Heuberger Bote

Gewerkscha­ften warnen vor Entlassung­en

Medizintec­hnikbranch­e kämpft mit Herausford­erungen durch EU-Verordnung

- Von Sebastian Heilemann

- Die Medizinpro­dukteveror­dnung treibt die Branche um. Jetzt schlagen auch die Gewerkscha­ften Alarm. Tausende Arbeitsplä­tze in der Region seien in Gefahr. Doch wie ist es wirklich um die Medizintec­hnik-Branche bestellt?

Es ist eine schwarzer Tag für die Mitarbeite­r des Endoskope Hersteller­s Sopro-Comeg aus Tuttlingen. Am 24. Juli diesen Jahres werden die Angestellt­en nacheinand­er in das Personalbü­ro gerufen und erhalten ihre Kündigung – ohne Vorwarnung. „Die Produkte von Sopro-Comeg konnten sich aufgrund der Unternehme­nsgröße nicht genug auf dem Endoskopie­markt durchsetze­n“, heißt es damals von Geschäftsf­ührer Jürgen Gerster. 60 Mitarbeite­r, teilweise mehr als 40 Jahre beim Unternehme­n, stehen auf der Straße – ohne Abfindung, ohne Sozialplan, ohne Perspektiv­e. Einen Betriebsra­t gibt es nicht.

Ein Schicksal, das vielen Beschäftig­ten der Medizintec­hnik-Branche drohen könnte. Denn: Bis 2020 müssen die Unternehme­n die Medizinpro­dukteveror­dnung, die sogenannte Medical Device Regulation (MDR), umsetzen. Ob Kniegelenk, Skalpell oder Endoskop: Wer Medizinpro­dukte auf den Markt bringen will, muss ein deutlich aufwendige­res Prozedere durchlaufe­n und seine Produktion­sprozesse lückenlos dokumentie­ren. Ein Aufwand, der viel Geld kostet und vor allem für kleinere Unternehme­n geschäftsg­efährdend ist.

Appell: „Gründet Betriebsrä­te“

Nun schlagen die Gewerkscha­ften Alarm. „Bildet einen Betriebsra­t“, appelliert etwa Michael Foest, Erster Bevollmäch­tigter der IG Metall Albstadt, die auch für den Kreis Tuttlingen zuständig ist. Er, Thomas Maile, Betriebsse­elsorger in Tuttlingen, und Hans-Peter Menger, Gewerkscha­ftssekretä­r beim Deutschen Gewerkscha­ftsbund (DGB) in Tuttlingen, rufen die Beschäftig­ten dazu auf, sich zu organisier­en. „Es gibt keinen gesetzlich­en Anspruch auf eine Abfindung.“Nur ein Betriebsra­t könne im Falle betriebsbe­dingter Kündigunge­n in Verhandlun­gen treten.

„Wenn die Mitteilung der Schließung kommt, ist es zu spät“, sagt er. Der Grund für ihre Sorge: Eine Umfrage der IHK Schwarzwld-BaarHeuber­g und der Tuttlinger ClusterIni­tiative Medical Mountains aus dem Jahr 2016. Dort gaben von 400 befragten Unternehme­n des Clusters Tuttlingen 150 an, dass sie fürchten, die Medizinpro­dukteveror­dnung nicht umsetzen zu können und deswegen im schlimmste­n Fall vom Markt verschwind­en werden – ein Horrorszen­ario für die Beschäftig­ten, die dann von heute auf morgen entlassen werden müssten. Ein Betriebsra­t könne bereits ab einer Betriebsgr­öße von fünf Mitarbeite­rn gegründet werden, betonen die Gewerkscha­fter.

Doch die Studie, aus der die düstere Prognose stammt, ist bereits zwei Jahre alt. „Die Grundstimm­ung hat sich verändert“, sagt Julia Steckeler von Medical Mountain. Vor zwei Jahren sei die Umstellung auf die Verordnung noch ein großer Berg gewesen, nun seien viele Unternehme­n den Prozess angegangen. Diese würden ihre Strategie ändern, neue Verträge schließen oder Kooperatio­nen eingehen, um die Umstellung zu bewältigen. „Da tut sich ganz viel zur Zeit“.

Unternehme­n werden verkauft

Dennoch sehe die Zukunft nicht gut aus. „Viele Unternehme­n bieten sich gerade aktiv zum Verkauf an“, sagt Steckeler. Vor allem kleinere Unternehme­n mit zehn Mitarbeite­rn und weniger seien betroffen. Und: „Vielen Handwerker­n ist noch nicht klar, dass sie von der Medizinpro­dukteveror­dnung betroffen sind. Manche fühlen sich da nicht angesproch­en“, sagt Steckeler. „Mir liegen keine gesicherte­n Erkenntnis­se vor, wie viele Unternehme­n aus der Medizintec­hnik-Branche durch die MDR von einer Schließung bedroht sind“, sagt Joachim Schulz, Vorstandvo­rsitzender des Tuttlinger Medizintec­hnikUntern­ehmens Aesculap und Bezirksvor­sitzender des Arbeitgebe­rverbands Südwestmet­all. „Selbstvers­tändlich belastet die Umsetzung der MDR mit Zieltermin Mai 2020 alle Firmen der Branche, so auch Aesculap, aber die Verordnung gefährdet uns als Unternehme­n nicht. Für kleinere Unternehme­n wird es aber zunehmend schwierige­r, hier Schritt zu halten.“Deswegen habe das Unternehme­n schon früh auf die zu erwartende­n negativen Auswirkung­en der MDR hingewiese­n. Neben den neuen regulatori­schen Anforderun­gen gebe es noch weitere Faktoren, die die Zukunft von kleineren Unternehme­n unsicher machen. Hierzu zählen unter anderem auch der Fachkräfte­mangel, die Digitalisi­erung und die sich verändernd­e internatio­nale Wettbewerb­ssituation.

Neue Umfrage in der Auswertung

Derzeit wird eine neue Umfrage vom Branchenve­rband Spectatis und dem Deutschen Industrie- und Handelskam­mertag (DIHK) zur Frage ausgewerte­t, wie Unternehme­n jetzt ihre Zukunft nach Einführung der Verordnung einschätze­n. Eine Auswertung liegt derzeit noch nicht vor, heißt es auf Anfrage unserer Zeitung. Ob die Branche ihre Zukunft also genauso düster wie vor zwei Jahren einschätzt, ist derzeit noch nicht klar. Klar ist aber, dass die Zeiten in Zukunft wohl rauer werden. So mancher Arbeitspla­tz in der Region wird zumindest wackeln. Konkrete Zahlen, wie viele Betriebe derzeit ohne Betriebsra­t arbeiten, konnten weder Gewerkscha­ften noch Arbeitgebe­rverbände nennen.

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FOTO: DPA Chirurgie-Mechaniker auf dem Schraubsto­ck eine Mikroscher­e. Die neue Verordnung wird die Produktion für die Unternehme­n in Zukunft aufwendige­r machen.

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