Gewerkschaften warnen vor Entlassungen
Medizintechnikbranche kämpft mit Herausforderungen durch EU-Verordnung
- Die Medizinprodukteverordnung treibt die Branche um. Jetzt schlagen auch die Gewerkschaften Alarm. Tausende Arbeitsplätze in der Region seien in Gefahr. Doch wie ist es wirklich um die Medizintechnik-Branche bestellt?
Es ist eine schwarzer Tag für die Mitarbeiter des Endoskope Herstellers Sopro-Comeg aus Tuttlingen. Am 24. Juli diesen Jahres werden die Angestellten nacheinander in das Personalbüro gerufen und erhalten ihre Kündigung – ohne Vorwarnung. „Die Produkte von Sopro-Comeg konnten sich aufgrund der Unternehmensgröße nicht genug auf dem Endoskopiemarkt durchsetzen“, heißt es damals von Geschäftsführer Jürgen Gerster. 60 Mitarbeiter, teilweise mehr als 40 Jahre beim Unternehmen, stehen auf der Straße – ohne Abfindung, ohne Sozialplan, ohne Perspektive. Einen Betriebsrat gibt es nicht.
Ein Schicksal, das vielen Beschäftigten der Medizintechnik-Branche drohen könnte. Denn: Bis 2020 müssen die Unternehmen die Medizinprodukteverordnung, die sogenannte Medical Device Regulation (MDR), umsetzen. Ob Kniegelenk, Skalpell oder Endoskop: Wer Medizinprodukte auf den Markt bringen will, muss ein deutlich aufwendigeres Prozedere durchlaufen und seine Produktionsprozesse lückenlos dokumentieren. Ein Aufwand, der viel Geld kostet und vor allem für kleinere Unternehmen geschäftsgefährdend ist.
Appell: „Gründet Betriebsräte“
Nun schlagen die Gewerkschaften Alarm. „Bildet einen Betriebsrat“, appelliert etwa Michael Foest, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Albstadt, die auch für den Kreis Tuttlingen zuständig ist. Er, Thomas Maile, Betriebsseelsorger in Tuttlingen, und Hans-Peter Menger, Gewerkschaftssekretär beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) in Tuttlingen, rufen die Beschäftigten dazu auf, sich zu organisieren. „Es gibt keinen gesetzlichen Anspruch auf eine Abfindung.“Nur ein Betriebsrat könne im Falle betriebsbedingter Kündigungen in Verhandlungen treten.
„Wenn die Mitteilung der Schließung kommt, ist es zu spät“, sagt er. Der Grund für ihre Sorge: Eine Umfrage der IHK Schwarzwld-BaarHeuberg und der Tuttlinger ClusterInitiative Medical Mountains aus dem Jahr 2016. Dort gaben von 400 befragten Unternehmen des Clusters Tuttlingen 150 an, dass sie fürchten, die Medizinprodukteverordnung nicht umsetzen zu können und deswegen im schlimmsten Fall vom Markt verschwinden werden – ein Horrorszenario für die Beschäftigten, die dann von heute auf morgen entlassen werden müssten. Ein Betriebsrat könne bereits ab einer Betriebsgröße von fünf Mitarbeitern gegründet werden, betonen die Gewerkschafter.
Doch die Studie, aus der die düstere Prognose stammt, ist bereits zwei Jahre alt. „Die Grundstimmung hat sich verändert“, sagt Julia Steckeler von Medical Mountain. Vor zwei Jahren sei die Umstellung auf die Verordnung noch ein großer Berg gewesen, nun seien viele Unternehmen den Prozess angegangen. Diese würden ihre Strategie ändern, neue Verträge schließen oder Kooperationen eingehen, um die Umstellung zu bewältigen. „Da tut sich ganz viel zur Zeit“.
Unternehmen werden verkauft
Dennoch sehe die Zukunft nicht gut aus. „Viele Unternehmen bieten sich gerade aktiv zum Verkauf an“, sagt Steckeler. Vor allem kleinere Unternehmen mit zehn Mitarbeitern und weniger seien betroffen. Und: „Vielen Handwerkern ist noch nicht klar, dass sie von der Medizinprodukteverordnung betroffen sind. Manche fühlen sich da nicht angesprochen“, sagt Steckeler. „Mir liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor, wie viele Unternehmen aus der Medizintechnik-Branche durch die MDR von einer Schließung bedroht sind“, sagt Joachim Schulz, Vorstandvorsitzender des Tuttlinger MedizintechnikUnternehmens Aesculap und Bezirksvorsitzender des Arbeitgeberverbands Südwestmetall. „Selbstverständlich belastet die Umsetzung der MDR mit Zieltermin Mai 2020 alle Firmen der Branche, so auch Aesculap, aber die Verordnung gefährdet uns als Unternehmen nicht. Für kleinere Unternehmen wird es aber zunehmend schwieriger, hier Schritt zu halten.“Deswegen habe das Unternehmen schon früh auf die zu erwartenden negativen Auswirkungen der MDR hingewiesen. Neben den neuen regulatorischen Anforderungen gebe es noch weitere Faktoren, die die Zukunft von kleineren Unternehmen unsicher machen. Hierzu zählen unter anderem auch der Fachkräftemangel, die Digitalisierung und die sich verändernde internationale Wettbewerbssituation.
Neue Umfrage in der Auswertung
Derzeit wird eine neue Umfrage vom Branchenverband Spectatis und dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) zur Frage ausgewertet, wie Unternehmen jetzt ihre Zukunft nach Einführung der Verordnung einschätzen. Eine Auswertung liegt derzeit noch nicht vor, heißt es auf Anfrage unserer Zeitung. Ob die Branche ihre Zukunft also genauso düster wie vor zwei Jahren einschätzt, ist derzeit noch nicht klar. Klar ist aber, dass die Zeiten in Zukunft wohl rauer werden. So mancher Arbeitsplatz in der Region wird zumindest wackeln. Konkrete Zahlen, wie viele Betriebe derzeit ohne Betriebsrat arbeiten, konnten weder Gewerkschaften noch Arbeitgeberverbände nennen.