AOK holt sich 900 000 Euro von Klinikum zurück
Auch andere Kassen könnten Forderungen stellen – Liquidität des Krankenhauses derzeit nicht gefährdet
- Rund 900 000 Euro hat die Krankenkasse AOK BadenWürttemberg dem Klinikum Landkreis Tuttlingen Mitte November rückverrechnet. Dieser „hohe Betrag“, wie Klinikum-Geschäftsführer Sascha Sartor sagt, fehlt dem Klinikum nun. Die Liquidität des Klinikums sei aber gewährleistet, sagt Landratsamts-Sprecherin Nadja Seibert, auch nach dieser Verrechnung: „Wir haben entsprechend Vorsorge getroffen.“
Grund für die Rückbuchung dieser bereits erstatteten Summe für Schlaganfallpatienten ist ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) zur Verjährungsfrist. Weitere Krankenkassen könnten versuchen, Gelder vom Klinikum einzuklagen, so die Befürchtung.
Derzeit geht man im Landratsamt Tuttlingen davon aus, dass das Vorgehen der AOK Baden-Württemberg rechtswidrig ist und zurückgenommen werden muss. Eine Sammelklage gegen die Kasse sei in Vorbereitung. Diese soll am 2. Januar 2019 eingereicht werden, „wenn bis dahin keine einvernehmliche Lösung gefunden wurde“, sagt Sascha Sartor. Er bezeichnet das Vorgehen der Kasse „als einen einmaligen und ungeheuerlichen Vorgang“. Der Vorstoß der AOK vermindere das Betriebsergebnis 2018, die Zahlungsfähigkeit des Klinikums sei dadurch aber nicht gefährdet. Sartor: „Ich denke, wir haben das im Griff und sind im Vergleich zu anderen Kliniken gut aufgestellt.“
Im Januar 2019 tritt das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz in Kraft. Bei der Verabschiedung dieses Gesetzes im November im Bundestag wurde die Verjährungsfrist für Rückforderungen der Krankenkassen wegen vermeintlich fehlerhafter Klinikrechnungen von vier auf zwei Jahre verkürzt. Um finanzielle Ansprüche zu wahren, reichten die Kassen nun kurz vor der Gesetzesverabschiedung bundesweit Tausende von Klagen ein. Die Nachfrage aus dem Klinikum Tuttlingen beim zuständigen Sozialgericht in Reutlingen, ob auch Klagen gegen das Klinikum Tuttlingen eingegangen sind, brachte bislang keine Klärung: Bei Hunderten von Eingaben fehle derzeit der Überblick, heißt es.
Diesen gesetzlichen Weg umging die AOK Baden-Württemberg laut des Tuttlinger Klinikums durch die Rückverrechnung der 900 000 Euro für die Jahre 2014 bis 2016 für bereits vergütete Leistungen für die Versorgung von Schlaganfallpatienten in 570 Fällen. Allesamt Fälle, für die kein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) in Auftrag gegeben wurde, wie Sartor erklärt, „und diese deshalb auch nie als kritisch eingestuft wurden“(siehe Kasten rechts). Dabei berufe sich die AOK Baden-Württemberg bei diesem Vorgehen auf ein Urteil des BSG vom Juni 2018, bei dem es auch um die Transportzeit von Schlaganfallpatienten ging.
30-Minuten-Regel
Um beste Zuschläge bei der Versorgung eines Schlaganfallpatienten abrechnen zu können, muss der Patient im Bedarfsfall innerhalb von 30 Minuten in ein nahe gelegenes Krankenhaus mit einer neurochirurgischen und einer neuroradiologischen Abteilung verlegt werden. Das Klinikum Tuttlingen kooperiert bei speziellen Fragestellungen der neurochirurgischen Weiterversorgung mit dem Universitätsklinikum in Freiburg. Auch da werde diese Zeitfrist eingehalten: „Im Schnitt haben wir Transportzeiten mit dem Rettungshubschrauber von 23 bis 25 Minuten nach Freiburg“, sagt Sartor.
Nur: Das BSG-Urteil hat diese Zeitspanne nun neu interpretiert und festgelegt, dass die Zeit bereits mit der Entscheidung des Arztes, dass eine Verlegung stattfinden muss, zu laufen beginne. Also schon bevor der Hubschrauber bestellt wurde. Das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), das im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums die Abrechnungsregeln pflegt und weiterentwickelt, habe die Auslegung des BSG-Urteils jedoch sofort korrigiert und rechtlich verbindlich klargestellt: „Im Sinne der seit Jahren praktizierten Auslegung der reinen Transportzeit“, so Sartor. Doch dieser Transportweg betreffe ohnehin nur Einzelfälle unter den Schlaganfallpatienten.
Wenn die angestrebte Klage gegen die AOK vor dem Sozialgericht Reutlingen entschieden ist, folgt wohl als nächste Instanz das Landessozialgericht. „Dann sind zwei bis vier Jahre schnell vergangen. Das hätte ich mir gerne erspart“, so der Geschäftsführer. Die Rückmeldung, die er von seinem Personal bekomme, sei niederschmetternd: „Die Mitarbeiter sind konsterniert“, sagt er. Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz erfülle durch solche Auswirkungen den gegenteiligen Effekt. Sartor: „Bei uns kommt es so an, dass das, was wir tun, nach gültigen Spielregeln nicht bezahlt wird.“
Der Aufsichtsrat des Klinikums ist laut Nadja Seibert informiert. Das Thema werde auch in der DezemberSitzung des Gremiums nochmal angesprochen. Der Kreistag werde über die Geschehnisse auf dem Laufenden gehalten. Träger des Klinikums ist der Landkreis Tuttlingen.
Rückstellungen immer höher
Zum Jahresergebnis 2018 kann der Geschäftsführer auf Nachfrage dieser Zeitung keine validen Prognosen abgeben. „Operativ sind wir kerngesund“, sagt er. Allerdings sei noch völlig offen, wie die Sozialgerichte die weiteren Kassenfälle behandeln werden. Im Jahresabschluss des Tuttlinger Klinikums ist ein Risikoabschlag eingestellt, ein hoher, sechsstelliger Betrag. Sartor: „Ob diese Summe ausreicht, kann ich derzeit noch gar nicht sagen.“
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