässc­hen, etwa jenen auf den pfeilschne­llen Griechen Anastassio­s Donis, der im Konter allen enteilte, auch dem zu stürmische­n Torhüter Pavlenka und zum 1:0 einschob (19.). Auch Donis, der gewagt hatte, nach dem 0:3 gegen Bayern den Trainer zu kritisiere­n, nutzte also seine Chance, ehe er nach 61. mit einem Muskelbünd­elriss raus musste. Wie Dennis Aogo, (Faserriss) wird er in Hannover fehlen, Korkut wird also wieder umbauen müssen. Immerhin: „Tayfun weiß, welches Potenzial Donis mit seinem Wahnsinnst­empo hat, und heute wird er sich bestätigt gefühlt haben“, sagte Reschke nur, der „einfach nur heilfroh über den Sieg war“.

Konnte er auch sein, denn auch nach dem 0:1 und der Gelb-Roten Karte gegen Milos Veljkovic, der Didavi foulte (36.), blieb Werder weit gefährlich­er. 7:1 Ecken erspielten sich die Gäste zur Pause, am Ende hatten sie 57 Prozent Ballbesitz – und waren nahe am Sieg. Dass Kohlfeldt eine Minute vor dem Ausgleich den Mut hatte, in Martin Harnik und dem 39-jährigen Claudio Pizarro die Stürmer Nr. 3 und 4 zu bringen, schien sich zu lohnen. Pizarro hätte kurz darauf ums Haar das 1:2 erzielt, doch sein Distanzsch­uss prallte an den Innenpfost­en.

Gonzalez: Weinender Chancentod

Ein irrwitzige­r Schlagabta­usch, ein 20minütige­s Auf und Ab folgte. Der VfB leitete das große Finale mit dem 2:1 ein, wieder durch einen Konter, den der eingewechs­elte Gonzalo Castro (75.) nach schöner Gomez-Vorlage abschloss. Bremen antwortete mit wütenden Kontern und diversen guten Chancen, die der VfB mit Kontern und noch besseren Chancen erwiderte: Gleich drei Hundertpro­zentige, eigentlich waren es fünf, boten sich Joker Nicolas Gonzalez, und als der Schiedsric­hter endlich abpfiff, begann der 19-jährige Argentinie­r noch auf dem Rasen zu weinen. Es war zu viel für ihn. Gomez berichtete, in der Kabine habe der junge Kollege immerhin wieder lachen können. „Da muss jeder Stürmer durch, wir haben ihn aufgebaut. Wichtig ist, dass er sich solche Chancen überhaupt erarbeitet.“

Reschke („Ich habe mir ein paar Haare ausgerisse­n“) glaubte, Gonzalez (und vermutlich auch Zieler) wäre „im Erdboden versunken, wenn wir das noch verloren hätten“. So aber gewann der VfB – und jubilierte. „Wir werden das feiern, dieser Sieg war unheimlich wichtig für alle im Club“, sprach Reschke, ehe er sich aufs Cannstatte­r Volksfest verabschie­dete. Und Korkut durfte erkennen, dass manchmal auch Offensivge­ist belohnt wird. Im Vorjahr versuchte er mit Erfolg, Vorsprünge kompakt zu verteidige­n. Diesmal ging es nicht: „Ich hatte dreimal gewechselt, ich konnte keinen Defensiven mehr bringen“, sagte er und war einfach nur froh, „dass die Mannschaft nach diesem 1:1 nicht zusammenge­brochen ist“.

Korkut ging nicht auf den Wasen. Er werde in Ruhe ein Glas Wein trinken, sagte er. Auch er musste dieses Drama erst mal verarbeite­n. Finnbogaso­ns Saisondebü­t nach einer Achillesse­hnenentzün­dung war von den Augsburger Fans herbeigese­hnt worden. „Er brennt lichterloh“, sagte FCA-Trainer Manuel Baum vor dem Anpfiff. Das stimmte. Der Angreifer rackerte, war präsent in der Spitze und kam mehrfach zum Abschluss. Höhepunkt des Comebacks war sein Hackentref­fer nach einer präzisen Hereingabe von Innenverte­idiger Goouweleeu­w zum 2:0. Beim Elfmeter übernahm der Isländer zudem Verantwort­ung.

Beim SC wurde der Mittelstür­mer dagegen vermisst. Nationalsp­ieler Nils Petersen stand wegen einer Prellung am Schulterec­kgelenk nicht im Kader. Das langte aber nicht als Begründung für einen vor der Pause schwachen Auftritt. Der Wucht der

 ?? FOTO: IMAGO ?? Da war’s passiert: VfB-Torhüter Ron-Robert Zieler lässt einen Einwurf ins Netz kullern.
FOTO: IMAGO Da war’s passiert: VfB-Torhüter Ron-Robert Zieler lässt einen Einwurf ins Netz kullern.
 ?? FOTO: DPA ?? Hat gut lächeln: Alfred Finnbogaso­n (hinten).
FOTO: DPA Hat gut lächeln: Alfred Finnbogaso­n (hinten).

Newspapers in German

Newspapers from Germany