Heuberger Bote

Schläge und Missbrauch in Kinderheim­en

Forscher präsentier­en Studie – „Vieles war bekannt, hatte aber keine Konsequenz­en“

- Von Katja Korf

(tja) - Prügel und Erniedrigu­ng waren in den Kinderheim­en Baden-Württember­gs zwischen 1949 und 1975 weit verbreitet. Mitarbeite­r, Führungskr­äfte und Behörden vertuschte­n Fälle oder gingen Beschwerde­n nicht nach. Das ist Ergebnis einer Untersuchu­ng, die das Landesarch­iv am Mittwoch in Stuttgart vorgestell­t hat. Rund 1800 Betroffene hatten sich seit 2012 an die Stelle gewandt und um Hilfe gebeten, weil sie ihre Vergangenh­eit in einem der mehr als 530 Heime aufarbeite­n wollten. Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) entschuldi­gte sich im Namen der Landesregi­erung bei den Opfern. Der Staat habe sie nicht ausreichen­d geschützt.

- Sie mussten ihr Erbrochene­s essen, wurden stundenlan­g in Schränken eingesperr­t oder wegen Bettnässen­s vor allen anderen bloßgestel­lt: In den über 530 Kinderheim­en Baden-Württember­gs gab es zwischen 1949 und 1975 flächendec­kende Missstände. Gewalt und zum Teil Missbrauch waren weit verbreitet. Eine Kontrolle durch das Land fand kaum statt. Das ist das Ergebnis eines Forschungs­projektes, dessen Ergebnisse am Mittwoch in Stuttgart vorgestell­t wurden.

Das Landesarch­iv hat sich seit 2012 im Auftrag und mit Geldern der Landesregi­erung mit dem Thema beschäftig­t. In dieser Zeit wandten sich rund 1800 Menschen an die Wissenscha­ftler. Sie erbaten Unterstütz­ung dabei, ihre eigene Lebensgesc­hichte zu recherchie­ren.

Zeit von 1949 bis 1975 im Fokus

Der Anlass: Die Bundesregi­erung hatte einen Fonds für ehemalige Heimkinder eingericht­et. Diese konnten dort bis 2014 eine Entschädig­ung beantragen. Viele Opfer suchten beim Landesarch­iv Hilfe, um Belege für ihre Gewalterfa­hrungen in den Heimen zu finden. In 95 Prozent aller Fälle gelang es den Forschern, entspreche­nde Nachweise zu finden. Sei suchten dafür in Akten bei Jugendämte­rn, Gerichten und Heimen.

In der Zeit von 1949 bis 1975 lebten in Deutschlan­d etwa 700 000 bis 800 000 Kinder und Jugendlich­e in Heimen. Wie viele davon sich in Baden-Württember­g befanden, ist kaum noch genau zu ermitteln. Denn lange existierte nicht einmal eine Liste aller Heime. Und das, obwohl sie im Auftrag des Staates arbeiteten. Eine geregelte Aufsicht über das, was hinter den Heimtüren passierte, konnte es also erst recht nicht geben. Außerdem fand vieles keinen Eingang in irgendwelc­he Akten. Betroffene melden sich aus Scham nicht oder sind bereits verstorben.

1800 Fälle bearbeitet

Daher konnten die Historiker des Landesarch­ivs bislang mit ihren Mitteln keinen kompletten Überblick darüber liefern, was in den Heimen des Landes geschah. Sie werteten aber jene 1800 Fälle genau aus, die Betroffene an sie herantruge­n.

930 Männer und 837 Frauen meldeten sich. Die meisten von ihnen wurden zwischen 1940 und 1970 geboren. Rund 40 Prozent von ihnen verbrachte mehr als zehn Jahre in einem jener 532 Heime, die es nach jetzigem Stand damals im Südwesten gab. Die Kirchen betrieben 230 Heime, viele wurden aber auch von Hebammen, Familien oder Erzieherin­nen geleitet.

Zum Teil ist sehr gut dokumentie­rt, was Betreuer den Kindern antaten. „Niemand kann sagen, man habe es nicht wissen können“, sagte die Historiker­in Nora Wohlfarth am Mittwoch. In vielen Akten seien die Übergriffe dokumentie­rt. Insofern hält die Wissenscha­ftlerin es auch für falsch, die Schuld nur bei den einzelnen Erziehern zu suchen. Zum Teil seien Züchtigung­en als legitimes Erziehungs­mittel eingesetzt worden. Das entsprach dem Zeitgeist und wurde weitgehend akzeptiert. Grenzübert­ritte seien vertuscht worden. „Den Kindern stand ein System gegenüber, dass sehr mächtig war. Vieles war bekannt, aber hatte keine Konsequenz­en“, sagte Wohlfahrt.

Mindestens 97 Missbrauch­sopfer

Die Forscher stießen sogar auf Fälle, in denen Betreuer wegen sexueller Übergriffe auf Kinder verurteilt wurden – doch die Heime stellten sie später wieder ein. Mindestens 97 ehemalige Heimkinder unter den 1800 Fällen wurden Opfer sexualisie­rter Gewalt. Genaue, landesweit­e Zahlen dazu sind auch hier wegen fehlender Akten nicht zu ermitteln. Selbst wenn Fälle bekannt wurden, wertete niemand Vorkommnis­se landesweit aus. Die Experten gehen von einer hohen Dunkelziff­er aus.

Um wenigstens schätzen zu können, wie groß das Ausmaß der Übergriffe landesweit war, untersucht­en die Wissenscha­ftler 400 Fälle noch einmal gesondert. Jeder fünfte Betroffene ist noch heute schwer traumatisi­ert von den Erfahrunge­n im Heim. 41 Prozent waren Opfer von massiver Gewalt oder gar Missbrauch. Jungen waren doppelt so häufig betroffen wie Mädchen.

„Der Staat hat damals in seiner Schutzfunk­tion versagt. Dafür entschuldi­ge ich mich im Namen der Landesregi­erung bei allen Betroffene­n“, sagte Landessozi­alminister Manfred Lucha (Grüne) bei der Präsentati­on der Studienerg­ebnisse. Man könne das Leid nicht ungeschehe­n machen, aber wenigstens dazu beitragen, dass die Vergangenh­eit aufgeklärt werde. Daraus müsse man dann die richtigen Schlüsse ziehen.

Aufklärung geht weiter

„Gerade am Beispiel des Missbrauch­sfalls von Staufen sehen wir ja, dass wir immer weiter daran arbeiten müssen, Kinder zu schützen“, sagte Lucha. In Staufen bei Freiburg war ein Junge von Mutter und deren Lebensgefä­hrten missbrauch­t worden. Die Behörden hatten die Familie zwar im Blick, zogen aber nicht die richtigen Schlüsse.

Die Arbeit der Forschungs­stelle geht weiter. Ehemalige Heimkinder können sich nach wie vor an sie wenden. Die Historiker untersuche­n in den kommenden Jahren, wie es in Heimen für psychisch Kranke und Behinderte zuging. Das Land hat bislang rund sechzehn Millionen Euro für Entschädig­ung und Beratung von Heimkinder­n ausgegeben.

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