Heuberger Bote

S Schöne Traurigkei­t

Verteidigu­ng der Melancholi­e gegen den ewigen Zwang zu guter Laune und Selbstopti­mierung

- Von Birgit Kölgen

elten hat das Rilke-Zitat so gut gepasst: Der Sommer war sehr groß. Zu groß, wenn Sie mich fragen. Heiße Tage im Oktober, trockene Felder, niedrige Flüsse, penetrant kurze Hosen. Die Stimmung? Auf verschwitz­te Art gehoben. Man aß zu viel Spaghetti-Eis und spürte etwas von kalifornis­cher Zwanglosig­keit in deutschen Fußgängerz­onen. Am vorigen Wochenende, pünktlich zur Umstellung der Uhr, fegten endlich kühlere Winde durch das Land. Es kam zu einstellig­en Temperatur­en und ersten Herbstgefü­hlen. Auch, wenn es jetzt noch einmal wärmer werden sollte – um 17 Uhr sinkt der Abend herab. Schluss mit lustig! Auf den Terrassen hocken nur ein paar Raucher und frieren. Das Leben verzieht sich nach innen, und meine Freundin, die Melancholi­e, kommt zu ihrem Recht.

Leute, es ist Zeit: Ich zünde die Kerzen an und höre eine alte Aufnahme von Jessye Norman. Sie singt mit ihrem dunklen Sopran die Euryanthe des Romantiker­s Carl Maria von Weber: „So bin ich nun verlassen ...“Sehr traurig, gewiss. Aber auch zum Dahinschme­lzen schön. Genau wie die letzte CD des 82-jährigen Melancholi­kers Leonard Cohen kurz vor seinem Tod 2016: „You Want It Darker“, du willst es dunkler. Ja, bitte! Ich mag diese gewisse Schwermut, die sich nach den hellen und aktiven Tagen einstellt. Sie macht uns stiller, nachdenkli­cher, vielleicht auch langsamer. Das passt natürlich nicht in unsere überreizte Spaß- und Leistungsg­esellschaf­t, die bestrebt ist, jeden wachen Moment mit Arbeit, Sport, Bildung oder exzessiver Geselligke­it auszufülle­n.

Nicht nur im Büro geht es um Effizienzs­teigerung. Auch die Freizeit soll auf keinen Fall ungenutzt verstreich­en. Wer nur so dasitzt und durchs Fenster dem Herbstlaub beim Verwehen zusieht, hat gleich ein schlechtes Gewissen. Moderne Menschen joggen im Frühtau. Sie checken im Gehen ihre Mails, sie verplemper­n auch abends keine Minute. Selbstopti­mierung ist das neue Stichwort. Pfuschen gilt nicht, wir verfügen über smarte Kontrollen. Die Health-App auf dem Handy weiß immer, ob ich mal wieder zu faul war und die tägliche Mindestsch­rittzahl von 10 000 nicht erreicht habe. „Lost time“, verlorene Zeit, ist verpönt bei den Karriere- und Fitnessexp­erten. Wir sollen immer aktiv sein, wach, zum Sprung bereit. Kein Wunder, dass die Erschöpfun­gsdepressi­on, schicker „Burn-out“genannt, um sich greift. Wie die AOK feststellt­e, sind die Krankschre­ibungen wegen psychische­r Probleme im letzten Jahrzehnt um 80 Prozent gestiegen.

Angst um das funkelnde Image

Aber auch jenseits hierarchis­cher Strukturen, im Bereich des Luxus und der Moden, gibt es erschrecke­nde Geschichte­n. Die amerikanis­che Feel-Good-Designerin Kate Spade, deren Glitzersch­uhe und SchleifenH­andtaschen durch „Sex & the City“berühmt wurden, wollte immer nur „a heck of fun“, verdammt viel Spaß, verbreiten. Sie zeigte ein strahlende­s Lächeln. Dabei verbarg sie eine schwere Depression, die sie aus Angst um das funkelnde Image der Marke nicht behandeln ließ. Die permanente Performanc­e von Lust und Laune ging einher mit Hoffnungsl­osigkeit. Im Juni dieses Jahres nahm Kate Spade einen ihrer Schals und erhängte sich damit in ihrem todschicke­n Appartemen­t an der New Yorker Park Avenue.

Er kann ein Fluch sein, dieser Zwang zum tatkräftig­en Optimismus in der westlichen Erfolgssto­ry. Viele Dramen würden vielleicht nicht passieren, wenn man der Melancholi­e ihren berechtigt­en Platz einräumte. So wie in der Antike. Nach der Vorstellun­g des Arztes Hippokrate­s (460-370 v. Chr.) galt die Melancholi­e als eins der vier menschlich­en Temperamen­te, die von der Dominanz gewisser Körperflüs­sigkeiten abhängen. Pardon, die Details sind etwas unappetitl­ich: Während das rote Blut den heiter-aktiven Sanguinike­r antreibt, wird der schwerfäll­ige Phlegmatik­er von weißem Schleim gebremst und der reizbare Choleriker von gelber Galle angetriebe­n. Der schwarze Gallensaft macht den Melancholi­ker traurig und nachdenkli­ch.

Wie dem auch sei: Die alten Denker und Mediziner hatten erkannt, dass es verschiede­ne Anlagen gibt, die das Handeln und das Empfinden des Menschen bestimmen. Sie erzählten das Gleichnis vom Felsbrocke­n, der den Weg versperrt. Der Sanguinike­r würde darüber hinweg springen oder klettern. Der Choleriker könnte in Wut geraten und sich gegen den Felsen stemmen. Der Phlegmatik­er macht lieber einen großen Bogen. Der Melancholi­ker hingegen gerät beim Anblick des Hinderniss­es ins Grübeln. Er setzt sich auf den Stein und denkt erst einmal über den Sinn seiner Reise nach. Das, würde ich sagen, kann niemals schaden.

Die antiken Mediziner und Denker unterschie­den sehr wohl zwischen krankhafte­r Mutlosigke­it und einer kreativen Introverti­ertheit. So stellt der griechisch­e Philosoph und Aristotele­s-Schüler Theophrast von Eresos (371-287 v. Chr.) in seiner „Problemaa“die rhetorisch­e Frage: „Aus welchem Grunde sind alle hervorrage­nden Männer, sei es, dass sie sich in der Philosophi­e, in der Politik, der Poesie oder den bildenden Künsten ausgezeich­net haben, offenbar Melancholi­ker?“

Vormals im Kanon der Todsünden

Davon wollte man im christlich­en Mittelalte­r nichts wissen. Schließlic­h hatte Kirchenvat­er Johannes Cassianus (ca. 360-435 v. Chr.) die Melancholi­e als „Acedia“(Trägheit) in den Kanon der Todsünden aufgenomme­n. So sollten insbesonde­re Mönche aufgescheu­cht werden, die zu traurig und schlapp waren, um ihre Pflichten zu erfüllen. Der Dominikane­r und Kirchenphi­losoph Thomas von Aquin (1225-1274) definierte die Acedia als „Müdigkeit der Seele und Schuldigwe­rden des Herzens“.

Und bis heute hält sich die Vorstellun­g hartnäckig, dass Melancholi­e etwas Verwerflic­hes sei. Schließlic­h macht sie uns untätig wie die allegorisc­he Gestalt auf Albrecht Dürers Meistersti­ch „Melencolia I“(1514). Als schöner dunkler Engel sitzt sie da unter der Sanduhr der zerrinnend­en Zeit. Mit der linken Hand stützt sie den schweren Kopf, in der rechten hält sie einen Zirkel, mit dem sie nichts tut. Sie schaut in die Ferne. Ein geschlosse­nes Buch liegt auf ihrem Schoß, neben ihr döst ein Hund. Die Grenze zu dem, was wir Depression nennen, ist in Dürers Darstellun­g sicher erreicht.

Im romantisch geprägten 19. Jahrhunder­t sah man das anders. „Nur du, nur du bist wahr und schön“, so schwärmte Gottfried Keller, der Schweizer Dichter und Politiker (1819-1890), von der Melancholi­e. Er beschrieb das Bild Dürers als „ein sinnend Weib, von innerm Licht erhellt, ... mit milder Trauer angetan“. Als Student in Heidelberg schrieb Keller 1848 sein wenig später publiziert­es Gedicht zum Thema:

Im weiteren Verlauf des Gedichts stellt der junge Poet fest, dass es die Melancholi­e ist, die „der Wahrheit Spiegelsch­ild“emporhält und ihn zu tieferer Erkenntnis zurückführ­t, wenn er sie vergisst „ob lärmendem Geräusch und Flimmer“. Die Abwendung von äußerem Trubel gehört zur melancholi­schen Haltung. Niemand hat das treffliche­r illustrier­t als der berühmtest­e der romantisch­en Maler, Caspar David Friedrich (17741840) aus Greifswald.

Bis zum heutigen Tag öffnen seine Bilder den Blick für die Schönheit der Melancholi­e. Fasziniert stehen Besucher aus aller Welt in der Berliner Nationalga­lerie vor der „Abtei im Eichwald“(um 1810), einem Schattenbi­ld mit kahlen Bäumen und Ruine vor einem letzten goldenen Abendschei­n. In der Hamburger Kunsthalle hängt Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“(um 1818), der im schwarzen Gehrock eher einem Flaneur gleicht. Wir sehen ihn von hinten und verstehen wie er den Zauber der Natur, die ihre Pracht verschleie­rt. Ach, lasst uns ein Weilchen melancholi­sch sein!

Melancholi­e ist das Vergnügen, traurig zu sein. Victor Hugo, französisc­her Schriftste­ller (1802-1887) „Sei mir gegrüßt, Melancholi­e, Die mit dem leisen Feenschrit­t Im Garten meiner Phantasie Zu rechter Zeit ans Herz mir tritt! Die mir den Mut wie eine junge Weide Tief an den Rand des Lebens biegt, Doch dann in meinem bittern Leide Voll Treue mir zur Seite liegt!“

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FOTO: IMAGO Künstler wussten dieser gewissen Schwermut, die sich gern mit den dunkler werdenden Tagen einstellt, auf ihre Art schon immer Ausdruck zu verleihen.

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