Beratungen gehen steil nach oben
Tuttlinger Frauenhausverein verzeichnet 30 Prozent mehr Nachfrage – Unterkunft voll belegt
- Die jüngste Statistik des Bundeskriminalamtes zeigt, dass Familie ein gefährlicher Ort sein kann: Bundesweit wird die Fallzahl von häuslicher Gewalt für 2017 mit knapp 140 000 Fällen angegeben. Die Opfer sind zu mehr als 82 Prozent Frauen. Redakteurin Ingeborg Wagner sprach mit Juliane Schmieder, Geschäftsführerin des Tuttlinger Frauenhauses, über die Situation in Tuttlingen.
Frau Schmieder – bundesweit sind die Zahlen häuslicher Gewalt gestiegen. Von knapp 110 000 betroffenen Frauen im Jahr 2016 auf rund 114 000 in 2017. Deckt sich das mit ihren Erfahrungen in Tuttlingen?
Auch bei uns sind die Zahlen gestiegen. Die Beratungen sind im Vergleich zum Vorjahr um mindestens 30 Prozent nach oben gegangen. Im Frauenhaus hatten wir 29 Frauen in 2016 und 31 in 2017.
Dieser Anstieg liegt auch darin begründet, dass weitere Tatbestände, wie Freiheitsberaubung und Zwangsprostitution, nun in die Statistik für Partnerschaftsgewalt einfließen. Kennen Sie auch solche Fälle?
Nein. Unser Anstieg ist nicht darauf zurückzuführen, da hatten wir keinen einzigen Fall dazu. Prinzipiell finde ich es aber gut und richtig, dass diese Vergehen so gelistet sind. Denn da gehören sie hin. Dass wir mit solchen Fällen weniger zu tun haben, liegt wohl an dem ländlichen Raum, in dem wir sind. Allerdings ist vor etlichen Jahren ein Club in Wehingen aufgeflogen, in dem Frauen aus Osteuropa zur Prostitution gezwungen wurden. Damals kamen zwei der Frauen bei uns im Frauenhaus unter.
Wie viele Beratungen hatten Sie in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum?
2017 waren es 31 Frauen, die Beratung in Anspruch genommen haben. In diesem Jahr sind es bislang 55 Frauen. Dazu kommt, dass die zwölf Plätze im Frauenhaus für Frauen und ihre Kinder zu hundert Prozent ausgelastet sind. Im vergangenen Jahr lag die Belegung sogar bei 108 Prozent. Damals mussten wir 47 Frauen ablehnen und in umliegende Frauenbene häuser vermitteln. Wenn man bedenkt, dass in der Regel 1,7 Kinder pro Frau betroffen sind, dann waren also 80 Kinder beteiligt. Das Problem ist bekannt: Vor allem Frauen mit mehreren Kindern finden keine bezahlbare Wohnung. Sie belegen dann Plätze im Frauenhaus, obwohl sie psychisch in der Lage wären, auf eigenen Beinen zu stehen.
Gewalt gegen Frauen soll in allen sozialen Schichten vorkommen. Gibt es die geprügelte Frau aus der gehobenen Mittelschicht auch in Ihrer Beratungsarbeit?
Ja, in der Beratung kommt das öfters vor. Aber im Frauenhaus nicht. Diese Frauen haben für sich andere Möglichkeiten, und sei es, relativ schnell eine relativ teure Wohnung zu finden. Oder bei Bekannten unterzukommen, die eine Ferienwohnung oder eine Eigentumswohnung haben. Oder sie ziehen vorübergehend in ein Hotel.
Das macht deren Schicksal nicht minder erschreckend.
Nein, sicherlich nicht.
Aber manchmal vielleicht unverständlicher? Gewisse Stressfaktoren wie Geldnot oder Existenzangst fallen in gesicherten Verhältnissen doch eher weg.
Ich bin der Meinung, dass häusliche Gewalt ganz viel mit Macht und Machtausübung zu tun hat. Da sind Stressfaktoren allenfalls vorgescho- Erklärungsversuche.
An jedem zweiten bis dritten Tag wurde im vergangenen Jahr bundesweit eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Ist es tatsächlich diese Angst, nicht mehr mit dem Leben davonzukommen, die Frauen dazu bringt, mit ihren Kindern ins Frauenhaus zu gehen? Denn in den meisten Fällen haben diese Frauen ja bereits ein jahrelanges Martyrium hinter sich.
Ja, die meisten Frauen machen das jahrelang mit. Doch gerade die Trennungssituation ist die brisanteste Situation überhaupt. Da, wo Tötungsdelikte am häufigsten vorkommen. Aus meiner Beratungstätigkeit heraus kann ich sagen, dass der Antrieb, den Mann zu verlassen, nicht aus der Sorge um das eigene Leben heraus entsteht. Ganz oft ist einer der Gründe, zu gehen, wenn die Frauen merken, dass ihre Kinder leiden oder dass die Gewalt auch auf die Kinder übergeht. Die Trennung aber bedeutet für den Mann den absoluten Kontrollverlust. Manchmal mit dem Resultat, dass, wenn er sie nicht kriegt, sie auch kein anderer kriegen soll.
Wie geht das überhaupt. Jahrelang in einem Zustand ständiger Angst leben zu müssen? Was macht das mit einem?
Ich glaube, dass Frauen in Gewaltbeziehungen erst einmal nach eigenen Lösungen suchen. Je länger die Misshandlungen andauern, desto eher stellen sie ihr Leben darauf ein, dass Gewalt möglichst vermieden wird. Damit verzichten sie auf persönliche Entfaltung, verlieren Selbstachtung und Selbstwertgefühl, sie werden ohnmächtig und depressiv. Das führt dazu, dass sie sich gar nicht mehr trauen, etwas Neues anzufangen. Die Angst vor dem Neuen ist dann noch größer als die Angst vor dem, was sie kennen. So verlieren die Frauen nach und nach die Kontrolle über ihr eigenes Leben.
Haben Sie in Ihrer Beratung auch den Flüchtlingszuzug bemerkt?
Nur ganz vereinzelt, und wenn, dann eher kurzfristig aus einer schweren Notsituation heraus. Ich denke, das braucht einfach Zeit, bis sich diese geflüchteten Frauen an uns wenden. Als ich Anfang der 1990er-Jahre meine Arbeit aufgenommen habe, war es die Norm, dass sich Frauen erst nach zehn Jahren und mehr Misshandlungserfahrung Hilfe gesucht haben. Das hat sich zum Glück etwas gewandelt, Frauen schauen heute schneller, ob es Alternativen gibt. Die Frauen, die in der Flüchtlingswelle nach Deutschland kamen, kommen oft aus Kulturkreisen, in denen sie als Frau nicht eigenständig leben konnten. Nun sind sie in einem fremden Land, mit einer fremden Sprache. Das macht erst mal so viel Angst. Es wird also noch dauern, bis sie so weit integriert sind, dass sie sich sich trauen, Hilfe zu suchen.