Heuberger Bote

Verborgene Gewalt

Übergriffe in der häuslichen Pflege bleiben oft unerkannt – Einzigarti­ges Projekt im Landkreis Tuttlingen

- Von Anika von Greve-Dierfeld

(dpa) - Ein Hilfenetzw­erk bittet die Polizei um dringenden Hausbesuch wegen Verdachts auf Misshandlu­ng. Eine Tagespfleg­e erzählt von handteller­großen Hämatomen an Hüfte und Gesäß einer Demenzkran­ken. Die Polizei berichtet, dass eine pflegebedü­rftige Frau von ihrem Ehemann aus dem Auto gezogen und mit der Faust ins Gesicht geschlagen wurde. Ein Mann ruft die Polizei an, weil er eingesperr­t wurde. Bei all diesen Vorfällen geht es um Gewaltsitu­ationen in der Pflege. Und zwar zu Hause.

Die Fallbeispi­ele stammen aus dem Landkreis Tuttlingen nordwestli­ch vom Bodensee, wo sich derzeit das nach eigenen Angaben bundesweit einmalige Projekt „Erwachsene­nschutz“dem Umgang mit, wie es Projektlei­ter Wolfgang Hauser formuliert, „problemati­schen Pflegearra­ngements“widmet. Und das aus gutem Grund: „Am Pflegestüt­zpunkt des Landkreise­s häuften sich die Hinweise auf Gefährdung­ssituation­en“, sagt Hauser, der als Sozialplan­er im Landratsam­t arbeitet.

„Da vermüllt jemand“

dem Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) gefährdet, Opfer von Gewalt in der Pflege zu werden. Anschreien, demütigen, bevormunde­n, zu lange auf dem Klo sitzen lassen, zu lange warten lassen, nicht ernst nehmen – die Gewalt gegen Pflegebedü­rftige, ob in einer Einrichtun­g oder zu Hause, ist vielfältig, schwer zu fassen und fängt lange vor strafrecht­lich relevanten Übergriffe­n an.

Dass das Thema viele bewegt, zeige auch das Interesse am ZQP-Portal www.pflege-gewalt.de, das den Angaben zufolge vor allem von pflegenden Angehörige­n genutzt wird. „Wir haben dort im Jahr 2018 bisher über 50 000 Besucher gehabt“, sagt der ZQP-Vorstandsv­orsitzende Ralf Suhr.

Das ZQP hatte schon 2017 eine Studie zur Gewalt in Pflegeeinr­ichtungen veröffentl­icht und 2018 mit einer Studie zum Thema Gewalt in der häuslichen Pfege nachgelegt. Demnach haben viele pflegende Angehörige mit negativen Gefühlen zu kämpfen, fühlen sich etwa niedergesc­hlagen (36 Prozent) oder verärgert (29 Prozent).

Fast jeder Dritte (rund 32 Prozent) der gut 1000 Befragten gab an, in den vergangen sechs Monaten gegen die pflegebedü­rftige Person psychisch gewalttäti­g gewesen zu sein. Von körperlich­er Gewalt berichtete­n 12 Prozent. „Vieles bleibt im Dunkeln. Keine Statistik kann das erfassen“, sagt Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientens­chutz. Hinzu kommt auch die schnell übersehene, nach ZQP-Angaben kaum erforschte Aggression Pflegebedü­rftiger gegen die, von denen sie gepflegt werden.

Auf Kosten der Angehörige­n

Dabei ist die Bereitscha­ft zu Familienpf­lege nach Ansicht von Experten hierzuland­e einzigarti­g. „Sogar in Italien wird weniger gepflegt, von Frankreich ganz zu schweigen“, sagt Thomas Klie, der an der Evangelisc­hen Hochschule in Freiburg lehrt und das Tuttlinger Projekt begleitet. „Da wird sehr viel geleistet – allerdings auf Kosten der Pflegeange­hörigen.“Auch Klie spricht von einer nennenswer­ten Zahl von Haushalten, in denen man es mit Gewalthand­lungen zu tun habe.

Alleine aus Begutachtu­ngen des Medizinisc­hen Dienstes der Krankenver­sicherung (MDK) habe sich ergeben, dass etwa 15 bis 20 Prozent der zu Hause versorgten Menschen mit Demenz fixiert, sediert und/oder eingesperr­t werden, sagt Klie. Nach Hausers Worten ist oft die Überlastun­g von Angehörige­n Grund für solche Handlungen. Sie würden im Stich gelassen und weder beraten noch begleitet. „Man erkauft sich die Familienpf­lege durch Weggucken, indem man sich mit der Lebenssitu­ation der Menschen mit Pflegebeda­rf nicht in ausreichen­der Weise auseinande­rsetzt“, sagt Klie.

Im Landkreis Tuttlingen soll nicht mehr weggeschau­t werden. Mit Arbeitsgem­einschafte­n, runden Tischen, einer Taskforce und sogenannte­n Case-Management-Schulungen will das Pilotproje­kt Strukturen erarbeiten, mit denen Gewaltsitu­ationen schneller erkannt und verändert werden können. Das Projekt könne in die Breite wirken, hofft Klie – um eine bisher vernachläs­sigte Wirklichke­it in den Blick zu nehmen.

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FOTO: DPA Die Bereitscha­ft zur Familienpf­lege ist hierzuland­e groß – aber verbunden mit Problemen.

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