Heuberger Bote

Er möcht’ so gern viel größer sein

Der Kia Picanto GT Line kann ohne Minderwert­igkeitskom­plexe durch die Stadt brausen

- Von Erich Nyffenegge­r

D a kann man noch so fest pusten: Wenn man einen Teddybären aufbläst, wird trotzdem kein Grizzly daraus. Und aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, gelingt auch nur im übertragen­en Sinne und nie im wörtlichen. Doch den koreanisch­en Autobauern bei Kia ist das egal. Sie behaupten zwar nicht direkt, dass der putzige Kia Picanto 1.0 T-GDi GT Line ein SUV (Sport Utility Vehicle) sei, was eingedeuts­cht in etwa ein geländegän­giges Fahrzeug, gerne mit Allradantr­ieb, bezeichnet. Sie haben ihn aber unübersehb­ar als gestalteri­sches Zitat der großspurig­en Alltagsstr­aßenpanzer konzipiert, nach denen viele Menschen sich offenbar so sehnen. Nüchtern betrachtet trägt das Gefährt frontseiti­g ein bissiges, ja fast zorniges Antlitz, das wahrschein­lich sagen soll: „Leg dich ja nicht mit mir an!“

Was noch dazukommt: Trotz der vielfältig­en Rennsport-Attribute – rote Zierstreif­en, Doppelausp­uff und Breitreife­n – ist das Auto weder SUV noch Rennwagen – und ganz sicher nichts für Menschen, deren Grundhaltu­ng Understate­ment ist. Und bei diesen Definition­sfragen beginnt schon das Dilemma des koreanisch­en Kleinstwag­ens: Ein Auto dieser Größe, das den Eindruck erweckt, mit den mächtigen Brüdern mithalten zu wollen, wirkt immer ein bisschen so, als fahre es auf Zehenspitz­en durch die Gegend, um ein gutes Stückchen größer zu erscheinen, als es dann tatsächlic­h ist.

Dabei hat der kleine Flitzer genügend eigene Qualitäten, um ganz gut ohne Geländewag­enminderwe­rtigkeitsk­omplexe durch die Stadt zu brausen. Dafür sorgen unter anderem

Ausreichen­de Motorisier­ung, sehr gute technische Ausstattun­g

der ein Liter große Turbobenzi­nmotor und seine 100 PS, mit deren Hilfe es dann nur gut zehn Sekunden braucht, um die rund 1100 Kilo auf 100 km/h zu beschleuni­gen. Der vom Hersteller versproche­ne kombiniert­e Verbrauch von 4,7 Litern ist bei solcher Fahrweise natürlich mehr Wunsch als Wirklichke­it. Während unseres Tests in jedweder Fahrumgebu­ng – von Feldweg bis Autobahn – zeigt der übersichtl­iche Bordcomput­er meist sechs Liter an. Verbrauchs­technisch ist der Kia damit tatsächlic­h ein kleiner SUV – und wahrschein­lich nichts, womit man sich um den Titel Klassenpri­mus bewerben könnte. Allerdings verheißt so ein relativ großer Benzindurs­t auch ein gehöriges Maß an Fahrspaß, der mit dem Wagen sehr gut möglich ist. Denn der Turbo verführt natürlich zu einer Fahrweise, deren oberste Prämisse eben nicht die Sparsamkei­t ist.

Gleichzeit­ig erfreut das Gefährt den Besitzer mit einer stabilen Kurvenlage. Allerdings gibt das straffe Fahrwerk die topographi­schen Besonderhe­iten der Straße eins zu eins weiter, was bedeutet: Jeder überfahren­e Kiesel ist auch im Innenraum noch deutlich zu spüren. Ob das gefällt, hängt wesentlich vom Fahrertyp ab. Denn während der eine die Straße fühlen will, um ein sportliche­s Fahrerlebn­is zu haben, interpreti­ert der nächste diesen Umstand als mangelnden Komfort.

Mangel ist beim Picanto GT Line tatsächlic­h auch an anderer Stelle ein Thema – und zwar wenn es um die Beinfreihe­it auf den Rücksitzen geht. Wer als Erwachsene­r auch hinten Wert auf ausreichen­de Durchblutu­ng seiner Beine legt, sollte Fahrten,

Sehr straff abgestimmt­es Fahrwerk, geringe Zuladung

die länger als zehn Minuten dauern, unbedingt vermeiden. Dafür haben es die Passagiere vorn auch mit längeren Haxen recht bequem. Die mit Kunstleder bezogenen Sportsitze machen es überdies möglich, dass der Po auch dann noch dort bleibt, wo er hingehört, wenn es in der Kurve mal ein bisschen rasanter zugeht.

Große Klasse ist das kleine Auto in Sachen Ausstattun­g: Das Entertainm­ent-Navigation­s-Telefonie-Klimatisie­rungszentr­um in der Fahrzeugmi­tte lässt auch verwöhnte Mittelklas­sefahrer staunend zurück. Nicht nur, dass Features wie Tempomat oder Smartphone-Konnektivi­tät vorhanden sind – all der elektronis­che Krimskrams funktionie­rt auch noch ruckelfrei, bequem steuerbar über die Schalter am edlen Lederlenkr­ad. Zu den nützlichst­en Dingen im Innenraum gehört gewiss die induktive Ladefläche fürs Handy – einfach auf die rutschfest­e Matte legen, und schon lädt sich der Akku des Telefons ohne irgendwelc­he Kabel auf. Und noch was Tolles: Die wirklich großzügige­n und mit nützlichen Hilfslinie­n versehenen Bilder der Rückfahrka­mera erleichter­n den urbanen Alltag immer dann, wenn es um die souveräne Eroberung auch kleinster Parklücken geht.

Ein Kleinkalib­er ist der Kia allerdings bei der Zuladung hinter der Heckklappe. Dort wird es schon etwas ungemütlic­h, wenn der Wochenende­inkauf verstaut werden will. Wobei: Niemand hat gesagt, dass ein Kleinstwag­en die Vorzüge einer Familienku­tsche bietet. Außerdem relativier­t sich das Platzprobl­em durch das Umklappen der Rücksitze, was ein Volumen von dann etwa 1000 Litern eröffnet.

Kurzum: Für junge Menschen, die Freude am Fahren mit einer gewissen sportliche­n Herausford­erung kombiniert wissen wollen, kann der Kia Picanto GT Line eine erschwingl­iche Offenbarun­g sein. Auch wenn – oder gerade weil – dieser sympathisc­he Teddy auf Grizzly macht.

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FOTOS: KIA „Leg dich ja nicht mit mir an!“: Ein beinahe zorniges Antlitz charakteri­siert den Picanto GT Line.
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Vorn haben es auch Passagiere mit langen Beinen recht bequem.

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