Keine Angst vor falschen Tönen
Mitmachkonzerte wie das Rudelsingen begeistern immer mehr Menschen – in ganz Deutschland und auch am Bodensee
Ja gern, aber schlecht“, lautet oft die Antwort, wenn nach Gesangskünsten gefragt wird. „Ausschließlich unter der Dusche“, heißt es manchmal, oder auch „früher am Lagerfeuer“. Singen in einem Chor? „Schön wär’s, aber das traue ich mich nicht.“So scheint es vielen Menschen zu gehen. Da mag so ein Einmal-Singangebot geradezu perfekt sein. Zum sogenannten Rudelsingen nach Oberteuringen strömen deshalb dann auch weit mehr als Hundert Singfreudige. Viele zum ersten Mal. 80 Prozent sind weiblich, die meisten jenseits der 50, aber auch ein paar Studenten sind darunter.
Singen ohne pflichtschuldige Teilnahme an regelmäßigen Proben, ohne Verein und ohne Voraussetzungen boomt derzeit. Und das Prinzip „Gemeinsam grölen“scheint tatsächlich ein Phänomen unserer Zeit zu sein. Längst ist bekannt, dass in Zeiten, wo Musik überall aus Boxen und Computern rieselt, das Selbersingen wieder zu- und gleichzeitig der Hang zu Verpflichtungen abnimmt. Diese Grundstimmung nimmt das Rudelsingen auf. Initiiert hat es der Musiker David Rauterberg im Norden Deutschlands. Der Trend ist aber längst auch im Süden angekommen.
Der Saal im Oberteuringer Kulturhaus Mühle ist hergerichtet, Stühle gibt’s nur vorne ganz wenige, „für Schwangere und Gehbehinderte“, dafür ein paar Stehtische im hinteren Bereich, die Häppchen stehen vor der Tür zum Verkauf bereit und drinnen decken sich die Besucher mit Getränken ein. Beliebt sind Weißweinschorle und Bier. „Das schmiert die Kehle“ist zu hören, von einem, der zugibt, „gezwungen“worden zu sein. „Den Gefallen tu’ ich meiner Frau“, sagt der 60-Jährige. Er selbst war noch nie „bei so was“und „weiß nicht so recht, was da auf mich zukommt“. Andrea aus Friedrichshafen weiß es. Sie ist schon zum zweiten Mal beim Rudelsingen. „Ich sing zwar schon seit 20 Jahren in einem Chor, aber das hier ist was ganz anderes.“Lernen will sie hier nichts, just for fun sei sie gekommen. Ihre Freundinnen Evi und Elli hat sie mitgebracht und sogar Maria, ihre 74-jährige Mutter.
Zunächst kommt die Band, bestehend aus den drei Musikern Gabriel Bukarz, Gregor Panasiuk und Thomas Lorenz. Zweimal Gitarre, einmal Geige, ein Flügel steht noch in der Ecke. Kräftiger Applaus, obwohl die drei hier als Band mit dem wenig mitreißenden Namen Team Bodensee noch nicht bekannt sind. Das wird sich ändern, wie sie aus Erfahrung wissen. Sie begeistern das Publikum gleich mit einer irischen GuteLaune-Weise zum Auftauen und führen kurz in den Ablauf ein – und in die grundsätzlichen Regeln. „Die Hälfte der Lieder ist deutsch, alle bleiben stehen und gequatscht wird in der Pause!“Thomas Lorenz, der auch als Klavierlehrer unterrichtet, moderiert launig und erklärt, dass es zwei 20-minütige Pausen geben werde und der Text immer auf der Leinwand mitgelesen werden kann. Mehr Informationen braucht niemand.
Und dann geht’s richtig los. Mit einem Hit von früher, „aus Zeiten, wo es noch Schallplatten gab – Ihr wisst ja noch, was das ist“. Es ist „Heute hier, morgen dort“von Hannes Wader aus den frühen 1970er-Jahren. Die meisten haben ihn in ihrer Jugend am Lagerfeuer gesungen und bräuchten eigentlich gar keinen Text. Der läuft aber automatisch mit. Von
Die Hälfte der Lieder ist deutsch, alle bleiben stehen und gequatscht wird in der Pause! Musiker Thomas Lorenz erklärt die Regeln
einem Beamer auf die Bühnenleinwand geworfen, Strophe für Strophe, der Refrain ist fett gedruckt, Wiederholungszeichen sind auch dabei und wenn die Gitarristen mal ein kleines Zwischenspiel machen, steht da „Instrumental“. Idiotensicher.
Es funktioniert. Die meisten trauen sich. Auch Andrea, ihre Freundinnen und ihre Mutter. Seltsamerweise ist es niemandem peinlich, was einerseits am Lied liegen könnte, und andererseits auch daran, dass man seine Mitsänger dabei nicht anschauen muss, allenfalls auf den Rücken des Vordermanns singt, weil Blick und Stimme nach vorn gerichtet und alle irgendwie mit Textlesen beschäftigt sind. Applaus. Man beklatscht aber nicht die Band, sondern vor allem sich selbst. Und weiter geht’s. Reinhard Meys „Über den Wolken“, „Mein kleiner grüner Kaktus“und „Die Gedanken sind frei“. Volkslieder, Pfadfindersongs und englische Hits wie „Halleluja“von Leonard Cohen und „Tears in Heaven“von Eric Clapton. Alte Lieder folgen auf neue, Volkslieder auf englische Schlager und Gassenhauer auf Countrysongs.
Singen stärkt Körper und Seele
Die Mischung scheint wie ein musikalisches Wellnessprogramm mit Nostalgiefaktor zu wirken. Dass Körper und Seele vom Singen profitieren, weil Abwehrkräfte gestärkt werden, die Psyche stabiler wird und stimmungsaufhellende Hormone produziert werden, ist ja erwiesen. Wer singt, tut aktiv etwas für seine Gesundheit. Es scheint egal zu sein, ob im Chor, unter der Dusche oder eben zweimal im Jahr ein paar Stunden beim Rudelsingen.
Andrea, Evi und Elli scheint es sichtlich gutzutun. Sie kennen alle Songs, Maria nicht ganz so viele. Sie tut sich mit den englischen schwer. „Aber das macht nichts“, sagt sie, „Musik ist ja immer schön.“
So mancher Profisänger mag da anderer Meinung sein, aber schließlich ist alles relativ. Wenn es gelegentlich nicht so perfekt klingt oder wenn der Rhythmus mal nicht stimmt, weil das Publikum nicht schnell genug auf einen Tempowechsel der Band reagiert, stört das keinen. „Nicht weiter schlimm, alles ist ehrlich und echt“, sagt Thomas Lorenz, „auch die Pannen.“Gregor Panasiuk grinst. Er war zehn Jahre Straßenmusiker und hat viel erlebt. Aber hier ist nicht die Band der Star, sondern das Publikum.
„Überraschungen gibt es da wenige“, so Lorenz, „wir wissen genau, was auf uns zukommt.“Lob für die Sänger gehört bei ihnen dazu, für ein kurzes Männer-Solo sogar eine Extraportion. Die Liste der Lieder reicht für Jahrzehnte, wird immer länger, stets neu gemischt und aufgefrischt. „Mehr als zweimal im Jahr spielen wir nicht am selben Ort“, sagt Lorenz, „und innerhalb eines Jahres wiederholen wir nichts.“Etwa einmal im Monat und zehnmal im Jahr treten sie auf – ein „entspanntes Franchising“, das sich bei den drei Musikern gerade zum zweiten Standbein entwickelt.
Die Song-Mischung ist manchmal gewagt. Auf „Tage wie dieser“von den Toten Hosen folgen „Das Lied der Schlümpfe“und „Born to Be Wild“. Udo Jürgens ist mit „Ich war noch niemals in New York“vertreten und die Beatles mit „All my loving“. Alles Singbare wird gesungen. Pippi Langstrumpfs „Zwei mal drei macht vier“und „La Bamba“passen dann auch irgendwie zu „Tränen lügen nicht“. Der Applaus wird kräftiger und der Mut zum eigenen Gesang immer größer. Ohne Zugaben werden die Musiker am Ende nicht entlassen. Andrea, Evi, Elli und Maria sind begeistert. Die Stimmung ist ausgelassen. „Das ist doch die Hauptsache, und so ist es eigentlich immer“, erklärt das Team Bodensee – bereits vor dem Auftritt.
Nach drei Stunden Gemeinschaftssingen ist Schluss. Am Ausgang werden Zettelchen verteilt. Der Männerchor in Oberteuringen sucht dringend Nachwuchs. Voraussetzung ist, „dass man gerne singt und Spaß an Geselligkeit hat“. Das haben die Anwesenden bewiesen. Für eine Schnupperstunde im Chor sollte das genügen. Durchaus vorstellbar, dass der ein oder andere sich vor lauter Begeisterung mitreißen lässt und sich spontan anmeldet.