„Nicht mehr Herr seiner Sinne“
Im Brandstifter-Prozess plädiert Staatsanwalt auf Freispruch und Einweisung in Psychiatrie
- Versuchter Mord in neun Fällen und vorsätzliche Brandstiftung in einem Tuttlinger Mehrfamilienhaus – so lautete die Anklage von Oberstaatsanwalt Christoph Kalkschmid. Davon rückte er nach der Beweisaufnahme mit 25 Zeugen und zwei Gutachtern an vier Verhandlungstagen vor dem Landgericht Rottweil ab.
Der Oberstaatsanwalt plädierte am Mittwoch auf Freispruch für den 30-jährigen Angeklagten aus Tuttlingen und Einweisung in eine psychiatrische Klinik.
Kalkschmid war zunächst auch nur von einer verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten ausgegangen. Er stützte sich dabei auf ein erstes schriftliches Gutachten. Doch dann ließ er sich von den Erläuterungen des neuen Sachverständigen Jan Bulla (Zentrum für Psychiatrie Reichenau) überzeugen. Der diagnostizierte eine schwere psychotische Erkrankung des Beschuldigten und attestierte ihm Schuldunfähigkeit.
Der 30-Jährige hatte, wie berichtet, am 20. November 2016 in der Wohnung seiner abwesenden Eltern in Tuttlingen nachts eine Herdplatte auf höchster Stufe eingeschaltet und einen Anorak darauf liegen lassen. Durch den Brand am Herd entstand Kohlenmonoxid, das im Treppenhaus zum Tod der übrigen neun Bewohner hätte führen können, wie der Brandsachverständige feststellte.
Oberstaatsanwalt Kalkschmid erklärte, die Beweisaufnahme habe „Zweifel an einer vorsätzlichen Brandstiftung und einige Umstände erbracht, die die Angaben des Angeklagten stützen“. Der hatte beteuert, er sei durch den Rauchmelder aufgewacht, habe den Nachbarn durch Tritte an die Tür aufwecken wollen und dann in der Verzweiflung Bücher zum Fenster hinausgeworfen, um auf die bedrohliche Lage aufmerksam zu machen. Tatsächlich war die Tür des Nachbarn beschädigt und Zeugen berichteten, sie hätten Bücher im Treppenhaus und im Freien gesehen.
Zweifelsfrei, so Kalkschmid, seien dagegen die Taten am 17. Januar 2018 nach mehreren Aufenthalten im Vinzenz-von-Paul-Hospital
TRAUERANZEIGEN Rottweil gewesen. Damals war der junge Mann am späten Abend in der Neuhauser Straße in Tuttlingen plötzlich vor das Auto einer 64-jährigen Frau gesprungen, hatte mit den Fäusten auf die Motorhaube geschlagen, zog dann weiter, belästigte und beschimpfte Passanten und legte sich mit der herbeigerufenen Polizei an.
Auch da sei der Angeklagte unter dem Eindruck einer Psychose gestanden, so Kalkschmid. „Er war nicht mehr Herr seiner Sinne.“Deshalb plädierte der Oberstaatsanwalt auf Freispruch und Einweisung in eine psychiatrische Klinik, zumal der Mann weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. „Da kann jeder betroffen sein.“
In diesem Punkt widersprach Verteidiger Rasmus Reinhardt, auch wenn er sich ansonsten weitgehend einig zeigte. „Es gab keinerlei Mordmotiv“, betonte er. Und wenn der Angeklagte wirklich einen Brand hätte herbeiführen wollen, dann hätte er ein Feuerzeug benutzt. Das Risiko von Gewalttätigkeiten sei „eher klein“, sagte der Verteidiger.
Er plädierte dafür, die Einweisung in eine Psychiatrie zur Bewährung auszusetzen und den Mann in einer betreuten Wohngruppe unterzubringen, wo für die beiden entscheidenden Voraussetzungen gegen einen Rückfall gesorgt wäre: keine Drogen und regelmäßige Medikamenteneinnahme.
Eine Managerin der Psychiatrie Reichenau erklärte, in Villingen wäre ein Platz frei, den der Angeklagte aber abgelehnt hatte. Am Mittwoch vor Gericht erklärte er sein Einverständnis. In seinem Schlusswort sagte der Angeklagte: „Es tut mir leid, was passiert ist.“